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30.06.2025 14:24

Zuletzt haben die EU und die deutsche Politik wiederholt eine Vorratsdatenspeicherung diskutiert. Dabei hat Deutschland bis heute nicht das E-Evidence-Paket umgesetzt. Mit seinen Instrumenten sollen sich digitale Beweise schnell sichern lassen, bevor sie gelöscht werden.

Stefanie Hubig (SPD) im Bundestag
Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) will das E-Evidence-Paket der EU umsetzen. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Bis heute hat Deutschland das sogenannte E-Evidence-Paket der Europäischen Union nicht umgesetzt. Zuletzt hatte das verfrühte Ende der Ampel-Koalition das geplante Gesetz vereitelt. Nun unternimmt die schwarz-rote Regierung einen neuen Versuch, den grenzüberschreitenden Austausch elektronischer Beweismittel innerhalb der EU zu vereinfachen.

Im Kern geht es um zwei neue Instrumente für europäische Polizeien: Mit der Europäischen Sicherungsanordnung lassen sich Daten bei einem EU-Online-Dienst einfrieren und später wieder auftauen, wenn sie für Ermittlungen gebraucht werden. Das heißt: Der Diensteanbieter darf sie erst einmal nicht löschen. Alternativ können Ermittlungsbehörden mit der Europäischen Herausgabeanordnung digitale Beweismittel direkt bei Anbietern in anderen EU-Ländern anfordern. Dabei kann es um Informationen gehen, welchem Kunden etwa eine bestimmte IP-Adresse zugeordnet war, angefragt werden können aber auch Inhaltsdaten wie E-Mails.

Beschlossen hatte die EU das Paket – eine unmittelbar geltende Verordnung sowie eine ergänzende Richtlinie – im Jahr 2023. EU-Ländern bleibt bis zum Sommer 2026, es vollständig umzusetzen. Über einen Referentenentwurf war Ex-Justizminister Marco Buschmann nicht hinausgekommen. Auf dessen Entwurf von Oktober setzt nun der Vorschlag auf, den seine Amtsnachfolgerin, die SPD-Politikerin Stefanie Hubig, Mitte Juni vorgestellt hat.

Schnelle Sicherung digitaler Beweise

Insgesamt soll es EU-Polizeien deutlich schneller gelingen, an digitale Beweismittel zu kommen. Dazu lösen die neuen Instrumente den bislang üblichen Prozess über Rechtshilfeabkommen in der EU ab: In der Vergangenheit mussten Ermittlungsbehörden zunächst bei den Justizbehörden des Landes vorstellig werden, wo der betreffende Online-Dienst sitzt. Dies soll nun weitgehend entfallen: Herausgabeanordnungen sollen in der Regel innerhalb von zehn Tagen befolgt werden, in Notfällen gilt eine Frist von nur acht Stunden.

Dabei unterscheidet das Gesetz zwischen Teilnehmer-, Verkehrs- und Inhaltsdaten. Für die erste der Datenkategorien, die etwa Namen und Anschrift von Verdächtigen umfassen kann, gelten die niedrigsten Hürden. Der aktuelle Entwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) stellt nun klarer, wer Herausgabeanordnungen auf dieser Basis erlassen kann: Neben dem Bundeskriminalamt zählt etwa auch das Zollkriminalamt dazu. Solche Anordnungen muss zudem die Staatsanwaltschaft validieren.

Höhere Anforderungen gelten bei sensiblen Verkehrs- und Inhaltsdaten, deren Sicherung ein Gericht bewilligen muss. Es muss sich hierbei um Taten handeln, die mit einer Mindesthöchststrafe von drei Jahren belegt sind, oder die in bestimmte Kategorien von Straftaten wie sexueller Missbrauch von Kindern oder Terrorismus fallen. Neben dem Diensteanbieter muss zudem die zuständige Behörde im Vollstreckungsstaat benachrichtigt werden. Diese hat zehn Tage Zeit, um die Anordnung zu prüfen und kann sie gegebenenfalls ablehnen. Weitere Sicherungen sollen für Berufsgeheimnisträger:innen wie Rechtsanwält:innen oder Journalist:innen gelten.

Ein Puzzlestück unter vielen

Die neuen Regeln fallen in eine Zeit, in der die EU die Zügel im digitalen Raum merklich strafft. Das E-Evidence-Paket macht dabei nur den Auftakt und ist ein Puzzlestück unter vielen: Seit Jahren arbeitet sich die EU an diversen Baustellen ab, die aus ihrer Sicht digitale Ermittlungen erschwerten. Ihre Überlegungen hat die seit vergangenem Winter amtierende EU-Kommission unter Ursula von der Leyen in einer „ProtectEU“ genannten Strategie zur inneren Sicherheit zusammengefasst.

Eine Zahl betont die EU-Kommission dabei immer wieder. So würden rund 85 Prozent der strafrechtlichen Ermittlungen auf elektronischen Beweismitteln beruhen. Zu oft seien diese Daten jedoch nicht mehr verfügbar, wenn sie gesichert werden sollen. Ohne eine EU-weite Umsetzung des E-Evidence-Pakets abzuwarten, hatte die Kommission erst jüngst eine Konsultation über einen gemeinsamen EU-Rechtsrahmen für eine Vorratsdatenspeicherung durchgeführt. Noch in diesem Jahr will sie eine Folgenabschätzung dieser anlasslosen Massenüberwachung präsentieren, ein konkretes Gesetz womöglich im kommenden Jahr. Parallel dazu hat Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) einen nationalen Alleingang bei der Vorratsdatenspeicherung angekündigt.

In einem letzte Woche veröffentlichten Fahrplan macht die Kommission zudem verschlüsselte Daten als Problemfeld aus. Sie stützt sich dabei auf die Empfehlungen einer Arbeitsgruppe, die zuletzt das sogenannte „Going Dark“-Phänomen untersucht und vage Vorschläge zum Zugang zu verschlüsselten Inhalten in den Raum gestellt hatte. Wie und ob sich ein Ansatz findet lassen kann, der nicht die gesamte IT-Sicherheit untergräbt, soll im Jahr 2026 feststehen.


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30.06.2025 11:48

Aus vielen Tracking-Firmen sticht eine heraus: Utiq. Das Unternehmen arbeitet mit Internetanbietern zusammen. Damit kann Utiq Internetanschlüsse auf eine besondere Art verfolgen. Anfangs war die Technologie auf Mobilfunk beschränkt, doch mittlerweile trackt Utiq auch Festnetzanschlüsse.

3D-Konzeptillustration des Online-Tracking.
Werbetracker nehmen Dein Surfverhalten genau unter die Lupe – und Dein Internetanbieter hilft dabei? (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Zoonar

Gegenüber Internetnutzern spricht Utiq von seiner „sozialen Verantwortung, die Daten der Menschen zu schützen und ihre Privatsphäre zu erhalten“. An mögliche Kunden gerichtet wirbt die Tracking-Firma dagegen damit, auch „Zielgruppen in schwer zu trackenden Umgebungen zu erreichen, ohne auf 3rd-Party-Cookies zu setzen“. Immer mehr Internetnutzer blockieren die kleinen Dateien zum Tracking von Drittanbietern, die Anbieterfirma von Utiq positioniert sich als Alternative.

Das Unternehmen Utiq gibt es seit etwa zwei Jahren – ursprünglich war die Trackingtechnologie für Mobilfunkanschlüsse vorgesehen. Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) sieht das Verfahren „zwiespältig“. Den Internetanbietern – ohne deren Zusammenarbeit Utiq nicht funktionieren würde – komme ein besondere Vertrauensstellung zu. Dies sei mit dem Utiq-Tracking nur schwer vereinbar. Doch neben Mobilfunkanschlüssen trackt Utiq mittlerweile auch Breitband-Festnetzanschlüsse der Deutschen Telekom. Das zeigt eine Liste von teilnehmenden Telekommunikationsanbietern, die Utiq im Netz veröffentlicht.

Der digitalpolitische Verein D64 veröffentlichte letztes Jahr eine Recherche zu der Trackingtechnologie, die der Verein mit „Big Brother made in Germany“ betitelt hat. Gegenüber netzpolitik.org erneuert D64 diese Kritik: „Ausleitung von Informationen der Telekommunikationsunternehmen zu Werbezwecken sehen wir nach wie vor kritisch“. Grundsätzlich lehne D64 jegliches Tracking zu Werbezwecken ab.

Was ist an Utiq besonders?

Utiq arbeitet mit Internetanbietern zusammen. Deshalb kann das Unternehmen Surfverhalten über den Internetanschluss wiedererkennen, selbst nachdem Nutzer Cookies gelöscht, den Browser gewechselt oder gar ein neues Gerät genutzt haben. Mehrere Geräte in einem WLAN kann Utiq jedoch nicht auseinanderhalten.

Für die Nachverfolgung erhält die Firma von den teilnehmenden Anbietern keine persönlichen Daten wie die Mobilfunknummer oder Vertragsnummer, sondern eine einzigartige, pseudonyme Kennung. Utiq selbst erstellt kein Nutzerprofil, gibt an seine Kunden wie zum Beispiel bild.de oder die Hamburger Morgenpost Tracking-Cookies weiter, den Utiq dann mit dem Pseudonym verknüpfen kann. Die Utiq-Tracking-Cookies sind auf jeder Website unterschiedlich und bis zu 90 Tage lang gültig. In der kurzen Gültigkeit sieht Utiq einen besonderen Schutz der Websitenbesucher.

D64 meint hingegen, dass Utiq eine Ergänzung zu herkömmlichen Tracking-Mechanismen mit längeren Laufzeiten sei – und keine Alternative. Das Utiq-Pseudonym ließe sich potenziell mit Informationen aus anderen Trackern kombinieren, meint D64 auf Anfrage von netzpolitik.org. Unseren Recherchen nach arbeitet beispielsweise bild.de aktuell neben Utiq mit 271 anderen Drittanbietern zusammen und der Cookie-Banner der Hamburger Morgenpost listet derzeit 275 weitere Partner auf.

Ausführlichere und technische Erklärungen bieten die Deutsche Telekom und Utiq selbst (en).

Betrifft mich das?

Damit das Tracking aktiviert wird, muss zunächst dein Telekommunikationsanbieter mit Utiq zusammenarbeiten. Zweitens sollte sich Utiq erst dann aktivieren, wenn du dem Tracking zustimmst. Dafür sollten Website-Betreiber deine Einwilligung registrieren – meist passiert das mit einem Cookie-Banner und einem Utiq-Pop-Up. Auf dem Cookie-Banner kannst du aus der Liste von oft hunderten Trackern und Cookies explizit dem Utiq-Verfahren oder direkt allen Trackern widersprechen. Solltest du hingegen einwilligen, öffnet sich ein weiteres Utiq-Pop-Up. Hier kannst du erneut explizit dem Utiq-Verfahren widersprechen.

Die „Allen Trackern widersprechen“- oder „Alles ablehnen“-Knöpfe verstecken Website-Anbieter gerne mit sogenannten manipulativen Designs, die dich vom Widerspruch abbringen sollen. Zudem gibt es Pay-or-Okay-Modelle, bei denen Tracking nur gegen Bezahlung deaktiviert wird.

Wie kann ich widersprechen?

Ein permanentes Opt-Out bei deinem Internetanbieter sei nicht vorgesehen und notwendig, erklärt die Deutsche Telekom auf Anfrage von netzpolitik.org. Nach Ansicht des Unternehmens willigen Kunden der Datenübertragung auf denjenigen Webseiten ein, auf denen Utiq verwendet wird. Also kannst du dem Tracking erstmal nur auf dem Cookie-Banner und dem Utiq-Pop-Up jeder entsprechenden Website widersprechen.

Du willst lieber, dass Utiq niemanden über deinen Internetanschluss trackt, selbst wenn dem jemand zustimmt? Dazu bietet Utiq ein „globales Opt-Out“ in seinem „consenthub“ an. Das lässt sich über den entsprechenden Internetanschluss besuchen. Der Widerspruch dort gilt ein Jahr lang, was D64 als „willkürlich“ bezeichnet. Selbst ein aktiver „globaler Opt-Out“ erfordert zur Verifikation einen gewissen Datenaustausch zwischen Utiq und dem Internetanbieter. Damit Utiq und dein Internetanbieter gar nicht miteinander reden, müssten alle Nutzenden also auf jeder Website dem Tracking widersprechen.

Zudem helfen beispielsweise das im Brave-Browser integrierte „Shield“ und die „strenge“ Variante der Aktivitätenverfolgung im Firefox-Browser. Wenn diese Funktionen aktiviert sind, kann Utiq die notwendigen Skripte nicht mehr einbetten. Für technisch Versierte verschaffen Browser-Erweiterungen wie beispielsweise uBlock Origin Abhilfe. Auch ein Netzwerk-weiter Ad-Blocker wie etwa Pi-hole sollte Utiq unterbinden. Diese Werkzeuge blockieren übrigens neben Utiq auch viele weitere Tracker.


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29.06.2025 11:31

Ungarns Regierung wollte die Pride mit einem queerfeindlichen Gesetz verhindern und Menschen einschüchtern. Der Plan schlägt fehlt. Stattdessen ziehen Hunderttausende gemeinsam durch Budapest – für die Rechte queerer Menschen, aber auch für ihre Demokratie.

Menschenmenge mit Regenbogen- und Europaflagge
Das wollte Ungarns Regierung verhindern: Hunderttausende tragen ihre Regenbogenfahren beim „Freiheitsfest“ durch die Budapester Innenstadt – Alle Rechte vorbehalten Imago / Nicolas Liponne

Péter und Kata schieben sich durch die Menge vor dem Rathaus. Schon jetzt um 14 Uhr ist fast kein Durchkommen mehr am Ausgangspunkt der Budapest Pride, die von der Polizei verboten wurde. Auf Péters Schultern sitzt seine Tochter, sie hat kleine Regenbogen auf die Wangen gemalt. „Wir sind hier, um zu protestieren; wir sind hier, weil wir uns schämen. Für meine Tochter ist das einfach eine Party“, sagt er. Anderthalb Stunden sind sie angereist, um heute hier zu sein.

Ein Schild hält Péter nicht. Ein Kind mitbringen auf eine Veranstaltung, die verboten wurde, weil sie vermeintlich Kinder gefährde: Das ist für ihn politisches Statement genug. Über die Begründung, mit der die ungarische Regierung die Pride verboten hat, sagt Péter: „Das ist Quark. Heute geht es um etwas anderes. Es geht um die Freiheit.“

„Freiheit und Liebe können nicht verboten werden!“ So steht es auf Ungarisch und Englisch auf den Bannern und Plakaten, die rund um das Rathaus hängen. Von den Störaktionen, die Neonazis hier angekündigt hatten, ist nichts zu sehen. Stattdessen schwenken Menschen Regenbogenflaggen, auch die Transflagge in türkis-weiß-rosa, manchmal zusammen mit der ungarischen Flagge. Die Stimmung ist ausgelassen, aus den Lautsprechern eines Lastwagens schallt Techno.

Es geht um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie

Plakat "Freedom and Love can't be banned"
Plakat entlang der Pride in Budapest - CC-BY-ND 4.0 netzpolitik.org

Seit 30 Jahren findet die Pride in Budapest statt, aber dieses Jahr ist alles anders. Die Pride ist zu einem Showdown geworden. Es geht hier nicht mehr nur um die Rechte queerer Menschen, sondern um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Und um die Frage, wer sich durchsetzen wird.

Auf der einen Seite steht die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán, die zunehmend autoritär regiert. Sie hat die Pride mit einem neuem Gesetz Mitte März faktisch verboten. Auf die Teilnahme steht ein Ordnungsgeld von bis zu 500 Euro. Teilnehmer*innen können von der Polizei auch per Gesichtserkennung identifiziert werden.

Auf der anderen Seite steht der grüne, oppositionelle Bürgermeister von Budapest, Gergely Karácsony. Er hatte sich dem Verbot widersetzt und die Pride, nachdem die Polizei die Demonstration verboten hatte, als eigene Veranstaltung der Stadt ausgerichtet, gemeinsam mit den Veranstaltern Szivárvány Alapitvány (Regenbogen-Stiftung). Heute läuft er in der ersten Reihe mit, flankiert von EU-Abgeordneten und Vertreter*innen von Menschenrechtsorganisationen, die ebenfalls angereist sind.

„Auf welcher Grundlage glaubt irgendjemand in einer Demokratie, er dürfe Versammlungen von Bürgern, die ihm nicht gefallen, einschränken?“, hatte Karácsony gesagt. Ein „Freiheitsfest“ sei die Parade am Samstag.

Am Ende werden nach Schätzungen fast 200.000 Menschen seiner Einladung folgen. Eine Watsche für Viktor Orbán und seine Politik der Ausgrenzung. Neben Menschen in regenbogenfarbenen Kleidern und Shirts laufen deswegen viele, die man sonst nicht auf einer Pride vermutet hätte: Ältere mit Fischerhut und Poloshirt, Rentner*innen in beiger Funktionskleidung.

„Dieses Jahr musste es sein“

Max hat sich neben einem Lastwagen in den Schatten gestellt. Mehr als eine Stunde schon steht die Menge in der prallen Nachmittagssonne. Von dem mit Ballons geschmückten Lastwagen dröhnt Techno, dahinter tanzen die Menschen, schwenken ausgelassen ihre Fahnen.

Max ist nicht das erste Mal auf der Pride, er hat schon mal als Freiwilliger das Absperrband für den Laster seiner Freunde getragen, die oben auf der Ladefläche Techno für die Menschen spielen. Seine Freunde vom Techno-Label Mühely kommen schon seit Jahren mit ihrem Laster auf die Pride, sagt Max. Auch Max hat ein Label für elektronische Musik. Gemeinsam haben sie eine Compilation gemacht, erzählt er: „Pride or Die“. Die Erlöse gehen an die Regenbogen-Stiftung, die die Pride ausrichtet.

Die letzten Jahre war er nicht dabei. „Aber dieses Jahr musste das sein“, sagt er. Die Regierung habe mit ihrem Gesetz für eine neue Eskalation gesorgt.

Der Zug läuft los, die Menschen johlen. Ein Mann mit dunkelblauer Schirmmütze stützt sich beim Laufen auf Wanderstöcken ab. Er kommt nur mühsam vorwärts im dichten Zug von Menschen, der sich vom Rathaus zwischen den Budapester Prachtbauten hindurchschiebt. Über die vierspurige Straße, auf der sonst Doppeldeckerbusse und Autos fahren strömen Teilnehmer*innen dicht an dicht.

Seit 15 Jahren hat er nicht mehr demonstriert, sagt ein anderer Mann, der seinen Namen nicht nennen will. Jetzt aber ist er hier, 150 Kilometer sei er heute gefahren, denn es geht um die Versammlungsfreiheit. „Ich kann es nicht ausstehen, wenn eine Gruppe von Menschen zum Sündenbock gemacht wird“, sagt er. Und: „Ich freue mich, dass hier so viele normale junge Menschen sind“.

Polizei filmt Menge mit Handkamera
Am Rand filmen Polizisten. - CC-BY-NC 4.0 netzpolitik.org

Polizei darf filmen und Menschen mit Gesichtserkennung identifizieren

Auf dem mit dürrem Gras bewachsenen Mittelstreifen steht ein halbes Dutzend Polizisten in dunkelblauer Uniform. Einer hält eine Kamera an einem Stab und filmt die vorbeilaufende Menge aus unmittelbarer Nähe. Ein Demonstrant mit Bart und Käppi stellt sich direkt vor sie, seine Begleiterin macht ein Foto.

Haru läuft an den Polizisten vorbei, die Augen und Stirn sind mit einer Art lila Supernova geschminkt. „Ich bin hier um mich wohlzufühlen und zu feiern“, sagt Haru. Dass die Polizei filmt, sei ganz normal, das sei bei allen Demonstrationen so. Das Make-up trägt Haru nicht, um sich zu tarnen. „So sehe ich eigentlich jeden Tag aus.“

Andere in der Menge tragen weiße und dunkle Kreise, Dreiecke und Balken über Augen, Nase und Stirn. Eine Gesichtsbemalung, die verhindern sollen, dass ihre Gesichter von den Systemen der Polizei erkannt werden. Vermummung auf einer Demonstration ist in Ungarn verboten, Schminke ist erlaubt.

Die Polizei bleibt den Nachmittag über sehr zurückhaltend. Die internationale Aufmerksamkeit ist groß, aus ganz Europa sind Kamerateams angereist. Viktor Orbán will wohl um jeden Preis vermeiden, dass Bilder von Polizist*innen um die Welt gehen, die auf die Pride einprügeln. „Ungarn ist ein zivilisiertes Land“, hatte er am Tag davor verkündet. „Wir verletzen uns nicht gegenseitig.“

Menschen auf der Brücke vor einem Hügel
Hundertausende kommen trotz Verbot: Protestierende laufen über die Budapester Elisabethbrücke - CC-BY-NC 4.0 netzpolitik.org

Auch die angekündigten Gegendemonstrationen der Rechtsextremen sind an diesem Tag aus der Menge heraus kaum wahrzunehmen. Ein paar Menschen mit weißen Holzkreuzen und Bibeln stehen am Straßenrand. Begleitet werden sie von Polizisten oder den freiwilligen Ordner*innen der Pride. Es bleibt friedlich.

Rechtsextreme blockieren Route mit Genehmigung der Polizei

„Ausgrenzung ist kein Kinderschutz“, steht auf dem Schild, das Miklos trägt, darunter ein Regenbogen. Miklos ist hier als Vertreter der Organisation Szülöi hang (elterliche Stimme), die sich für bessere Bildung in Ungarns Schulen einsetzt. Dieses Verbot, um Kinder zu schützen? „Das ist Unsinn, eine Lüge“, sagt er.

Mensch in weißem T-Shirt mit Demoschild
„Ausgrenzung ist kein Kinderschutz“ - CC-BY-NC 4.0 netzpolitik.org

Die Pride schade Kindern nicht. Was sehr wohl schade, seien all die Probleme, mit denen sich die Regierung nicht beschäftigt: fehlende Aufklärung in der Schule, die schlechte Finanzierung des Bildungssystems, der Mangel an Kinderärzt*innen. Statt diese Probleme zu lösen, verbreite die Regierung Lügen.

Die Menge läuft jetzt auf die Elisabeth-Brücke zu, die weißen Drahtseile der Brücke heben sich gegen den tiefblauen Himmel ab. Die Menschen stehen nach vorne und hinten soweit der Blick reicht. Auf der anderen Seite in Buda hat jemand ein pinkes Dreieck von einer Terrasse des Gellért-Bergs entrollt, ehemals Kennzeichnung der Nazis für Homosexuelle, jetzt Zeichen des queeren Stolzes. Das Dreieck flattert im Wind, der am Donauufer für Abkühlung sorgt.

Die rechtsextreme Partei Mi Hazánk hat die Freiheitsbrücke blockiert, die ursprünglich auf der Route der Pride lag – mit Genehmigung der Polizei. Diese hat eine angemeldete Demonstration der Rechtsextremen auf der Brücke erlaubt, die Pride hingegen als illegale Veranstaltung verboten.

Wo die Pride auf das Donauufer abbiegt und an der Freiheitsbrücke vorbei kommt, stehen besonders viele Polizist*innen. Es ist fast sieben Uhr abends, aber noch immer strömen die Menschen einfach weiter. Auf der anderen Straßenseite im Schatten des Berges steht ein Dutzend Rechtsextremer in schwarzer Kleidung, umstellt von der Polizei.

„Warum probiert ihr es nicht einfach mal aus?“ ruft einer ausgelassen zu ihnen rüber.


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29.06.2025 08:23

Statt Rechtsradikale zu bekämpfen, biedert die Union sich ihnen an. Das zeigte zuletzt die Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichts. Auch die Einschätzungen des Verfassungsschutzes, wie extreme Rechte Medien nutzen, machen stutzig.

Dornen von einem Rosenstrauch
Dornen statt Rosen. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Annie Spratt

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!

„Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, sagte meine alte Mathelehrerin immer. Nicht nur sie. Dieser Weisheit aus der achten Klasse scheint auch Bundesinnenminister Alexander Dobrindt gern zu folgen. Als er vor zwei Wochen den Verfassungsschutzbericht des Jahres 2024 vorstellte, muss er zunächst in recht verwunderte Gesichter geblickt haben. Denn das traditionelle Verhältnis von mehr Rechtsextremisten zu deutlich weniger Linksextremisten schien sich im vergangenen Jahr ruckartig umgekehrt zu haben.

Der Balken des linksextremen Gefährdungspotenzials war eindeutig höher, doch beim zweiten Hinsehen fiel auf: Das Bundesinnenministerium hat es mit der skalaren Vergleichbarkeit wohl nicht so genau genommen. Die Achsen der Grafik waren in einer Weise beschriftet, die die Zahl der Linksextremisten als höher erscheinen ließ als die der Rechtsextremisten – bei einer tatsächlich deutlich geringeren Anzahl.

Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!

Diese Art der Präsentation reiht sich ein in eine Historie der Union und der selbst ernannten „bürgerlichen Mitte“, den mordenden, menschenverachtenden und deutlich gewalttätigeren Rechtsextremismus dem Linksextremismus gleichzustellen. Besonders beliebt dabei die Worthülse: Man lehne doch jeden Extremismus ab.

Denn wenn nicht beide Enden des vermeintlichen Hufeisens gleich schlimm sind, dann verliert auch die selbst ernannte Mitte ihre Legitimität.

Zunehmend könnte man jedoch den Eindruck gewinnen, dass Konservative doch dazu neigen, den einen Extremismus stärker abzulehnen als den anderen.

Laut einem mittlerweile gelöschten Instagram-Post der aktuellen Bundestagspräsidentin Julia Klöckner im Wahlkampf ist die CDU bereits nichts anderes als eine „demokratische Alternative“ zur rechtsextremen AfD. Bei Abstimmungen im Bundestag nahm die Union eine Mehrheit durch die Zustimmung der AfD-Fraktion zumindest hin. Die Berührungsangst zum extremen Rechten scheinen Teile der Union verloren zu haben.

Wer die AfD normalisiert, macht sie wählbar. Das scheinen weite Teile der Union bislang nicht zu verstehen. Denn die Union hat faktisch kein Interesse daran, dass mehr Menschen die AfD wählen – sie will ja selbst gewählt werden.

Doch in genau diese Kerbe der Normalisierung der AfD als möglichen Partner im politischen Geschäft schlägt auch Jens Spahn, wenn er sagt, man müsse die Rechtsradikalen behandeln wie jede andere Oppositionspartei.

Wer systematisch versucht, Rechtsextremismus herunterzuspielen, indem man ihn mit Linksextremismus gleichsetzt, schafft eine Pseudobalance, die die erdrückende Gefahr vernebelt, die vom Rechtsextremismus ausgeht.

Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

Das Gedicht „Rosen auf den Weg gestreut“ von Kurt Tucholsky stammt aus dem Jahre 1931. In den Versen verhandelt der Autor die Frage, wie die nationalsozialistische Bewegung so rasch an Stärke gewinnen konnte. Er kritisiert dabei die Anbiederung an die Nazis im In- und Ausland sowie den Versuch, politisch mit den Faschisten zusammenzuarbeiten.

Ob radikalisierte Rhetorik selbst ernannter Mitte-Rechter, mutmaßlich illegale – in jedem Fall aber menschenfeindliche – Zurückweisungen an der Grenze, das Inkaufnehmen von Polizeigewalt gegen migrantisierte Menschen oder der ständige Drang, Rechts- und Linksextremismus gleichzusetzen: Die Union bereitet eine politische Kultur, in der Nazis leichter Gehör finden. In dieser Kultur setzt die bürgerliche Mitte radikal rechte Forderungen kurzerhand selbst um, im verzweifelten Versuch, die eigenen Stammwähler:innen zurückzugewinnen.

Die verzerrte Vorstellung des Verfassungsschutzberichts durch Dobrindt ist nur ein Glied in einer langen Kette von rhetorischen wie tatsächlichen „Ausrutschern“, zu denen sich die Union später entweder gedrängt gesehen haben oder für zu unbedarft bekennen wird. Das ist leichtsinnig, gefährlich und letztlich selbstzerstörerisch. Denn Nazis haben immer schon nur bis zu einem gewissen Punkt mit Konservativen kollaboriert.

Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.

Unabhängig von der Präsentation scheint der neue Verfassungsschutzbericht inhaltlich in Teilen eher nachlässig. Die Einschätzung, wie Rechtsextreme Medien nutzen, um sich zu vernetzen und ihr Gedankengut zu verbreiten, fällt spärlich aus. Während der Internetnutzung durch Linksextremisten ein eigenes Kapital gewidmet ist, behandeln die Verfassungsschützer den Punkt „Radikalisierung und Vernetzung [von Rechtsextremisten] im Internet“ auf einer halben Seite. Anderthalb, wenn man die Ausführungen zur „Attentäter-Fanszene“ dazurechnet.

Der Verfassungsschutzbericht belässt es bei den Feststellungen, Rechtsextremisten nutzten Chatgruppen als Katalysatoren, digitale Räume würden als Echokammern fungieren und Onlinesubkulturen mit einer ganz eigenen Ästhetik würden genutzt. Aha.

Dabei sollte der Verfassungsschutz eigentlich genügend Material zum Beobachten gehabt haben: Nie zuvor war Berichterstattung über sich online radikalisierende Rechte so ausführlich wie im vergangenen Jahr. Radikal rechte Accounts sind selbst in den zentralistischen sozialen Medien mittlerweile omnipräsent. Sie singen alte Wehrmachtslieder in die Kamera, zeigen sich beim Marschieren, bei Treffen oder erzählen ganz unverblümt von ihrem nationalistischen Gedankengut. Die Videos haben oft Tausende Likes, die Kommentare sind voll mit bestätigendem Zuspruch.

Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

In den vergangenen Monaten gab es dazu immer wieder Berichte. So fand etwa im Oktober eine Razzia gegen die rechtsextreme Jugendgruppe „Asgard Warriors“ in NRW statt, die sich auf Snapchat vernetzt hatte. Im September berichtete der WDR über ein Netzwerk rechtsradikaler Influencer, die völlig öffentlich völkisches Gedankengut verbreiten. Im Februar letzten Jahres berichtete der Deutschlandfunk über den rechten Podcast „Hoss&Hopf“, dessen Hosts betont lässig Verschwörungsmythen teilen. Erst im Mai dieses Jahres wurden jugendliche Mitglieder der „Letzten Verteidigungswelle“ festgenommen. Und laut ARD-Recherchen beobachtet das Bundeskriminalamt bis zu dreißig Minderjährige, denen es zutraut, Terroranschläge zu verüben. Ein ausgestiegener Rechtsterrorist berichtet, er habe im Internet den ersten Kontakt zu rechtsextremer Ideologie gehabt.

Von alledem kaum ein Wort im Bericht des Verfassungsschutzes. Es fällt schwer zu glauben, dass Presse so viel mehr über rechte Radikalisierungsprozesse im Internet weiß als ein Inlandsgeheimdienst.

Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?

Wer rechte Radikalisierung im Netz ignoriert, gibt ihr Raum. Denn anders als der Verfassungsschutzbericht suggeriert, findet Rechtsextremismus heute nicht mehr primär auf der Straße oder in Parteibüros statt, sondern auf YouTube, Telegram, Discord, TikTok und in Podcasts. Die Szene ist jung, professionell und medienerfahren. Sie verpackt Hass in ästhetische Clips, inszeniert „Männlichkeit“ als Kampfbegriff und tarnt Ideologie als Lifestyle. Wer einmal in diese Echokammern gerät, findet schnell Anschluss an eine Welt aus Verschwörungen, Gewaltfantasien und digitaler Kamaraderie.

Wohin das führen kann, haben unter anderem die Anschläge in Christchurch und auf Utoya gezeigt. Besonders der Attentäter aus dem neuseeländischen Christchurch radikalisierte sich online. Beide Täter sind heute Ikonen des rechtsextremen Attentäter-Fandoms, das weiß selbst der Verfassungsschutz. Und das ist nur folgerichtig: Denn Rechtsextremismus ist immer menschenfeindlich, in seiner Grundausrichtung wie in seiner Umsetzung gewaltvoll und tödlich.

Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen …
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch

Das Gefährliche an dieser Strategie der Normalisierung und Aneignung radikal rechter Positionen ist nicht nur, dass sie rechtsextreme Akteure stärkt. Es ist der langsame, aber stetige Wandel der politischen Kultur. Erst das macht sie mehrheitsfähig. Wenn der demokratische Diskurs sich immer stärker an den Positionen der extremen Rechten orientiert, wird das Sag- und Machbare verschoben. Was früher unvorstellbar war, wird heute diskutiert, morgen salonfähig und übermorgen umgesetzt.

Dieser Verlauf ließ sich zuletzt allzu eindeutig bei der Durchsetzung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum beobachten. Gefahr geht also nicht nur von den radikalen Rechten selbst aus, sondern auch von einer „bürgerlichen Mitte“, die ihren moralischen Kompass über Bord wirft, um mit den Wölfen zu heulen – in der Hoffnung, nicht gefressen zu werden.

Doch das funktioniert historisch gesehen nicht. Denn nachdem sie ihnen ihren treuen Dienst geleistet und zur Macht verholfen haben, haben Faschisten nicht mit Konservativen koaliert. Sie haben sie ersetzt, verboten, verfolgt, ermordet. Wer das nicht erkennt, spielt mit der Demokratie – und verliert.

den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!

 


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28.06.2025 10:49

Die 26. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 13 neue Texte mit insgesamt 91.307 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

Fraktal, das ein bisschen wie ein Seestern aussieht.
– Fraktal, generiert mit MandelBrowser von Tomasz Śmigielski

Liebe Leser:innen,

Seit Wochen begleitet mich die Sorge, wie Menschen mit psychischen Erkrankungen stigmatisiert werden. Messerangriffe und Amoktaten, die mutmaßlich von Personen mit einer psychiatrischen Vorgeschichte begangen wurden, haben viele schockiert. Dass sich Politiker:innen fragen, wie sie so etwas künftig verhindern können, ist nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar sind aber einige Forderungen, die derzeit im Raum stehen.

Nach Ideen für Register mit psychisch erkrankten Straftäter:innen soll es nach dem Willen der Innenministerien nun mehr Datenaustausch etwa zwischen Polizei und Gesundheitsbehörden geben. Und es soll ein „Risikomanagement“ eingeführt werden. Das sind die falschen Antworten. Es waren schon die falschen Fragen.

Stattdessen sollten wir uns fragen, wie wir Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen können. Wie können wir die psychotherapeutische und psychiatrische Versorgung verbessern? Wie können wir Hürden abbauen – damit Menschen, die Unterstützung benötigen, sie auch aufsuchen können? Wie können wir Personen in Krisensituationen begleiten, bis es ihnen besser geht und sie wieder Stabilität finden?

Eine Psychotherapeutin, die ich in meinem Text zitiere, schreibt das so: „Prävention gelingt durch Hilfe, nicht durch Verdacht.“

Wer Menschen aber zum Risiko erklärt, befeuert die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen. Und macht all jenen Angst, die gerade Hilfe brauchen. Ich habe nach meinem Text einige Zuschriften bekommen. Betroffene sorgen sich, ob es Nachteile haben könnte, wenn sie sich in Behandlung begeben oder es bereits sind. Das schmerzt mich. Denn es zeigt, dass Vertrauen zerstört wurde. Lange bevor sich überhaupt ein Gesetz geändert hat.

Wir bleiben dran.

Habt trotz alledem ein gutes Wochenende!

anna


Datenaustausch zwischen Behörden: Innenminister setzen Vertrauen bei der Behandlung psychischer Erkrankungen aufs Spiel

Die Innen- und Gesundheitsminister:innen haben auf ihren letzten Konferenzen über den Umgang mit psychisch erkrankten Personen beraten. Doch Ideen wie ein „integriertes Risikomanagement“ oder Datenaustausch zwischen Gesundheitsbehörden und Polizeien treiben Stigmatisierung voran und behindern angemessene Hilfe. Von Anna Biselli –
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Videoüberwachung und Staatstrojaner: Berliner Landesregierung will Befugnisse der Polizei ausweiten

Die schwarz-rote Koalition im Land Berlin setzt ihre „Law & Order“-Politik weiter fort. Nun sollen Videoüberwachung und der Einsatz von Staatstrojanern bei der Polizei ausgeweitet werden. Von Markus Reuter –
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Anti-Autokratie-Handbuch: 26 Werkzeuge zur Verteidigung der Demokratie

In einem Handbuch geben Wissenschaftler*innen aus den USA und Europa Ratschläge, wie sich Menschen im akademischen Betrieb gegen aufkeimenden Autoritarismus stemmen können – abgestuft nach Risiko-Level. Das ist nicht nur für Forschende lesenswert. Von Sebastian Meineck –
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Automatisierte Datenanalyse: Sachsen-Anhalt will „interimsweise“ Palantir

Die Polizei Sachsen-Anhalts soll künftig automatisierte Datenanalysen mit Massendaten von Unbescholtenen durchführen dürfen. Ein Gesetz ist schon auf dem Weg. Abgeordnete der Opposition gehen nach einer Antwort der Landesregierung davon aus, dass Software von Palantir eingesetzt werden wird. Denn der Innenministerin steht gar nichts anderes zeitnah zur Verfügung. Von Constanze –
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EU-Ratspräsidentschaft: Dänemark setzt Chatkontrolle wieder auf die Agenda

Chatkontrolle, mehr Daten für die Polizei, KI-freundliches Urheberrecht, eine Überarbeitung des Datenschutzes: Das wünscht sich die ab 1. Juli amtierende dänische Ratspräsidentschaft für die Digitalpolitik der EU. Nutzer*innen- und Freiheitsrechte finden – wenn überhaupt – nur als Randnotiz statt. Von Christoph Bock –
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Repression gegen Budapest Pride: EU soll gegen digitale Verfolgung und Diskriminierung einschreiten

Bei der Budapest Pride am Samstag drohen den Teilnehmenden Strafen, die Polizei darf sogar Gesichtserkennung zur Identifikation einsetzen. Etwa 50 Menschenrechtsorganisationen fordern die EU-Kommission zu sofortigen Handeln gegen den „gefährlichen Präzedenzfall“ auf. Von Chris Köver –
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Zollkrieg mit den USA: Trump will EU-Digitalgesetze aufweichen

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Bestandsdatenauskunft 2024: Behörden fragen weiter jede Sekunde, wem eine Telefonnummer gehört

Staatliche Stellen haben letztes Jahr fast 27 Millionen Mal abgefragt, wem eine Telefonnummer gehört. Das ist ein neuer Rekordwert. Auch Inhaber von IP-Adressen werden abgefragt, laut Telekom vor allem wegen Urheberrechtsverletzungen. Von Andre Meister –
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„Going Dark“: EU-Kommission stellt Fahrplan für Datenzugang für Polizeien vor

Viele EU-Länder wollen der Polizei mehr Zugang zu privaten Daten verschaffen. Neben der Vorratsdatenspeicherung steht auch der Zugriff auf verschlüsselte Inhalte zur Debatte. In einem Fahrplan skizziert die EU-Kommission ihre nächsten Schritte. Von Tomas Rudl –
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30 Jahre online: Wie das Internet den Journalismus verändert hat

Von Suchmaschinen über soziale Medien bis zu KI: Technische Entwicklungen haben den Journalismus im Netz immer wieder verändert und ihm Reichweite als zentrale Zielgröße aufgezwungen. Die Geschichte der Online-Medien muss deshalb auch als Geschichte vom Verlust der journalistischen Autonomie begriffen werden. Von Gastbeitrag, Jann-Luca Künßberg –
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Datenschutzbehörde greift ein: DeepSeek fliegt aus den App Stores

Der chinesische KI-Chatbot DeepSeek übermittelt Nutzer*innendaten nach China. Die Berliner Datenschutzbehörde geht jetzt gegen den Anbieter vor. Apple und Google sollen DeepSeek aus ihren Stores entfernen. Von Chris Köver –
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Trotz Fristverlängerung: Schwarz-Rot peitscht Änderung des BKA-Gesetzes durch den Bundestag

Das BKA-Gesetz war teilweise verfassungswidrig. Zu unklar waren die Regeln, wann Beschuldigte in Polizeidatenbanken gespeichert werden dürfen. Zu weit waren die Befugnisse, um mögliche Kontaktpersonen von Terrorverdächtigen zu überwachen. Doch die Neuregelung, die der Bundestag gestern verabschiedete, kann Fachleute nicht überzeugen. Von Anna Biselli –
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Bremse oder Motor: EU-Kommission stellt Netzneutralität zur Debatte

Noch in diesem Jahr will die EU-Kommission die Regeln für die europäischen Telekommunikationsmärkte weitflächig überarbeiten. Mit dem Digital Networks Act steht plötzlich auch die Netzneutralität zur Debatte – und niemand kann beantworten, warum genau. Eine Spurensuche. Von Tomas Rudl –
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27.06.2025 13:59

Noch in diesem Jahr will die EU-Kommission die Regeln für die europäischen Telekommunikationsmärkte weitflächig überarbeiten. Mit dem Digital Networks Act steht plötzlich auch die Netzneutralität zur Debatte – und niemand kann beantworten, warum genau. Eine Spurensuche.

Telekom-Chef Timotheus Höttges, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom, mit einem historischen Mobiltelefon Pocky vor den Aktionären.
Manche Netzbetreiber stellen Netzneutralität als Innovationsbremse dar und wollen sie aufweichen. (Symbolbild: Telekom-Chef Timotheus Höttges mit dem historischen Mobiltelefon Pocky.) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Panama Pictures

Es ist ein kurzer, unscheinbarer Nebensatz in einer laufenden EU-Konsultation. Angeblich gebe es „mangelnde Rechtsklarheit der Vorschriften für das offene Internet in Bezug auf die regulatorische Behandlung innovativer Dienste“, schreibt die EU-Kommission etwas sperrig.

Einfacher ausgedrückt: Netzneutralität nervt und bremst Innovation aus – zumindest aus Perspektive ihrer Kritiker:innen. Gerade Netzbetreibern, die auf Kosten des offenen Internets Geschäfte machen wollen, ist sie ein Dorn im Auge. Wohl deshalb will die EU-Kommission das Prinzip auf den Prüfstand stellen.

Dabei gilt die gesetzlich verankerte Netzneutralität in der EU als großer Erfolg. Das betont nicht zuletzt die EU-Kommission immer wieder öffentlich. Europa sei „Vorreiter beim Schutz eines offenen Internets“, klopfte sich etwa die amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) im Jahr 2020 selbst auf die Schulter. Die Regeln seien „wichtig für Innovation und Fairplay“ und schützten sowohl Nutzer:innen als auch Online-Dienste, sagte von der Leyen. „Kein Betreiber kann bestimmten Verkehr blockieren, verlangsamen oder priorisieren“.

Branche lässt sich nicht in Karten schauen

Warum die EU-Kommission nun an den bewährten Regeln rütteln möchte, wird auf den ersten Blick nicht klar. Noch weniger erschließt sich, worin genau die behauptete Rechtsunsicherheit bestehen soll und welche Innovationen damit verhindert würden.

Für wenig Aufklärung sorgt die Telekommunikationsbranche. Mehrfache Presseanfragen an große deutsche Netzbetreiber blieben unbeantwortet. Einer bat um „Verständnis, dass wir uns dazu nicht äußern“. Andere Branchenquellen mussten notgedrungen spekulieren – aber eine verbindliche Antwort hatte niemand parat.

Freilich zeigt die Geschichte, wie Unternehmen regelmäßig an verschiedenen Stellen der Netzneutralität zu sägen versuchen. Zuletzt sind sie, womöglich nur vorerst, mit dem Konzept einer Datenmaut abgeblitzt. Die sollte den teuren Infrastrukturausbau mitfinanzieren helfen, so das Versprechen einiger weniger Netzbetreiber. Nun soll die Netzneutralität als angeblicher Innovationskiller herhalten. Das könnte letztlich zu einer digitalen Zweiklassen-Gesellschaft führen, warnen Fachleute.

Detailliertes Regelwerk

Eigentlich ist der Bereich penibel geregelt. Neben dem Gesetzestext selbst umreißen von europäischen Regulierungsbehörden (GEREK) erstellte Leitlinien den Geltungsbereich der Regeln. Im Detail beschreiben sie, so technologieoffen wie möglich, in welchen Situationen etwa Datenverkehr gedrosselt oder umgekehrt priorisiert werden darf.

Zuletzt wurden die Leitlinien im Jahr 2022 überarbeitet, um neuere technische Entwicklungen sowie die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu reflektieren. Dieser hatte in einem Grundsatzurteil tatsächlich eine Rechtsunsicherheit beseitigt: Sogenannte Zero-Rating-Angebote, die den Zugriff auf bestimmte Partnerdienste vom monatlichen Transfervolumen ausnehmen, sind demnach nicht mit der EU-Verordnung vereinbar.

Außerdem werden die Vorschriften regelmäßig von der Kommission und Regulierungsbehörden überprüft. Bislang fielen die Urteile stets positiv aus. Demnach würde die Verordnung „den Endnutzer wirksam schützen und das Internet als Innovationsmotor fördern“, schrieb etwa die EU-Kommission in ihrer ersten Evaluation des Gesetzes. Selbst Netzbetreiber würden das Gesetz sehr schätzen, da es „rechtliche Sicherheit“ biete.

Verunsichernde Überholspuren

Dennoch gibt es einen Bereich, der für die angebliche Verunsicherung unter Netzbetreibern in Frage kommen könnte: sogenannte Spezialdienste. Damit lassen sich vor allem im Mobilfunk Produkte anbieten, die nicht in der „objektiv“ notwendigen Qualität über das offene Internet garantiert realisierbar sind, beispielsweise datenbasierte Telefonie über das Mobilfunknetz oder ruckelfreie Telemedizin.

Zur Netzneutralität stehen solche über 5G-Mobilfunk abgewickelten Überholspuren „in einem deutlichen Spannungsverhältnis“, wie es einmal Daniel Jacob von der Stiftung Wissenschaft und Politik ausdrückte. Doch unter Auflagen sind sie seit gut zehn Jahren erlaubt.

Solange Spezialdienste nicht zu Lasten anderer Nutzer:innen gehen und das offene Internet einschränken, sollte es genug Spielraum für innovative Produkte geben – darunter etwa das mobile Spielepaket, das die Telekom Deutschland im Herbst vorgestellt hat. Dieses nutzt die in den aktuellen 5G-Mobilfunkstandard eingebauten „Network Slices“, um eine möglichst optimale, vom restlichen Internet getrennte Datenverbindung mit dem Spieledienst aufzubauen.

Beim Produktlaunch war von Verunsicherung des Netzbetreibers allerdings nicht viel zu spüren. Auf Anfrage teilte eine Unternehmenssprecherin damals mit, dass sich die Telekom „selbstverständlich an die rechtlichen Vorgaben“ halte. Das Produkt sei so ausgestaltet, dass die Bandbreite aller anderen Nutzer:innen einer Mobilfunkzelle dadurch nicht beeinflusst werde, so die Sprecherin. „Keinem wird etwas weggenommen.“

Ob hinter der PR-Kulisse nicht doch ein Stückchen Unsicherheit lauert, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Die Presseabteilung des Anbieters reagierte nicht auf aktuelle und wiederholte Anfragen zu dem Thema.

Wacklige Produkte

Ganz abwegig würde die Sorge, Geld in ein womöglich illegales Produkt investiert zu haben, indes nicht scheinen. Nicht zuletzt die Telekom hat da einschlägige Erfahrungen: So zählte ihr StreamOn-Produkt zu einem der Angebote, dem das EuGH-Grundsatzurteil zu Zero Rating den Stecker gezogen hatte – nachdem es bereits Jahre auf dem Markt war.

Zudem ist bis heute nicht restlos geklärt, ob das aktuelle 5G-Spielepaket der Telekom mit den EU-Regeln vereinbar ist. Unter anderem Verbraucherschützer:innen haben ihre Zweifel; sie fürchten ein Zwei-Klassen-Netz durch die Hintertür. Tatsächlich untersucht die Bundesnetzagentur seit Oktober, ob das Produkt mit den europäischen Netzneutralitätsregeln konform geht.

Eine Pflicht zur Vorab-Kontrolle gebe es hierbei nicht, betont ein Sprecher der Regulierungsbehörde gegenüber netzpolitik.org. Darauf seien die EU-Regeln nicht ausgelegt. Allein lasse man potenziell verunsicherte Netzbetreiber jedoch nicht: Vor der Veröffentlichung neuer Dienste oder Tarife biete man ihnen an, etwaige Unklarheiten gemeinsam zu besprechen. „Marktteilnehmern steht es frei, von diesem Angebot Gebrauch zu machen.“ Mehr will die Behörde über das laufende Verfahren nicht preisgeben.

Digitalministerium hält Regeln für „klar und sachgerecht“

Auch das deutsche Digitalministerium (BMDS) vermutet, dass bezahlte Überholspuren hinter dem Nebensatz aus der EU-Konsultation stecken dürften. Die Passage „ist nach unserem Verständnis vor dem Hintergrund der Hinweise einiger Netzbetreiber zu sehen, die Vorgaben der EU-Verordnung, insbesondere zu Spezialdiensten, würden Innovationen erschweren, vor allem Innovationen auf Basis des 5G-Network Slicings“, teilt ein Sprecher des Ministeriums mit.

Allerdings folgt gleich eine Einschränkung: Dem BMDS seien bisher keine Fälle bekannt, in denen aufgrund der EU-Vorgaben innovative Geschäftsmodelle im Zusammenhang mit Network Slicing untersagt wurden, so der Sprecher. „Wir halten die Vorgaben der EU-Verordnung und die diese erläuternden Leitlinien des GEREK auch grundsätzlich für klar und sachgerecht.“

Dennoch sollten die Sorgen der Netzbetreiber beachtet werden, sagt der BMDS-Sprecher. „Es sollte insbesondere geprüft werden, ob und wie die Rechtssicherheit jenseits gesetzlicher Vorgaben noch weiter verbessert werden kann, ohne die bestehenden Prinzipien der Netzneutralität anzurühren.“

Vorstoß in Richtung Konsolidierung

Ist das Grund zur Entwarnung? Vermutlich nicht, schließlich ist Deutschland nicht das einzige Land in der EU. Vor allem aber spielt sich die aktuelle EU-Konsultation vor dem Hintergrund des anstehenden Digital Networks Act (DNA) ab. Mit dem geplanten Gesetz will die EU-Kommission die Regeln im Telekommunikationsbereich weitflächig umbauen, ein Entwurf ist für Ende des Jahres angekündigt.

Gleich mehrere, teils umfassende EU-Gesetze könnten dann im DNA zusammengeführt werden, wie die Kommission in Aussicht stellt: Der sogenannte TK-Kodex, der erst vor wenigen Jahren vier EU-Richtlinien in eine einzige gegossen hatte und der die Grundlage für die Regulierung der EU-Telekommunikationsmärkte bildet; die GEREK-Verordnung, welche die Kompetenzen des EU-Gremiums absteckt; das Programm für die Funkfrequenzpolitik; sowie die Verordnung über den Zugang zum offenen Internet, die darüber hinaus auch noch Roaminggebühren regelt.

Ein ganz schönes Knäuel, das der DNA entwirren soll. In einem Begleitschreiben zur Konsultation fasst die EU-Kommission ihre Zukunftsvision so zusammen: „Von entscheidender Bedeutung sind ein moderner und einfacher Rechtsrahmen, der Anreize für den Übergang von herkömmlichen Netzen zu Glasfaser-, 5G- und Cloud-Infrastrukturen schafft, sowie ein Größenzuwachs durch die Bereitstellung von Diensten und einen grenzüberschreitenden Betrieb.“

Zeichen stehen auf Deregulierung

Den Boden für den geplanten Umbau haben mehrere Berichte aus den Vorjahren aufbereitet, mit einer gemeinsamen Stoßrichtung: Neben einem Weißbuch von Ex-Kommissar Thierry Breton drängen auch im Auftrag der EU erstellte Papiere von Ex-EZB-Chef Mario Draghi und des italienischen Ex-Premiers Enrico Letta auf Deregulierung, Liberalisierung und generell mehr Markt.

Damit soll nicht nur der Ausbau moderner Infrastruktur, vor allem von Glasfaser und 5G-Mobilfunk, schneller gelingen. Es soll auch die Wettbewerbsfähigkeit großer europäischer Unternehmen stärken, die sich dann besser auf dem Weltmarkt behaupten könnten, so die Hoffnung.

Dass dabei eine Reihe bisheriger Säulen europäischer Regulierungspolitik fallen könnte, hatte schon viele EU-Länder in Alarmbereitschaft versetzt. Zur Debatte stellt die Kommission unter anderem die Vorabregulierung marktdominanter Anbieter, insbesondere von Ex-Monopolisten wie Telekom Deutschland oder Orange, vormals France Télécom. Diese Unternehmen sollen zudem einfacher wachsen und grenzüberschreitend operieren können.

Netzneutralität als Verhandlungsmasse

Darüber steht die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der EU, die der Kommission offenkundig ein Herzensanliegen ist. Mit entschlackten Berichtspflichten etwa, die ebenfalls auf ihrer Wunschliste stehen, wird es nicht getan sein. Dabei droht die Gefahr, dass die Netzneutralität zur Verhandlungsmasse gerät.

„Die Telko-Industrie versucht hier, mit dem Narrativ der Innovationsbremse die Open-Internet-Verordnung anzugreifen und die Kommission zu umfassender Deregulierung zu bewegen“, sagt Nikola Schiefke vom Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv). Aus Verbrauchersicht sei zu befürchten, dass in diesem Zuge auch das Netzneutralitätsgebot zur Debatte steht.

Dabei müsse das Prinzip der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung „unbedingt aufrechterhalten werden, um eine digitale Zweiklassen-Gesellschaft zu verhindern“, sagt Schiefke. „Offener Wettbewerb ist und bleibt der stärkste Motor für technologische Weiterentwicklung und Innovation“, so die Verbraucherschützerin.

Die von der Kommission behauptete Rechtsunsicherheit kann auch Schiefke mit Blick auf die verschiedenen Evaluierungsstudien nicht nachvollziehen. „Zudem genügt der aktuell verfolgte fallbasierte Ansatz, da bisher nur wenige Spezialdienste eingeführt wurden“, sagt Schiefke. Für eine ausreichende Klarheit der Vorgaben spreche auch die begrenzte Anzahl an streitigen Verfahren über ihre Auslegung. „Gäbe es tatsächlich erhebliche Unsicherheiten, käme es vermehrt zu gerichtlichen Auseinandersetzungen“, sagt Schiefke.

Endstation EU-Kommission

Was aber sagt nun die EU-Kommission darüber, die muss es ja schließlich wissen? Nicht viel, zumindest nicht öffentlich. Auf Anfrage verweist eine Kommissionssprecherin lediglich auf den letzten Evaluationsbericht aus dem Jahr 2023.

Tatsächlich finden sich darin abstrakte Verweise auf die Sorgen bestimmter Marktakteure: „Viele größere Anbieter von Internetzugangsdiensten“, schreibt die Kommission – und meint damit wohl die europäischen Ex-Monopolisten –, seien der Ansicht, „dass die derzeitigen Vorschriften und das derzeitige Konzept keine ausreichende Sicherheit böten, um sie in die Lage zu versetzen, Dienste auf der Grundlage von Network-Slicing einzuführen oder Spezialdienste zu definieren.“

Damals ließ die Kommission noch offen, ob es sich wirklich um ein Problem handelt oder nicht. Dagegen spricht etwa die im gleichen Bericht diskutierte Empfehlung von Regulierungsbehörden, es beim fallbezogenen Ansatz zu belassen. Offen blieb damals zudem, ob gegebenenfalls ein tieferer gesetzlicher Eingriff oder ein simples Update der GEREK-Leitlinien angemessen wäre.

Doch welche Innovationen die Netzneutralität angeblich verhindert, kann oder will die Kommission bis heute nicht beantworten. Selbst in besagtem Evaluationsbericht nicht: „Bislang haben weder das GEREK noch die Kommission Kenntnis von konkreten Beispielen, bei denen die Umsetzung der 5G-Technologie durch die Verordnung behindert wird.“

Die Teilnahme an der öffentlichen Konsultation zum Digital Networks Act steht bis zum 11. Juli 2025 allen offen, benötigt wird lediglich ein Account auf der entsprechenden EU-Plattform.


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27.06.2025 11:01

Das BKA-Gesetz war teilweise verfassungswidrig. Zu unklar waren die Regeln, wann Beschuldigte in Polizeidatenbanken gespeichert werden dürfen. Zu weit waren die Befugnisse, um mögliche Kontaktpersonen von Terrorverdächtigen zu überwachen. Doch die Neuregelung, die der Bundestag gestern verabschiedete, kann Fachleute nicht überzeugen.

Holger Muench und Alexander Dobrindt bei der Bundespressekonferenz
Die Chefs von BKA und Innenministerium bei einer Pressekonferenz (Archivbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / IPON

Donnerstag spät abends hat die schwarz-rote Mehrheit im Bundestag zwei Gesetze verabschiedet, die das BKA-Gesetz ändern. Es geht dabei zum einen um vorsorgliche Datenspeicherung von Beschuldigten in der polizeilichen Datenbank INPOL und zum anderen um die Überwachung von Kontaktpersonen potenzieller Terrorist:innen.

Die bisherigen Vorgaben waren verfassungswidrig. Das hatte das Bundesverfassungsgericht letztes Jahr festgestellt und eine Änderungsfrist bis Juli gegeben. Es fehlten etwa klare Vorgaben, ab wann und wie lange Daten gespeichert werden dürfen. Anfang Juni verlängerte das Gericht die Frist bis zum 31. März 2026. Doch die Regierungsparteien hielten am ursprünglichen Zeitplan fest. Dabei äußerten Sachverständige in einer Anhörung am Montag deutliche Kritik.

Schnell, schnell – trotz Fristverlängerung

Einer der kritischen Sachverständigen ist Prof. Dr. Clemens Arzt von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Er bemängelt, dass weiterhin nicht klar geregelt ist, wann eine „vorsorgende Speicherung“ von Personendaten in Polizeidatenbanken erlaubt ist. Die im Gesetz formulierte Erlaubnis, wenn die Speicherung zur „Verhütung oder Verfolgung beitragen kann“, heiße nicht, dass diese auch erforderlich sei.

Arzt kommt zu dem Schluss: „Es drängt sich der Anschein auf, dass mit den eilig in diesem Gesetzgebungsverfahren vorgelegten Neuregelungsvorschlägen Zeit bis zur möglichen erneuten Beanstandung des Bundesverfassungsgerichts nach dem Ende dieser Legislaturperiode gewonnen werden soll.“ Das vorgelegte Gesetz sei „mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht vereinbar“.

Auch die Bundesdatenschutzbeauftragte Louisa Specht-Riemenschneider hatte einiges zu beanstanden. Bei der Überwachung von Kontaktpersonen etwa fehlt ein Passus, der ihre Intimsphäre schützt, den sogenannten Kernbereich privater Lebensgestaltung. In einem Gesetzentwurf der Vorgängerregierung, der wegen der geplatzten Koalition nicht mehr durch den Bundestag kam, war das noch berücksichtigt worden.

„Ausgleich zwischen Rechtsstaat und Polizei“

Specht-Riemenschneider riet in ihrer Stellungnahme daher dazu, die entsprechenden Regeln im BKA-Gesetz „aus einem Guss“ zu überarbeiten. Durch die Fristverlängerung des Bundesverfassungsgerichts sehe sie „keine zeitliche Dringlichkeit mehr“.

Die Regierungsfraktionen haben die Mahnungen der kurzfristig konsultierten Fachleute ignoriert. Christoph de Vries (CDU), parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, betonte in seiner Rede im Bundestag, der Entwurf stelle „einen Ausgleich“ zwischen rechtsstaatlichen Anforderungen und Bedarfen bei der Polizeiarbeit dar. Die Verfügbarkeit von polizeilichen Daten dürfe nicht an Ländergrenzen Halt machen.

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte, die gegen das alte BKA-Gesetz geklagt hatte, kündigte bereits Anfang Juni an, die neuen Gesetze zu prüfen und „gegebenenfalls erneut Verfassungsbeschwerde erheben“ zu wollen. Doch bevor die Regelungen gelten, muss zumindest das Änderungsgesetz zur Datenspeicherung noch den Bundesrat passieren. Widerstand aus den Ländern ist jedoch kaum zu erwarten.


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27.06.2025 10:05

Der chinesische KI-Chatbot DeepSeek übermittelt Nutzer*innendaten nach China. Die Berliner Datenschutzbehörde geht jetzt gegen den Anbieter vor. Apple und Google sollen DeepSeek aus ihren Stores entfernen.

Smartphone mit geöffnetem Apple-App-Store auf dem Screen
Raus aus den App-Stores, aber weiter verfügbar: KI-Chatbot DeepSeek – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Rüdiger Wölk

Der KI-Chatbot DeepSeek wird in Deutschland verboten. Die Berliner Datenschutzaufsicht hat die chinesische App als rechtswidrig bewertet, weil sie Daten ihrer Nutzer*innen nach China übermittelt. Damit verstößt sie gegen die Datenschutzregeln der EU (DSGVO). Apple und Google sollen die Anwendung nun aus ihren App-Marktplätzen entfernen. Auf anderen Wegen, etwa über den Browser oder heruntergeladen über die Seite des Unternehmens, ließe sich der Chatbot allerdings weiterhin nutzen.

DeepSeek habe gegenüber ihrer Behörde nicht überzeugend nachweisen können, dass Daten deutscher Nutzer*innen in China auf einem der EU gleichwertigen Niveau geschützt sind, sagt die Berliner Datenschutzbeauftragte Meike Kamp.

In China haben Behörden weitreichende Zugriffsrechte auf personenbezogene Daten, die auf den Servern chinesischer Unternehmen lagern.

Ehemals Chartspitze, jetzt auf Verbotsliste

DeepSeek hatte nach der Vorstellung Anfang des Jahres für Furore gesorgt, weil die Leistungen des Modells hinter dem Chatbot an die von Marktführern wie ChatGPT von OpenAI heranreichten – für viele Beobachter*innen kam das überraschend. Zugleich soll das Training des Modells vergleichsweise günstig und mit weniger Rechenleistung stattgefunden haben, berichtete etwa die New York Times. Das brachte die Börsen durcheinander.

Die App gehört zu den beliebtesten KI-Anwendungen weltweit. Auch in Deutschland trendete sie zwischenzeitlich weit oben in den Download-Charts von Apple und Google. Nutzer*innen können mit der kostenlosen App chatten, Bilder hochladen oder sie für die Suche im Netz einsetzen.

Behörden warnten vor der App

Bedenken zum Umgang mit Nutzer*innendaten gab es von Anfang an. Denn alle gesammelten Daten – von Texteingaben und hochgeladenen Dateien bis zu den Informationen zum Standort und dem benutzten Gerät – übermittelt das Unternehmen nach China.

„Auch Tastatureingaben innerhalb der App können womöglich mitgelesen werden, bevor sie abgeschickt werden“, warnte das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Außerdem werde die Art der Tastatureingaben gespeichert, heißt es. Anhand der Art, wie Menschen tippen, lassen sich Nutzer*innen wiedererkennen.

Auch die Aufsichtsbehörden für Datenschutz hatten DeepSeek im Blick. Mehrere Landesbehörden gingen parallel gegen das Unternehmen vor. Die Gründe: Weitergabe der Daten und andere mutmaßliche Verstöße gegen die DSGVO. Das Unternehmen hatte etwa keinen gesetzlichen Vertreter in der EU benannt. In Abstimmung mit anderen Aufsichtsbehörden ist es jetzt die Behörde aus Berlin, die Maßnahmen ergreift.

Erst Aufforderung, dann Verbot

Die Behörde hatte nach eigenen Angaben DeepSeek Anfang Mai zunächst aufgefordert, die Übermittlung der Daten nach China einzustellen – oder die App eigenständig aus den Stores zu entfernen. Nachdem das Unternehmen nicht reagierte, folgte demnach heute die Meldung an Apple und Google. Dabei machte die Behörde von einer Regelung im Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) Gebrauch, die Betreiber*innen von Plattformen dazu verpflichtet, Meldewege für illegale Inhalte zur Verfügung zu stellen.

Apple und Google müssen die Meldung laut DSA nun prüfen und über die Umsetzung entscheiden. Sie gelten in der EU als „sehr große Online-Plattformen“ und unterliegen damit besonders strikten Auflagen. So müssen sie ihnen gemeldete rechtswidrige Inhalte zügig entfernen, sonst drohen ihnen selbst Strafen in der EU.

Die Behörde hätte gegen DeepSeek auch ein Bußgeld verhängen können. Das lasse sich gegen Unternehmen aus Drittstaaten allerdings nicht vollstrecken, sagt Datenschutzbeauftragte Meike Kamp. Auch gegen die Webseite des Unternehmens könne die Behörde nicht vorgehen, weil der Host-Anbieter nicht bekannt sei.

In Italien ist DeepSeek bereits aus den App Stores verschwunden, nachdem die italienische Datenschutzaufsicht GPDP die App ins Visier genommen hatte. Australien hat die Nutzung der App auf Geräten der Regierung untersagt. In Südkorea wiederum ist die App nach einer zeitweisen Sperre wieder verfügbar, nachdem die Betreiber nachgebessert hatten.

Auch andere chinesische Apps haben Nutzer*innendaten an Server in China übermittelt, darunter die erfolgreichste: TikTok. Das Unternehmen hat jedoch im Gegensatz zu DeepSeek einen Sitz in der EU und fällt in die Zuständigkeit der irischen Datenschutzaufsicht, die jüngst gegen TikTok eine Millionenstrafe veranlasst hat.


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26.06.2025 18:06

Von Suchmaschinen über soziale Medien bis zu KI: Technische Entwicklungen haben den Journalismus im Netz immer wieder verändert und ihm Reichweite als zentrale Zielgröße aufgezwungen. Die Geschichte der Online-Medien muss deshalb auch als Geschichte vom Verlust der journalistischen Autonomie begriffen werden.

Ein altmodischer Maus-Cursor vor schwarzem Hintergrund
Klicks wurden zur wichtigsten Währung im Online-Journalismus – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Liam Briese

Derzeit häufen sich die 30. Geburtstage von Online-Auftritten überregionaler Traditionsmedien. Mit amüsierten Rückblicken auf steinzeitlich anmutende Technik, auf das kleine und eher kuriose Publikum oder die Frage, wer zuerst da war, feiern sie ihr Jubiläum in zahlreichen Texten. Was bei den Erzählungen außen vor bleibt: wie das Internet die Funktionsweise der Massenmedien selbst verändert hat.

Das Netz als Spielwiese und Geschäftsgelegenheit

Als sich das Internet mit Beginn der 1990er Jahre zunehmend kommerzialisiert, ist der Zeitgeist geprägt von Visionen der Entstaatlichung, die sich auch in die Konstruktion des digitalen Raumes einschreiben. Ohne Staat aber, das übersehen die Pionier*innen damals, kann niemand verhindern, dass Großunternehmen den Cyberspace kolonisieren. Das Internet ist schnell nicht mehr Versammlungsort einer Gegenkultur, sondern wird zur Geschäftsgelegenheit.

Die grenzenlose Kommodifizierung ist für viele Zeitgenossen kaum vorherzusehen – dafür bietet der neue Raum zu viele Möglichkeiten. Die deutschen Medien jedenfalls treten mit einem anderen Gefühl den Weg ins Netz an: Sie begeben sich auf eine Spielwiese. Die liegt in einer Gemeinde, der sogenannten Netzgemeinde. Dort ist es zwar nicht so beschaulich wie es heute klingt, in den frühen Foren geht es schon hoch her. Für die Journalist*innen ist sie aber vor allem ein Experimentierfeld, die Grenzen der eigenen Arbeit zu öffnen.

Anders als in der Rückschau oft behauptet, wird in dieser Frühphase des Online-Journalismus durchaus über dessen Finanzierung nachgedacht. Der erste „Spiegel Online“-Chef Uly Foerster etwa erzählt im Interview, dass er damals in der eigenen Anzeigenabteilung und bei Agenturen hausieren ging, um die Möglichkeiten von Internetwerbung auszuloten. Und Dirk Kuhlmann fragt in einer Studienarbeit für die TU Berlin 1995/96 die Zahlungsbereitschaft der ersten Online-Leser*innen der „taz“ ab – mit dem Ergebnis, dass jedenfalls ein Teil der Befragten bereit wäre, ein Abonnement zu beziehen und dafür zu bezahlen.

Der Zeitgeist ist aber ein anderer: Das kommerzielle Internet finanziert sich nicht über Abos, sondern über Werbung. Manch früher US-Onlinedienst wie etwa der Webhoster Tripod spielt sie schon damals passend zu Interessen und persönlichen Merkmalen aus. Weil aber selbst demografisch genaue Daten nur bedingt Rückschlüsse auf individuelle Konsuminteressen zulassen, funktioniert dieses Modell bereits in den 90ern vor allem mittels eines Faktors, die das Internet bis heute prägt: maximale Reichweite.

Wer den Dotcom-Boom überlebte, backte kleine Brötchen

Die Geschäftsgelegenheit Internet nimmt als Dotcom-Boom schnell Fahrt auf. In den späten 90ern provozierten bis dato oft unbekannte Unternehmen mit neuartigen Geschäftsideen immer höhere Gewinnerwartungen bei Anlegern und nährten teilweise mit kriminellen Konzepten eine Börsenblase. Ohne diese Phase lässt sich die Geschichte des Online-Journalismus nicht erzählen.

Zwar profitieren deutsche Medienunternehmen kaum von dem Hype – Werbekunden in Deutschland sind noch nicht auf das neue Anzeigenumfeld eingestellt, nur wenige Online-Medien verdienen wirklich Geld. Trotzdem zieht der Niedergang des Dotcom-Booms sie mit in den Abgrund. Nach dem Platzen der Blase im März 2000 geraten viele Medien unter Druck. Der Internet-Werbemarkt bricht vorübergehend ein und in den gerade erst aufgebauten Online-Redaktionen wird gekürzt. Der Online-Dienst Heise schreibt 2010 rückblickend: „Wer überlebte, backte fortan kleine Brötchen im Web 1.0.“

„Spiegel Online“ aber hat Glück: Kurz vor dem Crash habe er noch personell aufstocken können, erzählt Mathias Müller von Blumencron, der ab 2000 Chefredakteur des Nachrichtenportals ist. Die Zeit nach der geplatzten Blase sei der Redaktion aber „wie eine Ewigkeit vorgekommen“. Es habe nahezu keine Online-Werbung gegeben und große Skepsis in den Verlagen. Kurzum: Die Weiterentwicklung stockte.

Der 11. September und seine Folgen

Eine nachhaltige Depression bleibt dennoch aus. Zu schnell habe sich die Technologie weiterentwickelt, erinnert sich der Journalist Detlef Borchers im Gespräch. Aus den Nischeninteressen Computer und Internet wird ein Lifestyle-Thema, der digitale Raum entwickelt sich bald zum Massenphänomen. Der kollektive Schock, sofern er überhaupt so zu bezeichnen ist, weicht einer gemeinschaftlichen Euphorie über die neue Technik.

Als Durchbruch für den Online-Journalismus muss allerdings ein anderer Krisenmoment gelten: Die Terroranschläge auf das World Trade Center am 11. September. „Ab 2001 reichte es nicht mehr, nur die Tagesschau zu gucken“, so Borchers. In dieser Zeit stellt Google – gerade Marktführer geworden, bis dahin aber keineswegs die dominante Suchmaschine – manuelle Linklisten zu wichtigen Nachrichtenportalen auf seine Homepage. Auf der Startseite finden sich damals Verweise zu Medien aus aller Welt.

Zwar sind deren Web-Auftritte wie Radio und TV teilweise immer noch zu langsam, doch das Publikum ist jetzt da. In Kommentaren zum 30. Geburtstag von „Spiegel Online“ bezeichnen viele Leser*innen die Terroranschläge als Erweckungsmoment. In einem Rückblick von „welt.de“ heißt es: „Das Interesse der Nutzer an aktualisierten Nachrichten ließ in den folgenden Tagen und Monaten nicht nach.“

Bei vielen Medien gehen aber zeitweise die Server in die Knie, sie sind auf den Ansturm der Besucher*innen nicht vorbereitet. Möglicherweise ist dies mitentscheidend dafür, dass Suchmaschinen sich zur ersten Anlaufstelle für Informationen im Netz entwickeln können. Journalist Detlef Borchers jedenfalls macht die Anschläge auf das World Trade Center für den Aufstieg der heute größten Suchmaschine verantwortlich: Google habe damals besser reagiert als viele Zeitungen. Die Suchmaschine blieb in dieser entscheidenden Situation immer erreichbar und machte sich so zum gern genutzten Startfenster für das Web.

Google und Online-Journalismus wären beide als Erfolgsmodell ohne den jeweils anderen zwar vorstellbar, die Geschichte hat sie aber aneinander gebunden. Das erste Mal seit der Mondlandung entstand in der sogenannten westlichen Welt ein Informationsbedürfnis, das von einem Augenblick auf den anderen von einer bis dahin kaum verbreiteten Technologie erfüllt werden konnte: damals war es das Fernsehen, für 9/11 ist es das Internet.

Das Diktat der Suchmaschine

Trotz des wachsenden Publikums läuft das Online-Geschäft der Medien nach dem Dotcom-Crash noch einige Zeit schlecht. Ein wesentlicher Grund ist die Werbeflaute: Noch im Jahr 2000 sagt eine Studie des Prognos-Instituts Netto-Werbeeinnahmen von 944 Millionen Euro auf dem Online-Werbemarkt voraus, real sind es dann nur 246 Millionen – eine Fehlermarge von 380 Prozent.

2003 beginnt es aber zumindest bei „Spiegel Online“ aufwärts zu gehen. Ab da, so erinnert es der damalige Chef Blumencron, habe die Werbeindustrie das Netz entdeckt. Natürlich seien die Online-Geschichten nicht so tief recherchiert gewesen wie jene der Printausgabe. Für das auf Papier nur wöchentlich erscheinende Nachrichtenmagazin ist das tagesaktuelle Geschäft im Netz ohnehin Neuland. „Vieles waren aufgehübschte Agenturmeldungen mit einigen eigenen Gedanken und schnellen Rechercheergebnissen“, so Blumencron. Mit der Zeit habe sich aber eine Mischung aus Geschwindigkeit und zunehmender Hintergrundberichterstattung entwickelt.

Die Tageszeitungsverlage spiegeln da im Netz noch hauptsächlich ihr Programm aus dem Druckprodukt. Ein Glücksfall für „Spiegel Online“, meint Blumencron: „Wir dachten immer: Wie wird uns wohl geschehen, wenn die ihre Redaktionen auf die Digitalplattformen bringen? Dann würden wir untergehen, weil wir gar nicht so schnell analysieren und kommentieren können wie die. Das haben die aber glücklicherweise alle nicht gemacht, weil sie nicht an das Internet geglaubt haben, fünf, sechs, sieben Jahre lang.“ Das sei das große Geschenk der deutschen Zeitungsverleger an den Magazin-Gründer Rudolf Augstein gewesen.

Mehr noch als Augsteins Medienhaus profitiert aber Google. Über die Suchmaschine lassen sich Reichweiten realisieren, die mit einem gedruckten Magazin kaum vorstellbar wären. Dies verspricht dem Verlag neue Erfolge, gibt dem US-Konzern aber zunehmend Macht darüber, wie publiziert wird: Bei „Spiegel Online“ beobachtet die Redaktion, dass 15 bis 20 Prozent der Leserschaft über Google kommt und will den Effekt verstärken. Das funktioniert damals schon mit einer gewissen Boulevardisierung, also etwa der Verwendung emotionalisierender Reizwörter, und mit Überschriften und Text-Snippets, die an die Erfordernisse der Suchmaschine angepasst sind. Zwischen verschiedenen Nachrichtenportalen entsteht ein Wettbewerb um die besten Plätze in den Suchergebnissen, der eine fortlaufende Verschärfung dieser Methoden verlangt.

Google war am geschicktesten

„Das war auch ein bisschen schizophren, aber so ist es nunmal gewesen“, sagt Blumencron. Was er meint: Mit dieser Denkweise bekommt Googles Geschäftsmodell Auftrieb, weil die Online-Redaktionen mehr oder weniger alle diesen Weg gehen und den Mechanismen der Suchmaschine weiter entgegenkommen. Letztlich geht das auf Kosten der Verlage, die sich online zunehmend vom Gutdünken des Konzerns abhängig machen und der Suchmaschine gleichzeitig mit ihren wertvollen Inhalten Nutzer*innen und Klicks auf eigene Werbeanzeigen bescheren. Blumencron sagt aber auch: „Google hat es einfach am geschicktesten gemacht. Ein Internet, in dem sich zunehmend Chaos ausbreitete, wäre ohne Findemechanismus Chaos geblieben.“

Im Jahr 2004 nutzen 74 Prozent der Deutschen Suchmaschinen als wichtigsten Zugang zu Informationen im Netz, Google hält bereits 70 Prozent Marktanteil – eine Monopolstellung, die im Printgeschäft undenkbar wäre. Noch 2005 sieht das Bundeskartellamt in Google aber keinen relevanten Werbemarktakteur und traut dem Internet keine bedeutende Rolle im Mediengeschäft zu, erinnert sich Springer-Chef Mathias Döpfner Jahre später in einem Artikel. Google kann seine Vormachtstellung in der Folge weiter ausbauen.

2009 sagt der damalige CEO Eric Schmidt in bemerkenswert selbstbewussten Worten: „Wir haben entschieden, dass Reichweite der Wert ist, den wir unseren Partnern zur Verfügung stellen.“ Eine folgenschwere Entscheidung für den Journalismus. Neben dem Werbemarkt funktioniert nun also auch die Distribution der Inhalte nach dem Muster „Hauptsache mehr!“. In dem von Blumencron als widersprüchlich beschriebenen Denkmuster, den Verlockungen einer messbar wachsenden Leser*innenschaft zu erliegen, verschiebt sich das Verständnis der Redaktionen darüber, was relevant ist. Lässt sich Erfolg in Zahlen ausdrücken, rücken qualitative Kriterien im hektischen Tagesgeschäft schnell in den Hintergrund – deren Analyse ist schließlich ungleich aufwendiger.

Man könnte wohl von einer metrischen Deformation des kritischen Geistes sprechen, die sich seither in der Arbeitsweise von Journalist*innen vollzieht. Denn diese Rationalität folgt keiner journalistischen Maxime, sondern dem Geschäftsmodell der Suchmaschine.

Reichweite als zentrale Maxime im Social Web

Diese Logik setzt sich auch im zweiten, dem sogenannten Social Web fort. Den Medien erscheint es aber erst einmal wieder als neuer Möglichkeitsraum. Im Interview formuliert der frühere „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann den damals geltenden Branchenkonsens, neue Technologien gelte es zu umarmen. Bei einem Expertengespräch zur „Zukunft des Qualitätsjournalismus“ im Kulturausschusses des Bundestags Anfang 2011 hält es Katharina Borchert, zu jener Zeit Geschäftsführerin von Spiegel Online, für „extrem wichtig“, nicht auf die großen Player wie Google und Facebook zu schimpfen, „sondern ganz im Gegenteil sich Gedanken zu machen, wie wir alle von ihnen profitieren können, denn die meisten von uns profitieren im großen Ausmaß bereits davon.“

Tatsächlich sorgen die Begegnungsmöglichkeiten mit dem Publikum im Web 2.0 anfangs auch für Lichtstreife. Der Ton aber, das berichten Pionier*innen des Social Media-Journalismus, ist vor allem auf Facebook rau. Schnell ist klar: Seriös moderieren lässt sich das nicht. Dazu kommen sich verändernde Voraussetzungen bei den Plattformen: Die Algorithmen werden komplexer und bewirtschaften zunehmend Affekte.

Wieder stellt sich die Frage, wie eigentlich Geld mit diesen neuen Kanälen verdient werden könnte. Die Redaktionen müssen teils selbst nach Argumenten suchen. Wesentlich ist dabei wieder der Traffic – also die Zahl der Rezipient*innen, die über einen Link auf der Plattform auf die Nachrichtenseite kommen. Die Reichweiten-Logik verstetigt sich: Viel hilft viel und ist sowieso fast die einzige Möglichkeit, im Internet Geld zu verdienen.

Journalistische Inhalte müssen dafür an eine zunehmend affektgetriebene Unterhaltungslogik angepasst werden, um in der Mechanik der Algorithmen bestehen zu können – zuerst in der Themenauswahl, dann ihrer Darstellung und schließlich rückwirkend im Denken der Redaktionen, deren Aufgabe es ist, erfolgreich im Sinne von weitreichend diese Kanäle zu bespielen.

„In den sozialen Medien kommt es zu mehr Wechselwirkungen, Journalist*innen lernen über das erhaltene Feedback zu ihren Postings auch, welche Inhalte sich auf der Plattform leichter popularisieren“, beschrieben es kürzlich die Kommunikationswissenschaftler Jonas Schützeneder und Christian Nuernbergk. Wenn der Erfolg in Reichweite gemessen wird, dann wird die dazu passende Auswahl der Inhalte zweckrational – wer will schon nicht erfolgreich sein?

Auch das Publikum wird quantifiziert

Während die Redaktionen sich den fortlaufend verändernden sozialen Netzwerken anzupassen versuchen, ficht Springer-CEO Döpfner, der damals auch Präsident des Zeitungsverlegerverbandes ist, im Frühjahr 2014 ein Distanzduell mit Google-Verwaltungsrat Eric Schmidt: „Wir haben Angst vor Google“, schreibt er damals. „Ich muss das einmal so klar sagen, denn es traut sich kaum einer meiner Kollegen, dies öffentlich zu tun.“

Freiwillige Selbstunterwerfung könne nicht das letzte Wort der Alten Welt gewesen sein, so Döpfner, immerhin selbst Milliardär und Lenker eines global operierenden Konzerns. Wie Blumencron für den Spiegel beschreibt auch er das Verhältnis zu dem Tech-Konzern als schizophren: Leser*innen hätten das jedenfalls so interpretiert, weil Springer Google für die eigene Vermarktung nutze und gleichzeitig verklage. Niemand in der Verlagsbranche könne ohne Google auskommen, so Döpfner.

Reichweite hat sich da längst plattformübergreifend als zentrale Erfolgsgröße durchgesetzt. Am Ende sei der Traffic für den Spiegel nicht über das journalistisch attraktive Twitter, sondern über das journalistisch unerquickliche Facebook gekommen, erinnert Maike Haselmann, die erste Social Media-Redakteurin des „Spiegel“.

In klassischen Printredaktionen stößt die Transformation mit ihren metrischen Analysemöglichkeiten auf Widerstände. Es liegt schließlich eine intellektuelle Abwertung darin: Der Erfolg von Beiträgen bemisst sich nicht mehr in Reaktionen aus der Politik oder in der inhaltlichen Auseinandersetzung in Leser*innenbriefen, sondern in Zahlen, die wenig Deutung zulassen. In einem Berufsbild, das sich über die Qualität der eigenen Deutungskraft definiert, muss das beinahe notwendig befremden.

Auch die Rückmeldung des Publikums wird quantifiziert: Statt den Leser*innen intensiver zu begegnen, wie es das Web 2.0 versprach, wird deren menschliche Regung (oder Erregung) als Reaktion auf einen Beitrag neutralisiert, weil ihre quantitative Messung nichts über den emotionalen Aggregatzustand der Rezeption aussagt. Ein Text könnte große Reichweite gerade deshalb erzielt haben, weil er besonders schlecht ist.

Die Angst der Medien, abgehängt zu werden

Als im Oktober 2022 mit ChatGPT das erste große Sprachmodell für die breite Öffentlichkeit an den Start geht und der Anbieter OpenAI die Konkurrenz überrumpelt, wird der Hype in Massenmedien genährt. Im „Spiegel“ heißt es: „Aber OpenAI ist schneller. Einige sagen: schneller und fahrlässiger, denn ChatGPT spuckt jede Menge Unsinn aus. Binnen weniger Monate nutzen hundert Millionen Menschen ChatGPT. Die Flasche ist geöffnet. Hype ist eine Untertreibung für das, was nun folgt.“

Wieder entsteht das Gefühl einer Spielwiese, in den Verlagen und Redaktionen wird überlegt, wie man sich die Technologie nützlich machen könnte. Das ist weniger naiv als in den 90ern und auch vom Web 2.0 will man gelernt haben. Aus der Erfahrung aber, das Internet schon mal verpasst zu haben, hat sich in vielen Medienhäusern die Angst festgesetzt, sie könnten den Anschluss verlieren. Die Tech-Konzerne wissen darum und spielen mit dieser Sorge. Sie bewerben ihre neuen Produkte gezielt und bauen mit ihren Erzählungen Druck auf, neue Entwicklungen nicht zu verpassen. Befragungen von Medienwissenschaftler*innen zeigen: Dieser Druck kommt in den Redaktionen an.

Zehn Jahre nach seinem Brief an Eric Schmidt schreibt Mathias Döpfner, weshalb er Google nicht mehr fürchte: Bis auf Weiteres habe der Konzern auf ganzer Linie gewonnen. Weil der Springer-Chef – dem es natürlich immer und gerade auch um das eigene Geschäft geht – in seinem Text von 2014 über die Abhängigkeit journalistischer Medien von der Suchmaschine schreibt, bedeutet diese Niederlage auch: Selbstbestimmung ist verloren gegangen. Andere sprechen von einem Zwang zur Unterwerfung.

Google verändert derweil die Erzählung der Reichweite als Wert für die Partner in etwas Feindseligeres. Vor dem Hintergrund des Urheberrechtsstreits mit den Medien veröffentlicht der Konzern im März 2025 einen Report über ein Experiment in Europa. Einem Teil der Nutzer*innen sind in der Suche keine Inhalte von Qualitätsmedien mehr ausgespielt wurden, um so deren Wert für das eigene Geschäft zu taxieren. Wenig überraschend kommt Google zu dem vorteilhaften Ergebnis, dass sich für die Suchmaschine wenig bis nichts ändere, wenn man keine Nachrichteninhalte mehr findet.

Die Botschaft ist klar: Es gibt nichts zu verteilen, wenn Google selbst nichts mit journalistischen Inhalten verdient. Was im Bericht zur Randnotiz verkommt: Die Anfragen bei Google News – also nach hochwertigen journalistischen Informationen – sind im untersuchten Zeitraum deutlich angestiegen.

KI-Zusammenfassungen ersetzen Suchergebnisse

Währenddessen vollzieht sich gerade ein Paradigmenwechsel, der das Ende vom Wert der Reichweite einläutet: KI-Zusammenfassungen ersetzen Suchergebnisse. Damit schwindet der Anlass, die Suchmaschine überhaupt noch zu verlassen. Viele Verlage berichten von einbrechendem Traffic. Nachrichtensuchen nimmt Google bislang zwar der neuen Funktion aus; was eine Nachrichtensuche ist, entscheidet der Konzern aber selbst.

Diese Entwicklung ist seit etwa zwei Jahren abzusehen gewesen. Neue Ideen für die künftige Finanzierung des Online-Journalismus gibt es aber noch nicht. Das zentrale Muster wiederholt sich: Vor allem Google hat viel Geld damit verdient, in der Nachrichtensuche journalistische Inhalte zu verteilen. Die KI-Anbieter versuchen das nun, indem sie ihre Modelle damit trainieren. In der analogen Welt würde man wohl von Hehlerei sprechen.

Zwar haben die Verlage mit Bezahlschranken ein weiteres Standbein entwickelt, das sie ein wenig vor diesen Entwicklungen schützt. Es reicht aber nicht, um auf die Plattformen verzichten zu können. Das gilt insbesondere für Regional- und Lokaltitel. Selbst große Traditionshäuser wie die Rheinische Post oder die Stuttgarter Zeitung verharren mit etwa 25.000 respektive 10.000 Online-Abos seit längerem bei einer Zahl, die ihr Überleben nicht sichern kann.

Schon 1982 schrieb Medienwissenschaftler Siegfried Weischenberg: „Für den Journalismus ist die Technik konstituierend. Der Beruf entstand auf der Grundlage von technisch-ökonomischen Umwälzungen.“ Solche Umwälzungen bringen schließlich herausragende Informationsbedürfnisse hervor, die Gesellschaften als ganze betreffen. Daraus ergibt sich aber ein Spannungsfeld für den Journalismus. Weil er selbst betroffen ist, fehlt ihm bisweilen die kritische Distanz in der Bewertung neuer Technologien. Und während er sie mit Hypes groß macht, fällt er ihnen zum Opfer.


Jann-Luca Künßberg ist Journalist und Autor. Er hat für Medien wie die taz, T-Online und den Südkurier geschrieben und für verschiedene Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gearbeitet.


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25.06.2025 13:38

Viele EU-Länder wollen der Polizei mehr Zugang zu privaten Daten verschaffen. Neben der Vorratsdatenspeicherung steht auch der Zugriff auf verschlüsselte Inhalte zur Debatte. In einem Fahrplan skizziert die EU-Kommission ihre nächsten Schritte.

Ein Mensch mit Laptop, im Hintergrund ein Rechenzentrum.
Polizeien soll der Zugang zu Daten vereinfacht werden, wünscht sich die EU-Kommission. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Pond5 Images

Die EU-Kommission hat am Dienstag einen Fahrplan für den Zugang zu Daten für Polizeibehörden vorgestellt. Demnach liegt der Fokus auf sechs Schlüsselbereichen. Er umfasst etwa die weiteren Schritte in Richtung EU-weiter Vorratsdatenspeicherung, mehr Einsatz sogenannter Künstlicher Intelligenz bei Ermittlungen und einen für das Jahr 2026 geplanten Ansatz, um an verschlüsselte Daten zu kommen. Mit diesen Vorhaben drohen Einschränkungen bei Datenschutz, Privatsphäre und Vertraulichkeit der Kommunikation.

Umrissen hatte die Kommission ihre Prioritäten bereits in ihrer „ProtectEU“ genannten Strategie zur inneren Sicherheit im April. Entsprechend betont sie nun auch im aktuellen Fahrplan, dass rund 85 Prozent der strafrechtlichen Ermittlungen auf elektronischen Beweismitteln beruhten. Zwischen den Jahren 2017 und 2022 hätten sich die Datenanfragen an Online-Dienste verdreifacht, und der Bedarf an diesen Daten steige weiter an.

Zugleich gebe es jedoch Probleme dabei, schnell an die Daten zu kommen. In manchen Fällen hätten die Anbieter sie bereits gelöscht, in anderen hapere es bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit; bisweilen seien Daten verschlüsselt und nicht ohne Weiteres zugänglich. All diese Hürden müssten abgebaut werden, um „effektiv und rechtmäßig“ Ermittlungen im digitalen Raum durchführen zu können, heißt es in der Mitteilung. Federführend sind hierbei Digitalkommissarin Henna Virkkunen und Innenkommissar Magnus Brunner.

Vorratsdatenspeicherung: Mehr als 5.000 Stellungnahmen

Bereits letzte Woche ging die erste Etappe zu Ende. In einer öffentlichen Konsultation holte die Kommission Meinungen zum Dauerbrenner Vorratsdatenspeicherung ein, nun wird sie die über 5.000 Stellungnahmen aus ganz Europa auswerten müssen. Die sollen in eine Folgenabschätzung über diese Form der anlasslosen Massenüberwachung einfließen, ein notwendiger Schritt vor einem möglichen Gesetz. Mit einem erneuten Anlauf für eine EU-weite Regelung wird allgemein gerechnet, nicht zuletzt drängen EU-Innen- und Justizminister:innen im Rat auf einen einheitlichen Rechtsrahmen.

In der Vergangenheit hatten Gerichte, darunter der Europäische Gerichtshof (EuGH), nationale Anläufe sowie eine frühere EU-Richtlinie unter Verweis auf die tiefen Grundrechtseingriffe kassiert. Im Vorjahr hat der EuGH jedoch die Tür ein Stück weit geöffnet und die verdachtslose Speicherung von mindestens IP-Adressen unter bestimmten Bedingungen für zulässig erklärt.

„Rechtsmäßiger Zugang“ gefährdet alle

Auf dem Arbeitsprogramm der Kommission steht zudem eine Verbesserung des grenzüberschreitenden Datenaustauschs zwischen Ermittlungsbehörden. Dabei will sie offenbar nicht abwarten, bis alle EU-Länder das E-Evidence-Paket umgesetzt haben. Optimierungsbedarf gebe es auch bei der Europäischen Ermittlungsanordnung; die Instrumente sollen im kommenden Jahr überprüft werden.

In Zusammenarbeit mit der EU-Polizeibehörde Europol will die Kommission Ermittlungsbehörden im Bereich der digitalen Forensik besser aufstellen. Dabei sollen auch öffentlich-private Partnerschaften zum Zug kommen. Um mit der zu erwartenden Materialfülle zurechtzukommen, will die Kommission bis zum Jahr 2028 die Entwicklung und den Einsatz von KI-Tools fördern. Mehr einbringen will sich Brüssel auch bei der Standardisierung neuer Technologien, etwa, um gleich von Beginn an Überwachungsschnittstellen nach dem Prinzip des „rechtmäßigen Zugangs durch Design (‚lawful access by design‘)“ einzubauen.

Das Konzept steht im Widerspruch zu Privatsphäre durch Design (‚privacy by design‘), das Daten und Privatsphäre von Menschen nicht nur gegenüber ihrem eigenen Staat schützt, sondern auch gegenüber anderen Staaten und Kriminellen. Denn einmal geschaffene Wege zum Zugriff auf geschützte Inhalte lassen sich nicht nur durch autorisierte Akteure ausnutzen, sondern auch durch andere. Auf diese Weise kann das Konzept „lawful access by design“ sowohl einzelne Nutzer:innen als auch die IT-Sicherheit insgesamt gefährden.

Debatte unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Für das Jahr 2026 ist ein weiterer brisanter Fahrplan angekündigt. Darin will die Kommission Ansätze „identifizieren und evaluieren“, um Polizeien womöglich Zugang zu verschlüsselten Daten zu geben. Ob sich dabei auch gefährliche Methoden wie Hintertüren wiederfinden werden, bleibt vorerst offen. Auch eine eigens einberufene Arbeitsgruppe, die sich in den vergangenen Jahren vertieft mit dem sogenannten „Going Dark“-Phänomen beschäftigt hatte und auf deren Vorschlägen das Vorgehen der Kommission beruht, ist solche Details schuldig geblieben.

Die bisherigen Schritte der Kommission sind auf vehemente Kritik seitens Grundrechteorganisationen gestoßen, die sich übergangen sehen und mehr Mitsprache fordern. In einem Brief forderten dutzende Nichtregierungsorganisationen im vergangenen Mai, dass die Debatte über Hintertüren nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden dürfe. Unter anderem sei die EU-Arbeitsgruppe „undurchsichtig“ gewesen; es müssten nun mehr Stimmen aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft gehört werden.


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25.06.2025 12:00

Staatliche Stellen haben letztes Jahr fast 27 Millionen Mal abgefragt, wem eine Telefonnummer gehört. Das ist ein neuer Rekordwert. Auch Inhaber von IP-Adressen werden abgefragt, laut Telekom vor allem wegen Urheberrechtsverletzungen.

Gelbe Teleefonzelle
Wem gehört dieser Telefonanschluss? (Symbolbild) CC-BY-SA 4.0 Andreas Axel Kirch / Wikimedia Commons

Wem gehört eine Telefonnummer? Das können 138 staatliche Stellen von 130 Telekommunikations-Unternehmen erfahren, ohne dass die betroffenen Firmen oder Kund:innen davon etwas mitbekommen. Dieses automatisierte Auskunftsverfahren wird von der Bundesnetzagentur betrieben und ist auch als „Behördentelefonbuch“ oder Bestandsdatenauskunft bekannt.

Die Bundesnetzagentur veröffentlicht darüber jährliche Statistiken, neben einem Absatz im aktuellen Jahresbericht auch auf der Webseite:

Mit bis zu 188.627 Ersuchen pro Tag zu Namen oder Rufnummern wurden im Jahr 2024 insgesamt ca. 26,9 Mio. Ersuchen durch die Systeme der Bundesnetzagentur beantwortet.

Wir haben die Zahlen wie jedes Jahr aufbereitet und visualisiert.

26 Millionen Abfragen: Wem gehört diese Telefonnummer?

Deutsche Behörden haben im letzten Jahr 26,55 Millionen Mal gefragt, wer eine Telefonnummer registriert hat. Staatliche Stellen wie Polizei, Geheimdienste und Zoll haben also im Schnitt fast jede Sekunde einen Datensatz mit Name, Anschrift und weiteren Bestandsdaten erhalten. Das ist ein neuer Rekord.

Diese nummernbasierten Ersuchen haben sich innerhalb von sieben Jahren mehr als verdoppelt.

Welche Telefonnummern gehören dieser Person?

Die Auskunft geht auch anders herum: Welche Telefonnummern gehören einer Person? Diese personenbasierten Ersuchen wurden 280.570 Mal gestellt, etwa alle zwei Minuten eine. Diese Abfragen nahmen wieder leicht zu:

Registrierungspflicht für SIM-Karten

In vielen Staaten der Welt kann man Internet per WLAN und Mobilfunk auch ohne Identifizierung nutzen, darunter USA und Kanada, Großbritannien und Niederlande. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hat jahrelang die „Verwendung von Prepaid-Karten zur Anonymisierung“ empfohlen.

Seit einem Anti-Terror-Gesetz von 2016 müssen Prepaid-SIM-Karten in Deutschland mit einem amtlichen Ausweisdokument registriert werden. Das sind genau die Daten, die jede Sekunde abgefragt werden. Damals sagte uns das CDU-geführte Innenministerium, dass es „keine allgemeine Pflicht zur nachträglichen Überprüfung bereits erhobener Bestandsdaten“ gibt.

Bundesnetzagentur kontrolliert Daten

Diese Zusage gilt jetzt nicht mehr. Sicherheitsbehörden beklagen, dass manche Daten eine „mangelhafte Datenqualität“ haben, also Anschlüsse auf ein Pseudonym registriert sind. Deshalb hat die Bundesnetzagentur Auslegungshinweise zum Gesetz „erweitert und fortentwickelt“. Auf einem „Compliance Gipfel“ diskutieren Branchenvertreter und berechtigte Stellen „Lösungsansätze zur Verbesserung der Datenqualität“.

Dieses Jahr will die Bundesnetzagentur die „Vorgaben für Identifizierungsverfahren im Prepaid-Mobilfunksektor“ überarbeiten. Das passiert mit der „Novellierung des Telekommunikationsgesetzes im Rahmen des TK-Netzausbau-Beschleunigungs-Gesetzes“. Danach will die Bundesnetzagentur die Kundendatenauskunftsverordnung und die Technische Richtlinie für das Auskunftsverfahren überarbeiten.

Keine Transparenz zu IP-Adressen

Seit 2013 können Behörden neben Telefonnummern auch Internetdaten wie IP-Adressen und E-Mail-Postfächer als Bestandsdaten abfragen. Damit erfahren sie, wem eine IP-Adresse zugewiesen ist oder welche IP-Adressen eine Zielperson nutzt – ebenfalls ohne Richterbeschluss.

Zu diesen Abfragen gibt es leider keine Statistiken, weil die Behörden direkt bei den Internet-Zugangs-Anbietern anfragen. Die Bundesnetzagentur könnte diese Statistiken erheben und veröffentlichen. Doch dazu fehlt der politische Wille – aller Bundesregierungen.

Die Deutsche Telekom veröffentlicht freiwillig einige Zahlen in ihrem Transparenzbericht. Demnach haben Behörden in 53.978 Fällen Bestandsdaten durch manuelle Abfragen erhalten. Dazu kommen 289.893 Abfragen zu Inhabern von IP-Adressen bei mutmaßlichen Urheberrechtsverletzungen im Internet.


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24.06.2025 15:27

Die EU-Kommission könnte einem Medienbericht zufolge die Durchsetzung europäischer Digitalgesetze vorerst aussetzen, um Donald Trump im Handelskrieg zu besänftigen. Das stößt im EU-Parlament auf starken Widerstand.

Abstürzende Aktuenkurse auf einem Smartphone-Display.
Der weiterhin ungeklärte Zollstreit zwischen den USA und der EU sorgt weiterhin für Unruhe. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / MiS

Im vom US-Präsidenten Donald Trump angezettelten Handelsstreit könnte die Durchsetzung des Digital Markets Act (DMA) für US-Unternehmen wie Alphabet, Meta oder Apple auf Eis gelegt werden, berichtet das Wall Street Journal (€). Dem Exklusiv-Bericht zufolge zirkuliert im Büro des US-Handelsbeauftragten der Entwurf eines „Abkommens über gegenseitigen Handel“ zwischen den USA und der EU. Ob die EU-Verhandler:innen dem Abkommen in dieser Form zustimmen werden, bleibt vorerst unklar.

Laut WSJ erfasst das geplante Abkommen eine ganze Reihe von Handelsbereichen, neben dem Digitalsektor unter anderem CO2-Grenzabgaben, Schiffbau oder die Beschaffung von Rüstungsgütern. Weiter ausgesetzt werden könnte demnach auch eine EU-Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten, die Ende des Jahres in Kraft treten soll. Dem Bericht zufolge könnten die USA und die EU in einen „Dialog“ über die Implementation des DMA treten. Zwischenzeitlich sollte die Durchsetzung ruhen, so das WSJ.

Tauziehen im Handelsstreit

Die heiklen Verhandlungen zwischen den USA und der EU laufen überwiegend hinter verschlossenen Türen, seit Donald Trump im April die Einfuhren praktisch aller Länder der Welt mit Strafzollen belegt hatte. Für Importe aus der EU sah die ursprüngliche US-Ankündigung einen pauschalen Zollsatz von 20 Prozent vor. Später polterte Trump in sozialen Medien und erhöhte die Drohung mit Verweis auf „unfaire und ungerechtfertigte Klagen gegen US-amerikanische Unternehmen“ auf 50 Prozent.

Bislang sind die angedrohten Zölle weitgehend ausgesetzt. In Kraft sind jedoch etwa Abgaben auf Stahl- und Aluminiumimporte in Höhe von 50 Prozent sowie pauschale Aufschläge von 25 Prozent auf Autoimporte. Außerdem gilt ein Mindestzollsatz von 10 Prozent, der sich der Nachrichtenagentur Reuters zufolge kaum wegverhandeln lassen wird. Die zuletzt genannte Frist für einen Abschluss der Verhandlungen ist der 9. Juli.

Strafen und Auflagen gegen US-Digitalriesen

Ein besonderer Dorn im Auge der „America First“-Administration sind die relativ jungen EU-Digitalgesetze, der Digital Services Act (DSA) und der Digital Markets Act (DMA). Beide Gesetze sollen die Rechte von Nutzer:innen im Internet stärken und die Übermacht insbesondere großer Digital-Konzerne abschwächen. Viele dieser Unternehmen stammen aus den USA und sind davon entsprechend stärker betroffen als kleinere Wettbewerber, etwa aus der EU.

Zuletzt hat die EU-Kommission erstmals millionenschwere Wettbewerbsstrafen sowie Auflagen für Apple und Meta verhängt, denen sie Verstöße gegen den DMA vorwirft. Für Unverständnis auf der anderen Seite des Atlantiks sorgen zudem regelmäßige Auseinandersetzungen rund um die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).

Derweil sehen US-Republikaner die im DSA verankerten Mindestvorgaben zu Inhaltemoderation durch die Bank als unzulässige Einschränkung der Meinungsfreiheit. Für weitere Verstimmung könnten außerdem nationale Vorstöße einzelner EU-Länder in puncto Digitalsteuer sorgen, darunter der jüngste Vorschlag des deutschen Kulturstaatsministers Wolfram Weimer.

EU-Parlament stellt sich gegen Aufweichung von Gesetzen

Ein in den Raum gestelltes Einknicken der EU-Kommission kommt beim EU-Parlament nicht gut an. „Bei aller Flexibilität und Verhandlungsbereitschaft seitens der EU muss weiterhin klipp und klar sein, dass unsere Gesetze oder eine Aufweichung unserer Regeln nicht Teil des Warenkorbes für die Verhandlungen sein dürfen“, sagt der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange, Vorsitzender des Handelsausschusses im EU-Parlament, in einer Pressemitteilung.

Dies gelte für den DMA genauso wie für andere Regelungen, betont Lange. „Hier darf nicht einmal mit dem Feuer gespielt werden. Da darf es keine Abstriche geben“, so der niedersächsische Abgeordnete. Es stehe nicht zur Disposition, „unsere EU-Gesetze und unsere Autonomie und Recht zu regulieren“.

In einer heutigen Anhörung habe die EU-Kommission die „Rolle, Einbindung und Bedeutung des Europäischen Parlaments bei den transatlantischen Handelsbeziehungen“ noch einmal bekräftigt. „Wenn es zu einem Abkommen kommt, dann haben wir im Europäischen Parlament das letzte Wort. Ob das Herrn Trump passt oder nicht“, gibt sich Lange kämpferisch.


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24.06.2025 13:48

Bei der Budapest Pride am Samstag drohen den Teilnehmenden Strafen, die Polizei darf sogar Gesichtserkennung zur Identifikation einsetzen. Etwa 50 Menschenrechtsorganisationen fordern die EU-Kommission zu sofortigen Handeln gegen den „gefährlichen Präzedenzfall“ auf.

Menschen marschieren mit Regenbogen-Flagge
Demonstration gegen das Gesetzespaket, das Pride-Veranstaltungen in Ungarn verbietet. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO

Rund 50 Menschenrechts- und Digitalrechtsorganisationen aus ganz Europa fordern die EU-Kommission auf, ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einzuleiten und sofortige Maßnahmen gegen queerfeindliche Gesetze im Land zu ergreifen.

Die Organisationen verweisen auf ein Gesetz, das den Einsatz von Gesichtserkennungssystemen bei der anstehenden Pride-Demonstration in Budapest erlaubt: Es verstoße klar gegen EU-Vorgaben für Künstliche Intelligenz (KI-Verordnung). Die Kommission müsse umgehend handeln um sicherzustellen, dass die Teilnehmenden der für Samstag geplanten Pride ihr Recht auf Versammlung und freie Meinungsäußerung wahrnehmen können. Auch soll sie von den ungarischen Behörden Informationen über den Einsatz und die technischen Details der Gesichtserkennung anfordern. Details hält die Regierung bislang unter Verschluss.

„Gefährlicher Präzedenzfall“

Ungarn hat Mitte März ein Gesetzespaket verabschiedet, das die Organisation und Teilnahme an Veranstaltungen wie der Pride unter Strafe gestellt. Die Regierung begründet dies mit dem angeblichen Schutz Minderjähriger. Seit dem 15. April drohen Geldstrafen und die Polizei darf Echtzeit-Gesichtserkennung einsetzen, um Demonstrierende zu identifizieren – obwohl es sich lediglich um eine Ordnungswidrigkeit handelt.

„Die Europäische Kommission muss sich einschalten und Ungarn und die Welt daran erinnern, dass die EU eine klare rote Linie gegen dystopische, diskriminierende und strafende Nutzungen von Technologien zieht“, fordert Ella Jakubowska, Leiterin der Abteilung Politik bei European Digital Rights (EDRi), welche den Brief mitgezeichnet hat.

Ádám Remport von der Hungarian Civil Liberties Union warnt, das Gesetz bedrohe nicht nur die Privatsphäre, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit und eine Vielzahl von Menschenrechten. „Die Europäische Kommission muss entschlossen handeln, um zu verhindern, dass sich ein gefährlicher Präzedenzfall in der gesamten Union etabliert.“

Keine Bücher und Filme zu Queerness

Die Kommission hat bereits rechtliche Schritte gegen Ungarn wegen eines queerfeindlichen Gesetzes aus dem Jahr 2021 eingeleitet, das LGBTQ-Inhalte in Schulen, Buchläden und im Fernsehen verbietet. Kinder und Jugendliche haben seither kaum noch Zugang zu Informationen rund um queere Sexualität oder Transidentität. Werbung oder Sendungen zu diesen Themen sind aus dem Fernsehen verschwunden, Bücher dürfen nicht mehr offen im Buchladen ausliegen.

Anfang Juni stellte die Generalanwältin des von der Kommission angerufenen Europäischen Gerichtshof (EuGH) fest, dass das Gesetz und seine Argumentation, es gehe um den Schutz von Kindern, auf „Vorurteilen dazu beruht, dass das Leben von Homosexuellen und Nicht-Cisgender [Transgender] nicht den gleichen Wert hat”. Das Gericht hat noch kein Urteil gefällt, folgt aber meist der Einschätzung aus der Schlusserklärung.

Das „Kinderschutzgesetz“ dient auch als Rechtsgrundlage für das aktuelle Verbot von Versammlungen im Zusammenhang mit Queerness. Zwei queere Veranstaltungen wurden bereits auf Basis dieses Gesetzes untersagt, schreiben die Organisationen an die Kommission.

Bürgermeister widersetzt sich dem Verbot

Lange war ungewiss, ob und wie die traditionelle Budapest Pride in diesem Jahr stattfinden würde. Nach dem Verbot im März hatten die Veranstalter*innen angekündigt, an der Veranstaltungen festzuhalten. In der Folge begann ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Budapester Polizei und der Stiftung, die die Pride ausrichtet. Die Organisator*innen versuchten zunächst, das Verbot zu umgehen, indem sie mehrere Veranstaltungen für denselben Tag anmeldeten. Die Polizei hat sie alle verboten.

Schließlich schaltetet sich Mitte Juni der liberale Bürgermeister von Budapest Gergely Karácsony ein. Gemeinsam mit dem Sprecher der Budapest Pride kündigte er per Video an, die Stadt werde die Veranstaltung als kommunalen „Tag der Freiheit“ ausrichten. Als Teil der Feierlichkeiten werde es auch eine Prozession durch die Innenstadt geben.

Dabei handele es sich um keine Demonstration. „Es wird keine Lastwagen, keine Tänzer*innen und keine Sexualität in irgendeiner Form geben“, schrieb er an die Polizei. Doch auch diese Veranstaltung hat die Polizei mittlerweile verboten. Sie verstoße gegen das neue Gesetz, argumentiert Polizeichef Tamas Terdik in dem 16-seitigen Dokument.

Der Bürgermeister hält daran fest, das Verbot sei irrelevant. Die Veranstaltung könne nicht verboten werden, weil sie nie als Demonstration angemeldet war. „Die Polizeibehörde von Budapest hat ein Verbot für eine nicht existierende Versammlung erlassen und hätte mit derselben Härte auch Einhörner verbieten können.“

EU-Abgeordnete und Bürgermeister*innen laufen mit

Zu der Veranstaltung am Samstag werden mehrere Zehntausend Menschen erwartet. Mehr als 70 Abgeordnete des EU-Parlaments haben bereits ihre Teilnahme angekündigt, darunter die Vorsitzende der Sozialisten und Demokraten (S&D) Iratxe García, die Vorsitzende der Liberalen Renew Europe Valérie Hayer und die Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion Terry Reintke.

Die niederländische Staatssekretärin für Bildung und mehrere Bürgermeister*innen großer europäischer Hauptstädte werden ebenfalls anwesend sein.

Die EU-Kommissarin für Gleichstellung Hadja Lahbib hatte ihre Teilnahme davon anhängig gemacht, ob die Veranstaltung verboten wird. In dem Fall hat sie angekündigt, sich am Vortag mit Aktivist*innen treffen zu wollen, aber nicht an der Pride teilzunehmen.


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24.06.2025 09:16

Chatkontrolle, mehr Daten für die Polizei, KI-freundliches Urheberrecht, eine Überarbeitung des Datenschutzes: Das wünscht sich die ab 1. Juli amtierende dänische Ratspräsidentschaft für die Digitalpolitik der EU. Nutzer*innen- und Freiheitsrechte finden – wenn überhaupt – nur als Randnotiz statt.

Mette Frederiksen steht während einer Pressekonferenz an einem Rednerpult vor der Fahne der EU, Dänemarks und Deutschlands.
Unter Mette Frederiksen übernimmt Dänemark ab Juli die EU-Ratspräsidentschaft. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Christian Spicker

„Der sexuelle Missbrauch und die Ausbeutung von Minderjährigen, die online stattfindet und verbreitet wird, nimmt zu.“ Das schreibt Dänemark im Programm zur EU-Ratspräsidentschaft, die das Land am 1. Juli von Polen übernimmt. Dänemark liefert eine Lösung mit: die Chatkontrolle.

Die EU-Ratspräsidentschaft wechselt alle sechs Monate von einem Mitgliedsland zum nächsten. Zwischen Juli und Dezember werden dänische Politiker*innen den Gremien des EU-Rats vorstehen. Das Amt bringt keine direkten Befugnisse mit sich, aber Dänemark kann die Agenda setzen. Wie möchte das Land diese Macht für Digitalpolitik nutzen?

Der Chatkontrollen-Zombie

Auf das digitalpolitische Banner schreibt sich Dänemark die Regulierung zur Verhinderung von sexuellem Missbrauch von Kindern (CSAR), hinter der sich die Chatkontrolle versteckt. Es benötige „klare und harmonisierte Gesetze“, um Missbrauch und Missbrauchsdarstellungen zu verhindern und zu bekämpfen, so das Programm. Ende Mai hatte der Vorgänger Polen eine Einigung bei der Chatkontrolle noch aufgegeben.

Zudem möchte die neue Ratspräsidentschaft Polizeibehörden dabei helfen, „die Digitalisierung beim Kampf gegen Schwerverbrecher zu nutzen“. Dafür brauche man die notwendigen Werkzeuge wie beispielsweise Zugang zu Daten. Zudem sei es notwendig, „Kooperationen zum Datenaustausch mit internationalen Organisationen und Drittländern zu stärken“. Was damit konkret gemeint ist, bleibt unklar.

Sorgen um die Demokratie

Dänemark sorgt sich um die Standhaftigkeit der Demokratie. Gerade für den Kampf gegen Falschinformationen, „genauso wie beim Online-Schutz von Kindern und jungen Menschen“, möchte Dänemark die Tech-Giganten regulieren. Meta und Co sollen laut Programm mehr Verantwortung übernehmen und für die Inhalte auf ihren Plattformen zur Rechenschaft gezogen werden.

Während der Ratspräsidentschaft möchte Dänemark die Demokratie mit einer freien und vertrauenswürdigen Presse sowie der Erhöhung der Digitalkompetenz der Unionsbürger stärken. Daneben plant das Land, alltägliche digitale Herausforderungen wie unter anderem unethische Geschäftsmodelle und die umfangreiche Datenerfassung anzugehen. Hier verweist das Programm erneut auf „schädliche Online-Inhalte für Kinder und junge Menschen“ – diesmal als zu lösendes Alltagsproblem.

Wirtschaftsfreundliche „Vereinfachungen“

Auch die Digitale Souveränität hat es auf die Agenda geschafft. Für eine digitale Wettbewerbsfähigkeit seien bessere Rahmenbedingungen notwendig. Die dänische Ratspräsidentschaft möchte unter anderem an der Datenschutzgrundverordnung schrauben, um „Firmen Rechtssicherheit zu gewährleisten, unnötige Bürokratie abzubauen und die Transparenzpflicht gegenüber Investoren zu erhöhen“. Laut Programm möchte Dänemark den Datenschutz vereinfachen und Regulierungsaufsicht reduzieren.

Neue Möglichkeiten sieht das Dänemark darin, dass Künstliche Intelligenz kreative Inhalte generieren könne. Nun müsse sich die Gesetzgebung zum Urheberrecht weiterentwickeln, um „einen fairen und effizienten Markt zu ermöglichen“.


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23.06.2025 16:49

Die Polizei Sachsen-Anhalts soll künftig automatisierte Datenanalysen mit Massendaten von Unbescholtenen durchführen dürfen. Ein Gesetz ist schon auf dem Weg. Abgeordnete der Opposition gehen nach einer Antwort der Landesregierung davon aus, dass Software von Palantir eingesetzt werden wird. Denn der Innenministerin steht gar nichts anderes zeitnah zur Verfügung.

Tamara Zieschang spricht im Landtag von Sachsen-Anhalt.
Landesinnenministerin Tamara Zieschang (CDU) im Mai 2025 im Landtag von Sachsen-Anhalt.

In Sachsen-Anhalt kocht der Streit um Palantir hoch. Es geht dabei um eine Software für die Polizei, die verschiedene Datentöpfe der Behörden zusammenführen soll, um dadurch Analysen zu ermöglichen. Die Opposition befürchtet, das Bundesland und seine CDU-Innenministerin plane, die aus rechtlichen und geopolitischen Gründen heißdiskutierte Softwarelösung des US-amerikanischen Konzerns Palantir für die Landespolizei einzuführen.

Das dafür geplante Gesetz wurde von Fachleuten bereits kurz nach Veröffentlichung des Entwurfs im Mai heftig kritisiert und als offensichtlich grundrechtswidrig gebrandmarkt. Das Gesetz stehe „auf verfassungsrechtlich tönernen Füßen“, bescheinigte ihm der Sachverständige Jonas Botta in einer Stellungnahme an den Innenausschuss des Landtages von Sachsen-Anhalt. Es betreffe eine sehr große Personenzahl, nicht nur aus Sachsen-Anhalt, sondern aus dem gesamten Bundesgebiet und darüber hinaus.

Ein Gesetz ist aber für die Nutzung solcher Software notwendig, weil das Bundesverfassungsgericht 2023 in einem Urteil über automatisierte Polizeidatenanalysen detaillierte rechtliche Vorgaben machte. Seither müssen hohe quantitative und qualitative Grenzen eingehalten werden, was die Menge und Art der Daten angeht, die mit solcher Software verarbeitet werden darf.

Begründet wird die Notwendigkeit der Analyseplattform vor allem mit dem Magdeburg-Attentat auf dem Weihnachtsmarkt im Dezember 2024. Seit dem 22. Januar untersucht der Landtag mit einem Untersuchungsausschuss das Sicherheitskonzept des Weihnachtsmarkts und die Missachtung zahlreicher Hinweise, die der Tatverdächtige in vielen Behörden selbst hinterlassen hatte.

Palantir oder doch nicht?

Sachsen-Anhalt hatte 2024 gegenüber netzpolitik.org noch betont, in Sachen Palantir „keine Vorhaben“ zu planen. Ein Jahr später ließ die langjährige Innenministerin Tamara Zieschang nach einer schriftlichen Anfrage von netzpolitik.org im April 2025 mitteilen, dass sich das Bundesland für eine „interimsweise Bereitstellung einer zentral betriebenen, digital souveränen, wirtschaftlich tragbaren und rechtlich zulässigen automatisierten Datenanalyseplattform durch den Bund“ einsetzen würde. Das sei aber „unabhängig von einem konkreten Produkt“. Einen ausdrücklichen Ausschluss Palantirs gab es nicht.

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Die Fraktionsvorsitzende und Linken-Abgeordnete Eva von Angern aus Sachsen-Anhalt. - CC-BY-SA 3.0 Ailura

Nun beantwortete die Landesregierung eine parlamentarische Anfrage (pdf) der Linken im Landtag. Darin war auch nach „Bundes-VeRA“ gefragt worden. Das ist der Behördenname für die Palantir-Software in der Version für die Bundesbehörden: verfahrensübergreifende Recherche- und Analyseplattform.

Die Abgeordneten der Linken Eva von Angern und Andreas Henke wollten etwa wissen, ob die Landesregierung Schlüsse daraus gezogen hätte, dass „Bundes-VeRA“ von der damaligen Bundesregierung gestoppt worden war. Im Sommer 2023 kam die geplante Einführung von Palantirs „Bundes-VeRA“ zum Erliegen, weil dem „Ziele des P20-Programms“ entgegenstünden: nämlich „die hersteller­unabhängige Anwendungsbereitstellung und der Betrieb von polizeilichen Funktionalitäten mit hoher Autonomie und flexibler Erweiterung und Anpassung“, wie die Linke schreibt. Die damalige Innenministerin Nancy Faeser hatte Palantir für Bundesbehörden 2023 eine Absage erteilt.

Das angesprochene P20-Programm steht für „Polizei 20/20“. Das Bundesinnenministerium hatte damit den Plan verfolgt, die polizeiliche Infrastruktur zu modernisieren und dabei den Austausch von Informationen zwischen Bund und Ländern zu erleichtern. Die dazu von den Innenministern in Bund und Ländern schon 2016 angestoßene Saarbrücker Agenda für eine gemeinsame und einheitliche Informationsarchitektur ist allerdings auch nach fast einem Jahrzehnt nicht vollständig umgesetzt.

Die Antwort der Landesregierung auf die Frage nach den Konsequenzen fällt schmallippig aus: Die „Schlussfolgerungen“ der Landesregierung seien mit einer sachsen-anhaltinischen Bundesratsinitiative, gemeinsam mit dem Freistaat und Palantir-Vertragspartner Bayern, gezogen worden. Der Bundesrat hatte aufgrund dieser Initiative am 21. März 2025 für eine „rechtssichere Implementierung eines gemeinsamen Datenhauses für die Informationsverarbeitung der Polizeien des Bundes und der Länder“ votiert sowie eine „interimsweise zeitnahe Bereitstellung einer gemeinsam betriebenen automatisierten Datenanalyseplattform“ beschlossen.

Keine Palantir-Konkurrenz in Sicht

Ob tatsächlich „interimsweise“ auf Palantir gesetzt wird, bleibt unbestätigt. Der MDR spricht davon, dass ungenannte Experten davon ausgehen würden, dass das Vorhaben nur mit der Software möglich sei. Der Name des US-Konzerns wird in der Antwort der Landesregierung aber tunlichst vermieden.

Man fordere eine „gemeinsam finanzierte, zentral zu betreibende, rechtlich zulässige und digital souveräne Interimslösung“, schreibt die Landesregierung. Damit dürfte eigentlich Palantir als automatisierte Datenanalyseplattform wegfallen, denn selbst bei minimaler Auslegung von „digital souverän“ kann die proprietäre und intransparente Softwarelösung des US-Konzerns wohl nicht akzeptabel sein. Denn technisch nachzuvollziehen, was durch die Software intern wie verarbeitet und analysiert wurde, bleibt für die nutzenden Behörden unmöglich. Daraus macht Palantir ein ganz unsouveränes Geheimnis.

„Auf keinen Fall Palantir“

Eva von Angern, Fraktionsvorsitzende und auch Mitglied im Untersuchungsausschuss zum Magdeburg-Attentat, sagt gegenüber netzpolitik.org: „Unsere Anfrage im Landtag zeigt deutlich, dass die Landesregierung widersprüchlich agiert in Bezug auf eine kommende Anwendung von Palantir.“ Das Land plane eine eigene Lösung für Sachsen-Anhalt, „obwohl bereits auf Bundesebene ein gemeinsames Vorgehen der Innenministerien angekündigt wurde“.

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff hatte nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt im Februar 2025 im Bundesrat an die Bundesregierung appelliert, den „begonnenen Aufbau des gemeinsamen Datenhauses weiter mit höchster Priorität voranzutreiben“. Hierzu zähle, „die bereits im Jahr 2023 geplanten Aktivitäten einer Interimslösung für eine automatisierte Datenanalyseplattform erneut aufzunehmen und zeitnah bereitzustellen“. Das deutet darauf, dass sich Haseloff auf Palantir bezog. Denn es steht gar nichts anderes zeitnah zur Verfügung.

Die Opposition stellt sich dagegen. Palantir sei eine Software, betont von Angern, die „den Datenschutz übergeht und massenhaft Eingriffe in die persönlichen Privatsphäre vorsieht“. Das müsse unbedingt verhindert werden. „Auf keinen Fall Palantir“, sagt auch Sebastian Striegel, Innenpolitiker der Grünen in Sachsen-Anhalt gegenüber dem MDR.

Palantir

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Zudem ist die Frage, ob sie „rechtlich zulässig“ ist, ebenfalls streitig. Ohne Frage ist die geplante automatisierte Datenanalyse äußerst grundrechtssensibel. Denn das Verarbeiten von Massendaten auch von Unbescholtenen auf Knopfdruck kann Teil der Analyse sein, etwa mit Daten aus Funkzellenabfragen oder durch die vielen personenbezogenen Datenhäppchen aus den verschiedenen Polizeidatensammlungen. Es liegen außerdem noch mehrere Verfassungsbeschwerden gegen Regelungen in Polizeigesetzen von bisherigen Palantir-Nutzerländern vor, deren Ausgang ungewiss ist. Die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern sind derzeit Palantir-Kunden.

Wohl auch wegen der rechtlichen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts fragen die Linken die Landesregierung ganz konkret, welche Daten in der Plattform verarbeitet und auf welche Datenbanken sie automatisiert Zugriff nehmen soll. Die Antwort ist allerdings wenig aussagekräftig, denn sie verweist nur darauf, was „grundsätzlich möglich“ wäre, nämlich insbesondere „Daten aus den polizeilichen Informationssystemen sowie Vorgangsdaten und Falldaten“ zusammenzuführen und zu analysieren. Genaueres bleibt die Landesregierung schuldig.

„Interimsweise“ ist kaum möglich

Linken-Fraktionsvorsitzende von Angern positioniert sich gegenüber netzpolitik.org klar gegen das Vorhaben der Landesregierung: „Palantir soll Daten aus verschiedensten Datenbanken wie Gesundheitsdaten, Ordnungsamt, Polizei“ zusammenführen, „ohne dass die Menschen darüber mitentscheiden können oder sich was zu Schulden haben kommen lassen“. Sie sei gegen „gläserne Bürger“.

Sie betont außerdem, dass der Anlass des Gesetzes „nicht stichhaltig“ sei: „Die Innenministerin schiebt den Magdeburg-Anschlag vor, obwohl genug Wissen über das Handeln des späteren Attentäters vorlag. Die Innenministerin will damit die eigenen Defizite verhüllen.“ Zieschang könne nicht ein neues Instrument etablieren, „dass am Ende womöglich als rechtswidrig eingestuft wird“.

Wenn nun tatsächlich „interimsweise“ auf Palantir gesetzt wird, dann ist der Sack mit hoher Wahrscheinlichkeit für viele Jahre zu. Denn es dürfte Millionen Euro kosten, die Software zu lizenzieren, zu implementieren, die Daten einzupflegen und die Menschen zu schulen, die am Nutzer-Interface klicken werden.

Wer glaubt, dass ein solches einmal im Wirkbetrieb befindliches Palantir-System nach wenigen Jahren durch eine „digital souveräne“ Lösung ersetzt wird, der muss nur nach Nordrhein-Westfalen schauen. Dort sind aus einstigen Palantir-Testern nach vielen Jahren längst Abhängige geworden.


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23.06.2025 16:12

In einem Handbuch geben Wissenschaftler*innen aus den USA und Europa Ratschläge, wie sich Menschen im akademischen Betrieb gegen aufkeimenden Autoritarismus stemmen können – abgestuft nach Risiko-Level. Das ist nicht nur für Forschende lesenswert.

Illustration im Bauhaus-Stil. Personen lesen ein Handbuch; im Hintergrund Werkzeuge.
Werkzeuge (Symbolbild) – Public Domain DALL-E-3 („men and women reading a book, holding tools like a screwdriver and a folding rule behind their backs, bauhaus style reduced minimalist geometric shape“)

„Du bist nicht alleine.“ Das ist einer der zentralen Sätze im Anti-Autokratie-Handbuch, das 19 Forscher*innen aus den USA und Europa nun gemeinsam veröffentlicht haben. Vor dem Hintergrund bedrohter Demokratien, insbesondere in den USA, haben sie 26 praktische Ratschläge gesammelt, wie Interessierte ihre Ohnmacht überwinden und sich geschickt verhalten können.

Das Handbuch richtet sich primär an Menschen aus Forschung und Wissenschaft. Einige Tipps sind allerdings so allgemein, dass sie auch auf viele andere zutreffen, unabhängig von ihrem Beruf. Lesenswert ist ebenfalls die pointierte Analyse, wie sich anti-demokratische Kräfte derzeit ausbreiten.

Messerscharfe Diagnose bedrohter Demokratie

Auf wenigen Seiten zeichnet das Handbuch ein messerscharfes Bild vom aktuellen Zustand der Demokratie. Die Autor*innen zählen 91 Demokratien und 88 Autokratien auf der Welt. Seit 2003 sei der Anteil der Weltbevölkerung, die in Autokratien leben muss, von 50 Prozent auf 72 Prozent gestiegen.

Die typische Vorgehensweise von Autokratien brechen die Autor*innen auf drei Elemente herunter:

  1. Populismus, der vorgibt, das vermeintliche Volk gegen vermeintliche Eliten zu verteidigen
  2. Polarisierung, die versucht, die Bevölkerung zu spalten
  3. Post-Wahrheit, die Verwirrung über grundlegende Fakten sät

Wissenschaft und Forschung geraten dabei zunehmend unter Druck, wie das Handbuch darlegt. Das Spektrum reiche vom Entzug von Forschungsgeldern über Zensur einzelner Forschungsvorhaben bis hin zum Verbot ganzer Disziplinen.

Mit welcher Effizienz derzeit die Trump-Regierung die Demokratie aushebelt, zeigt ein detailliertes Diagramm. Es benennt mehrere Dutzend konkrete Angriffe auf Sphären der demokratischen Gesellschaft, allein in den ersten drei Monaten von Donald Trumps zweiter Amtszeit. Die Angriffe betreffen etwa die Institutionen des Rechtsstaats, Informationskontrolle oder die globale Friedensordnung.

Wie reagieren Menschen darauf, wenn ihre Demokratie angegriffen wird? Auch hier spart sich das Handbuch differenzierte Ausführungen und legt stattdessen pointierte Antworten vor – in Form von insgesamt 14 typischen Verhaltensstrategien. Das Spektrum reicht von Menschen, die die Autokratie als Karriere-Chance ausnutzen, über stille Mitläufer*innen bis hin zu offenem Widerstand.

„Autokratien halten nicht ewig“

Nach den eher düsteren Diagnosen richten die Autor*innen in der zweiten Hälfte des Handbuchs den Blick nach vorne und machen Mut. „Autokratien halten nicht ewig“, betonen sie.

Zum Beleg verweisen sie auf eine Analyse von 323 regierungskritischen Massenbewegungen zwischen 1900 und 2006. Demnach seien die meisten Bewegungen erfolgreich gewesen, wenn sie mindestens 3,5 Prozent der Bevölkerung mobilisieren konnten. Zudem hätten die meisten erfolgreichen Bewegungen zur Gewaltfreiheit geneigt.

Ein kleiner Prozentteil der Bevölkerung und keine Gewalt: Ohne Zweifel soll diese Perspektive vor allem motivieren. Es wäre allzu holzschnittartig, daraus eine allgemeine Regel für Demokratie-Bewegungen der Zukunft abzuleiten. Darauf weisen die auch Autor*innen selbst hin: „Obwohl es Ausnahmen von dieser ‚3,5-Prozent-Regel‘ gibt, stellt sie einen ermutigenden Richtwert dar.“

Was also tun, damit eine kritische Masse zusammenkommt? Eine entscheidende Mindestmenge an Menschen, die eine autoritäre Wende wieder umkehren kann? Das führen die Autor*innen in 26 Ratschlägen aus, aufgefächert nach persönlichem Risiko.

15 Ratschläge mit geringem Risiko

Die ersten 10 Ratschläge sind sehr grundlegend. Die Autor*innen legen sie allen Interessierten ans Herz, unabhängig von ihrem persönlichen Risiko-Level. Es beginnt mit der Empfehlung, sich um das eigene Wohlergehen zu sorgen und um das der Menschen im eigenen Umfeld. Ausruhen gegen den Faschismus – damit man langfristig die Kraft für mehr hat. Denn Angst und Stress, schreiben die Autor*innen, seien nicht nur persönliche Reaktionen auf eine Krise; vielmehr würden Autokratien so etwas systematisch befeuern.

Zwei weitere grundlegende Ratschläge kreisen um Technologie: Es geht etwa um Ende-zu-Verschlüsselung, datenschutzfreundliche Software und geschützte Datenträger. Kurzum, die Autor*innen raten dazu, sich gegen staatliche Überwachung und gewaltsamen Zugriff auf private Daten zu wappnen. Ausführliche Tipps hierzu liefert unsere Reihe zu digitaler Selbstverteidigung.

Außerdem warnen die Autor*innen vor autokratischen Ablenkungsmanövern durch die Umdeutung von Sprache. „Wenn eine prominente Person einen Hitlergruß macht, ist das… ein Hitlergruß und keine ‚eigenartige Handgeste'“, betonen die Autor*innen mit Blick auf den Hitlergruß durch den Multi-Milliardär und ehemaligen Trump-Jünger Elon Musk.

Es folgen fünf Ratschläge, die die Autor*innen zumindest in Demokratien als risikoarm einstufen. Wer sich engagieren will, kann sich demnach in Form von Gastbeiträgen in den öffentlichen Diskurs einmischen und Briefe an Abgeordnete schreiben. Im direkten Kontakt mit Jugendlichen können Menschen einen Kontrapunkt setzen zu den typischen Versuchen autoritärer Kräfte, gerade junge Generationen zu radikalisieren.

11 riskantere Ratschläge – von „mittel“ bis „extrem“

Nach den risikoarmen Ratschlägen wird es brisanter. Wer bereits in einer Autokratie lebt, kann dem Handbuch bis zu elf weitere Ratschläge entnehmen, je nach persönlichem Risiko-Level. Menschen, die ihr Risiko als „mittel“ einschätzen, können beispielsweise Belege für Grundrechtsverletzungen sammeln, die Autokratien lieber unter den Teppich kehren wollen. Die Autor*innen schreiben:

Wenn Akten verschwinden, dokumentiere das. Wenn Beamt*innen anscheinend Gesetze verletzen, dokumentiere das. Teile Informationen mit verlässlichen Journalist*innen, Jurist*innen oder unabhängigen Beobachter*innen.

Selbst staatlich zensierte Forschung lässt sich im Verborgenen fortsetzen, wie die Autor*innen darlegen, etwa indem man vordergründig unverfängliche Arbeiten veröffentlicht, pikante Themen jedoch unter Pseudonym weiterverfolgt.

Wer das eigene Risiko als hoch oder gar extrem hoch einschätzt, ist zum eigenen Schutz auf Diskretion angewiesen. Dennoch können Betroffene Dinge tun, ohne sich still zurückziehen zu müssen, wie die Autor*innen schreiben. Zum Beispiel: ineffizient arbeiten.

Wenn von einem etwas verlangt wird, das sich falsch anfühlt, könne man etwa Rückfragen stellen und auf Widersprüche im Auftrag hinweisen, so die Autor*innen. Danach könne man die Umsetzung zumindest verzögern. Bereits solche Anzeichen von Widerstand könnten andere anstecken und einen „Domino-Effekt des Ungehorsams“ anstoßen. „Gerade wenn Angst und Anpassung weit verbreitet sind, zählen diese kleinen Schritte sehr viel“, schreiben die Autor*innen.

Wiki mit weiteren Ratschlägen eröffnet

Diese Strategie der Verzögerung hat Tradition und erst im Frühjahr ein Revival erlebt: Passend zur rechtsradikalen Machtübernahme in den USA stiegen die Downloadzahlen eines Leitfadens aus dem Jahr 1944. Im „Simple Sabotage Field Manual“ erklärte ein US-Geheimdienst Menschen im Nationalsozialismus Methoden des passiven Widerstands, unter anderem: „Tun Sie so, als wären Anweisungen schwer zu verstehen, und bitten Sie darum, dass man sie Ihnen mehrfach wiederholt.“ Nun findet der Leitfaden von 1944 ausgerechnet in seinem Ursprungsland neue Fans.

Die Autor*innen des neuen Anti-Autokratie-Handbuchs sehen ihre Arbeit als Anfang für mehr. Im begleitenden Wiki SaveScience.eu sollen Freiwillige künftig Stück für Stück weitere Ressourcen und Anregungen ergänzen. Schon jetzt online ist ein Tutorial, wie bedrohte Wissenschaftler*innen notfalls anonym ihre Erlebnisse mit der Öffentlichkeit teilen können sowie Tipps zum Umgang mit Stress und psychischem Druck.


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23.06.2025 15:00

Die schwarz-rote Koalition im Land Berlin setzt ihre „Law & Order“-Politik weiter fort. Nun sollen Videoüberwachung und der Einsatz von Staatstrojanern bei der Polizei ausgeweitet werden.

Polizisten mit Helmen, in denen sich Blaulicht spiegelt.
Polizisten beim 1. Mai in Berlin. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / A. Friedrichs

CDU und SPD wollen die Polizei im Land Berlin mit mehr Befugnissen ausstatten. Nach Informationen des RBB haben sich die Koalitionäre am vergangenen Wochenende auf eine Novelle des Berliner Polizeigesetzes geeinigt. Die Verschärfung des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) steht in einer Reihe mit zahlreichen Maßnahmen, mit denen in der Hauptstadt mehr Überwachung eingeführt und Grundrechte abgebaut werden sollen.

Laut dem RBB-Bericht soll das neue Polizeigesetz an verschiedenen Punkten mehr Überwachung bringen. So will die Koalition Videoüberwachung an sogenannten kriminalitätsbelasteten Orten, zu denen in Berlin auch Parks gehören werden, dauerhaft legalisieren. Zusätzlich zu dieser Form der Überwachung soll in Zukunft auch die automatische Erkennung von Verhaltensmustern mittels „Künstlicher Intelligenz“ erlaubt werden. Bei den Berliner Verkehrsbetrieben sollen Aufnahmen aus der Videoüberwachung in Zukunft 72 statt 48 Stunden aufgehoben werden dürfen.

Bei der Telekommunikationsüberwachung soll die Nutzung von Staatstrojanern durch die Polizei ausgeweitet werden. Der verstärkte Einsatz der Hacking-Tools, mit denen Behörden heimlich IT-Geräte wie Smartphones infiltrieren und überwachen können, hatte sich schon im Koalitionsvertrag angekündigt. Bereits seit 2017 darf jede Polizei in Deutschland Staatstrojaner wie eine normale Telefonüberwachung einsetzen. In der Novelle geht es nun darum, dass die Polizei die Hacking-Werkzeuge bereits zur Abwehr von Straftaten nutzen soll – also schon, bevor eine Straftat begangen wurde.

Kritik daran kommt aus der Opposition von Linken und Grünen. „Statt die Alltagsnöte der Polizei zu adressieren, werden mit der Novelle neue Befugnisse und Aufgaben geschaffen, die vor allem Sicherheit simulieren“, sagte der Grünen-Innenpolitiker Vasili Franco gegenüber dem RBB. Linken-Innenpolitiker Niklas Schrader wirft der Koalition laut dem Bericht vor, dass sie „jegliches Maß beim Schutz der Grundrechte verloren“ habe.

Grundrechtseinschränkungen in verschiedenen Bereichen

Zuletzt hatte die Berliner Koalition auch die Einführung des Staatstrojaners für den Landesverfassungsschutz auf den Weg gebracht und insgesamt bei der Novelle des Berliner Landesverfassungsschutzgesetzes Transparenz und Kontrolle zurückgefahren sowie die Befugnisse des Inlandsgeheimdienstes ausgebaut.

Auch an das Versammlungsrecht will die mittlerweile in der Wählergunst stark abgesackte Koalition ran. CDU und SPD haten sich eine Evaluation des bisher liberalen Berliner Versammlungsfreiheitsgesetzes in den Koalitionsvertrag geschrieben. Dies ist nun der Türöffner für mögliche Einschränkungen. Erklärtermaßen will die Koalition die „öffentliche Ordnung“ wieder als Grund ins Versammlungsgesetz aufnehmen, auf Basis dessen sich Demonstrationen einschränken lassen. Vertreter:innen der Koalition fordern, das „Versammlungsrecht so restriktiv ausgestalten, wie es das Grundgesetz zulässt“.


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23.06.2025 13:25

Die Innen- und Gesundheitsminister:innen haben auf ihren letzten Konferenzen über den Umgang mit psychisch erkrankten Personen beraten. Doch Ideen wie ein „integriertes Risikomanagement“ oder Datenaustausch zwischen Gesundheitsbehörden und Polizeien treiben Stigmatisierung voran und behindern angemessene Hilfe.

Bild eines Gehirns wie durch eine Mosaik-Scheibe betrachtet.
Das Vertrauen durch die Schweigepflicht ist wichtig, damit psychisch erkrankte Personen sich Hilfe suchen können. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Shubham Dhage

Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, brauchen Hilfe. Doch auf dem Weg zu angemessener Unterstützung gibt es viele Hürden: Hilfesuchende müssen teils mehrere Monate warten, bis sie einen ambulanten Psychotherapieplatz bekommen, in ländlichen Gebieten bis zu einem Jahr. Noch immer hält die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen viele davon ab, sich überhaupt in Behandlung zu begeben.

Diese Angst vor Stigmatisierung wird nun weiter genährt durch die Innenminister:innen von Bund und Ländern, die auf ihrer Konferenz im Juni psychische Erkrankungen vor allem als sicherheitsbehördliches Thema und nicht als Problem der Gesundheitsversorgung dargestellt haben.

Datenaustausch mit der Polizei zu psychischen Erkrankungen

In einem der Beschlüsse der Innenministerkonferenz fordern die Minister:innen ein „integriertes Risikomanagement“ bei Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es geht dabei um das Risiko, dass psychisch erkrankte Personen Straf- und insbesondere Gewalttaten begehen könnten. Um dem zu begegnen, wollen die Innenminister:innen mehr Datenaustausch, an dem sich Gesundheits-, Sicherheits-, Justiz- und Ausländerbehörden beteiligen sollen.

„Bei einem identifizierten Gefährdungspotenzial muss ein gemeinsames integriertes Fallmanagement einsetzen, mit dem Ziel, alle gesundheitsbehördlichen und polizeilichen sowie ggf. aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten zum Schutz anderer Menschen vor diesem Risiko auszuschöpfen“, heißt es im Beschluss.

Ähnlich klingt eine Entschließung der Gesundheitsminister:innen von Bund und Ländern, die ebenfalls im Juni tagten. Sie wollen denn „Austausch von Gesundheitsdaten und den Erkenntnissen der Gefahrenabwehrbehörden unter datenschutzrechtlichen Vorgaben“ prüfen.

Stigmatisierung statt Hilfe

Beide Beschlüsse stehen unter dem Eindruck mehrerer bundesweit diskutierter Gewalttaten der vergangenen Monate. Im Mai griff eine Frau am Hamburger Hauptbahnhof Menschen mit einem Messer an, sie war erst einen Tag zuvor aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden. Im vergangenen Dezember fuhr ein Mann mit einem Auto in den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Bei der Amokfahrt tötete und verletzte er mehrere Menschen. Zuvor war er wiederholt wegen wahnhafter Äußerungen aufgefallen und bereits wegen der Androhung von Straftaten verurteilt worden.

Nach der Tat im Dezember hatte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ein Register für psychisch erkrankte Gewalttäter gefordert. Mehrere Psychiater:innen und Psychotherapeut:innen hatten damals die Forderungen vehement abgelehnt. Sie forderten eine bessere und niedrigschwelligere Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen statt weiterer Stigmatisierung. Außerdem wiesen sie darauf hin, dass nur selten ein direkter Zusammenhang zwischen einer psychischen Erkrankung und einer Gewalttat bestünde.

Dieser Einwand wird durch wissenschaftliche Untersuchungen gestützt. In einer Übersichtsarbeit schrieb die kanadische Sozialepidemiologin Heather Stuart, die zur Stigmatisierung psychischer Erkrankungen forscht: „Psychische Störungen sind weder notwendige noch hinreichende Ursachen für Gewalt.“ Viel relevanter für das Risiko, eine Gewalttat zu begehen, seien soziodemografische und sozioökonomische Faktoren wie Jugend, Männlichkeit und ein niedriger sozioökonomischer Status.“ Der Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und Gewalttaten sei in der öffentlichen Wahrnehmung überschätzt.

„Prävention gelingt durch Hilfe, nicht durch Verdacht“

Das kritisiert auch Elisabeth Dallüge. Sie ist Mitglied des Bundesvorstandes der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung. Der Berufsverband sehe den Beschluss der Innenministerkonferenz „mit großer Sorge“, schreibt sie gegenüber netzpolitik.org: „Auch wenn er sich formal auf eine kleine Risikogruppe bezieht, verfestigt er strukturell den Eindruck, psychische Erkrankungen seien ein isoliertes Sicherheitsrisiko – das befördert Stigmatisierung und behindert Versorgung.“ Der geplante Austausch von Gesundheitsdaten zwischen verschiedenen Behörden stelle die Schweigepflicht infrage und gefährde „das Vertrauensverhältnis, das für jede Behandlung essenziell ist.“

Nach Meinung der PsychotherapeutenVereinigung brauche es keine Kontrolle, sondern eine „konsequent ausfinanzierte, multiprofessionelle Versorgung – mit spezialisierten Ambulanzen, klarer Verantwortung im Gesundheitswesen und einer gesetzlichen Einbindung psychotherapeutischer Expertise“.

Andere Vorschläge der Innenministerkonferenz gingen in eine richtige Richtung, etwa ein Reformvorschlag zu den Psychisch-Kranken-Gesetzen der Länder. Dort soll geprüft werden, wie unterhalb der Schwelle einer Zwangsunterbringungen etwa verpflichtende Therapieauflagen oder eine überprüfte Medikamenteneinnahme umgesetzt werden könnten. Das könne sinnvoll sein, schreibt Dallüge – „vorausgesetzt, die Maßnahmen erfolgen im Rahmen eines gestuften, therapeutisch begleiteten Nachsorgekonzepts.“

Die Psychotherapeutin Dallüge, die selbst Erfahrungen in der Arbeit im Maßregelvollzug hat, fasst zusammen: „Prävention gelingt durch Hilfe, nicht durch Verdacht.“

Gewaltrisiko kann durch Angst vor Stigmatisierung steigen

Die Fachgesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) hat ein Positionspapier verfasst, das zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Die Präsidentin der Gesellschaft, Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, sagt dazu: „Wir brauchen keine neuen gesetzlichen Regelungen oder Konstrukte – wir müssen die bestehenden Möglichkeiten besser anwenden. Register oder die Weitergabe von medizinischen Daten an Behörden mindern das Gewaltrisiko nicht.“ Stattdessen könne das Risiko für Gewalttaten steigen, „wenn die Furcht vor Stigmatisierung dazu führt, dass Betroffene nicht zum Arzt gehen oder sich erst spät behandeln lassen“, so die Neurologin und Psychiaterin.

Welche Daten genau ausgetauscht werden sollen, wie ein Risikopotenzial ermittelt werden kann und welche Gesetze in Bund und Ländern dafür geändert werden müssen, konkretisieren weder Gesundheits- noch Innenminister:innen. Müssen Menschen, die sich etwa wegen Wahnideen ärztliche Hilfe suchen, nun Angst haben, dass Informationen zu ihren Symptomen bei der Polizei landen? Der Arbeitskreis „Früherkennung und Bedrohungsmanagement“ soll bis zur Herbstsitzung der Innenminister:innen die Vorschläge zu Datenaustausch und Risikoerkennung weiter ausarbeiten.


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21.06.2025 08:01

Die 25. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 18 neue Texte mit insgesamt 129.462 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

– Fraktal, generiert mit MandelBrowser von Tomasz Śmigielski

Liebe Leser:innen,

netzpolitik.org wirkt! Diesen Satz schreiben wir häufig, wenn unsere Arbeit zu greifbaren Ergebnissen führt. Es ist ein Satz, den wir gerne schreiben. Wir wollen mit unserem Journalismus nicht nur aufklären, aufdecken und anprangern, sondern auch Verbesserungen bewirken. Gerade weil sich unsere Arbeit manchmal wie ein Kampf gegen übermächtige Gegner anfühlt, habe ich mich in dieser Woche über zwei Erfolgsmeldungen im Datenschutzbereich gefreut.

Nummer eins: Die Berliner Datenschutzbehörde stattete einer Werbe- und Datenbude einen Besuch ab, deren Geschäft wir 2023 mit unserer Xandr-Recherche in den Fokus rückten. Die Firma analysiert die Aufenthaltsorte von Menschen, um daraus vermarktbares Wissen für Werbekund:innen zu generieren. Und sie ermöglichte offenbar Werbebetreibenden das Targeting mit so charmanten Kategorien wie „Fragile Senioren“ oder „Familien in Schwierigkeiten“.

Wie die Datenschutzbehörde bei ihrer Vor-Ort-Kontrolle feststellte, fehlten dazu in vielen Fälle gültige Einwilligungen. Auf das Problem weisen wir bei netzpolitik.org immer wieder hin: Die Einwilligung, die Bürger:innen eigentlich informationelle Selbstbestimmung ermöglichen sollte, ist zum Datenschutz-Feigenblatt verkommen. Jetzt gibt es endlich Konsequenzen. Erstmal nur für eine Firma, irgendwann wird das Problem hoffentlich auch politisch angegangen.

Mit Beharrlichkeit machen wir Fortschritte

Nummer zwei: Wetter Online kann jetzt Auskunftsanfragen nach der Datenschutzgrundverordnung beantworten und dabei Datenkopien herausgeben. Im Rahmen unserer Databroker-Files-Recherchen hatte ich bei der mehr als 100 Millionen mal heruntergeladenen Wetter-App eine solche Anfrage gestellt. Eine Kopie der mich betreffenden Daten wollte mir das Unternehmen nicht aushändigen – weil das zu aufwendig sei.

Ich hatte deshalb gemeinsam mit der Datenschutzorganisation noyb Beschwerde über Wetter Online bei der Datenschutzbeauftragten Nordrhein-Westfalen eingelegt. Und siehe da: Inzwischen habe ich eine Datenkopie erhalten. In Zukunft versucht das Unternehmen hoffentlich nicht mehr, Bürger:innen, die ihre Rechte einfordern, mit dem Verweis auf den Aufwand abzuwimmeln.

Auch hier ist das Ende der Geschichte noch nicht erreicht, denn die Auskunft lässt einige Fragen offen. Auch die große Frage ist noch nicht abschließend geklärt: Wie kann es eigentlich sein, dass genaueste Standortdaten von Nutzer:innen der App bei einem US-Datenhändler landeten und dann über einen Berliner Datenmarktplatz auch bei uns? Aber immerhin: Wenn wir lange genug Druck machen, dann tut sich etwas. Wir bleiben weiter dran.

Jetzt erst Recht: WhatsApp löschen

Falls ihr selbst ganz konkret etwas für mehr Datenschutz tun wollt und keine Lust auf den Ärger mit einer Datenauskunft habt, dann hat Meta euch in dieser Woche übrigens eine gute Gelegenheit serviert. Denn der Konzern, der im vergangenen Jahr 62 Milliarden US-Dollar Gewinn gemacht hat, bringt personalisierte Werbung in den Messenger WhatsApp.

Werbung bei WhatsApp – dieser Schritt war schon mehrfach angekündigt. Immer wieder vertagte Mark Zuckerberg die Einführung, vermutlich aus Sorge, dass ihm dann noch mehr Nutzer:innen davonlaufen. Dass er den Schritt nun geht, zeigt einmal mehr, dass er denkt, er kann alles mit seinen Nutzer:innen machen.

Deshalb empfehle ich als gute Tat der Woche: Löscht WhatsApp. Oder, falls ihr das nicht schon gemacht habt, teilt den Artikel meines Kollegen Sebastian mit Menschen, die immer noch bei WhatsApp sind. Er hat ein paar gute Argumente für den Abschied aufgeschrieben und gibt Tipps, wie man andere vom gemeinsamen Wechsel zu besseren Alternativen überzeugen kann.

Also: Lasst uns nicht aufgeben. Wir haben’s im wahrsten Sinne des Wortes manchmal selbst in der Hand, für Veränderung zu sorgen.

Euer Ingo


Offener Brief: Dobrindt soll Verschlüsselung schützen

Der neue Innenminister Alexander Dobrindt hat bislang keine Position zur umstrittenen Chatkontrolle bezogen, die sichere und private Kommunikation unmöglich machen würde. Digital- und Bürgerrechtsorganisationen appellieren nun an ihn, bei Deutschlands bisheriger Blockade im EU-Rat zu bleiben. Von Markus Reuter –
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Messenger-Update: Auf WhatsApp läuft künftig personalisierte Werbung

WhatsApp, die Messenger-App von Mark Zuckerbergs Meta, zeigt künftig personalisierte Werbung an. Die Anzeigen sollen auch auf Daten von Facebook und Instagram basieren. Die Datenschutzorganisation noyb kritisiert die Entscheidung. Von Martin Schwarzbeck –
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Nach unserer Berichterstattung: Datenschutzbehörde findet Verstöße bei Berliner Werbefirma

Die Berliner Datenschutzbehörde hat bei einer Werbe- und Datenfirma erhebliche Rechtsverstöße festgestellt. Nach Informationen von netzpolitik.org handelt es sich bei dem Unternehmen um Adsquare, dessen mutmaßliche Datenschutzverletzungen 2023 durch unsere Recherchen aufgedeckt wurden. Von Ingo Dachwitz –
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US-Verfassungsrechtler Anthony Kreis: Trump setzt auf „strategisches Chaos“

Der US-Präsident will immer mehr wie ein König regieren. Das wollen sich weite Teile des Landes nicht gefallen lassen. Sie reagieren mit Widerstand gegen seine autoritäre Politik. Wir haben den US-Verfassungsrechtler Anthony Kreis zum Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten befragt. Von Markus Reuter, Tomas Rudl –
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Constitutional law professor Anthony Kreis: Trump wants ‘strategic chaos’ to dismantle institutions

U.S. President Donald Trump is increasingly behaving like a monarch. But across the United States, resistance is growing. We spoke with constitutional law professor Anthony Michael Kreis about the state of American democracy and whether it can withstand the pressure. Von Markus Reuter, Tomas Rudl –
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Bitte keine Werbung: Lass uns jetzt gemeinsam WhatsApp verlassen

WhatsApp bricht ein jahreslanges Versprechen. Der weltgrößte Messenger bekommt Werbung. Und das ist nur einer von vielen guten Gründen gegen WhatsApp. Schicke diesen Artikel an deine Kontakte, um gemeinsam zu einem besseren Messenger zu wechseln. Von Sebastian Meineck –
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Polizei und Gesichtserkennung: Damit müssen Menschen auf der Pride in Budapest rechnen

In Budapest kämpfen die Veranstalter*innen für die alljährliche Pride-Parade. Sie wollen trotz Verbot durch die Innenstadt ziehen. Die Regierung droht Teilnehmer*innen mit Gesichtserkennung und Strafen. Wie funktioniert das System, mit dem Viktor Orbán queere Menschen einschüchtern will? Von Chris Köver –
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Proteste in Serbien: Neue Untersuchung geht von Schall-Angriff auf Demonstration aus

Ein bislang unbekannter Effekt hatte im März eine Großdemonstration in Belgrad in der Mitte geteilt und weltweit für Aufsehen und Empörung gesorgt. Eine neue Untersuchung hält es für wahrscheinlich, dass eine gerichtete Schallwaffe vom Typ LRAD gegen Demonstrierende eingesetzt wurde. Von Markus Reuter –
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Digitale Dekade: EU-Kommission kritisiert schleppende Digitalisierung

Am Ende des Jahrzehnts sollen EU-weit Glasfasern verlegt und viele Behördengänge digital möglich sein. In Deutschland geht es der EU-Kommission nicht schnell genug. Der diesjährige Zwischenbericht zur „Digitalen Dekade“ zeigt auf, wie wir hierzulande noch immer hinterherhinken. Von Christoph Bock –
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CSAM: Ministerien verrühren „Löschen statt Sperren“ mit Vorratsdatenspeicherung

Pädokriminelle Inhalte werden weiterhin schnell von Servern gelöscht, wenn denn die Polizei diese bei den Providern meldet. Doch statt sich eingehender mit dieser Erfolgsstatistik zu befassen, fordern die zuständigen Ministerien, mehr anlasslose Massenüberwachung einzuführen. Von Markus Reuter –
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Staatstrojaner und Registrierungspflicht: Was die Regierung in Österreich plant

Nach dem Amoklauf in Graz hat die österreichische Regierung sich auf einen Gesetzentwurf für Staatstrojaner geeinigt. Außerdem steht eine Registrierungspflicht für soziale Medien im Raum. Bürgerrechtsorganisationen fürchten, dass Grundrechte verletzt werden. Von Anna Biselli –
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Berliner Datenschutzbehörde prüft: Immobilienplattform trainierte heimlich KI-Modell mit Kundenmails

Eine Berliner Immobilienplattform hat mit Nachrichten ihrer Kund*innen ein KI-Modell trainiert – ohne das offenzulegen. Die Berliner Datenschutzbehörde prüft den Fall. Der Marktführer ImmoScout24 setzt seit längerem auf KI und hat inzwischen seine Datenschutzerklärung angepasst. Von Chris Köver –
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Open Internet Stack: Die vagen Open-Source-Pläne der EU-Kommission

Ein internes Papier gibt Hinweise auf die EU-Politik für Open Source in den kommenden Jahren. Ein schon etabliertes Förderprogramm soll unter einem neuen Namen weiterlaufen, mit Fokus auf Kommerzialisierung. Die Kommission soll sich auch für mehr Open Source in der Verwaltung einsetzen – und über eine eigene Rechtsform nachdenken. Viele Fragen bleiben offen. Von Maximilian Henning –
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Open Internet Stack: The EU Commission’s vague plans for open source

An internal paper gives some clues about the EU Commission’s plans for open source policy in the future. An existing funding programme will continue under a new name and re-focus on commercial value. The document calls on the Commission to support open source in public administrations – and think about a new legal form. Many questions remain open. Von Maximilian Henning –
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Klarnamenpflicht: Wir alle brauchen anonyme Orte im Netz

Die Forderung nach einer Klarnamenpflicht im Netz hat wieder Konjunktur. Dabei ist sie brandgefährlich für gleich mehrere Grundrechte. In einer Demokratie brauchen wir Orte, an denen wir wirklich frei kommunizieren können. Ein Kommentar. Von Markus Reuter –
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Moderation gone wild: Instagram sperrt Accounts politischer Organisationen

Zahlreiche Kreisverbände der Grünen Jugend, der Linken sowie die Partei der Humanisten haben den Zugang zu ihren Instagram-Accounts verloren. Die Betroffenen können sich nicht erklären, warum. Der Versuch der Aufklärung ist eine kafkaeske Mission. Von Martin Schwarzbeck –
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Databroker Files: Wetter Online lässt Daten tröpfeln

Wir haben Post von Wetter Online: endlich. Nach einer Beschwerde und vielen Monaten Verzögerung soll nun eine Tabelle Auskunft darüber geben, welche Standortdaten zu einem Redakteur aus dem Recherche-Team vorliegen. Doch das Dokument lässt Fragen offen. Von Ingo Dachwitz, Sebastian Meineck –
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Repaircafés: Das ist doch noch gut!

In Repaircafés reparieren Ehrenamtliche defekte Dinge. Sie basteln damit an einer Alternative zur Wegwerfgesellschaft. Aber Repaircafés sind auch soziale Treffpunkte. Ein Besuch zeigt, wie der Wunsch, Müll zu vermeiden, Menschen zusammenführen kann. Von Lilly Pursch, Martin Schwarzbeck –
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21.06.2025 08:00

In Repaircafés reparieren Ehrenamtliche defekte Dinge. Sie basteln damit an einer Alternative zur Wegwerfgesellschaft. Aber Repaircafés sind auch soziale Treffpunkte. Ein Besuch zeigt, wie der Wunsch, Müll zu vermeiden, Menschen zusammenführen kann.

Zwei Männer beugen sich über ein technisches Gerät.
Bernd und Olaf sinnieren über die Reparatur eines Geräts zur Kniemobilisierung. – Alle Rechte vorbehalten netzpolitik.org

Christiane hat ein Problem. Sie hat sich für 550 Euro einen Apparat gekauft, der ihr frisch operiertes Knie mobilisieren soll. Doch das Gerät kam kaputt bei ihr an. Christiane hat es in ein Repaircafé in Berlin-Reinickendorf gebracht. Dreimal war sie damit schon vor Ort. Beim ersten Mal haben die freiwiligen Helfer ihr mitgeteilt, dass der Trafo durchgebrannt ist. Beim zweiten Mal, dass der inzwischen bestellte Ersatztrafo nicht passt. Beim dritten Besuch haben sie einen Alternativtrafo, der eigentlich zu groß war, mit einigen Mühen in das Gerät konstruiert.

„Die haben den zu dritt eingebaut und ich habe, weil ich so schmale Finger habe, geholfen, ihn festzuhalten“, sagt Christiane. Doch bevor die Helfer den Trafo an die Stromversorgung löten konnten, war die Sprechstunde des Repaircafés vorbei. Deshalb hat Christiane das Gerät noch einmal hergebracht. Heute soll das große Finale der Reparatur sein.

Reparieren liegt im Trend. Es ist ein Gegenprojekt zur Wegwerfgesellschaft. Gelebter Umweltschutz. Ein Versuch, den Kapitalismus zu zähmen und den Ressourcenverbrauch zu senken, indem man Dinge wieder nutzbar macht, die andere zu Müll erklären würden. Es ist ein Kampf gegen die Vergänglichkeit und Widerstand gegen den Druck, immer neue Generationen von Produkten anzuschaffen. Die Reparierer erklären mit ihrem Tun: Das ist doch noch gut.

Reparaturen von Staubsauger bis Zimmerspringbrunnen

Der Apparat, den Christiane gerne reparieren lassen will, ist etwa eineinhalb Meter lang und mit schwarzen Polstern bestückt. Eine motorisierte Schiene soll die Polster auf und ab bewegen. Das Gerät kostet neu tausende Euro. Christiane hat es gebraucht gekauft.

Ihre OP ist inzwischen fünf Monate her. Sie benötigt das Gerät eigentlich nicht mehr. „Aber meine Knie sind so kaputt, ich werde das in meinem Leben bestimmt noch öfter benutzen“, sagt sie.

Christiane war schon oft hier im Repaircafé. Die ehrenamtlichen Helfer kennt sie mit Vornamen. Sie hat hier schon unter anderem einen Staubsauger, einen Toaster, eine Armbanduhr und einen Zimmerspringbrunnen reparieren lassen.

Bernd, der Ingenieur

Nun soll Bernd, einer der ehrenamtlichen Reparierer, den Kniemobilisierer wieder an die Stromversorgung hängen. Bernd war früher Ingenieur. Er sieht nicht mehr so gut, aber führt dennoch den Lötkolben mit ruhiger Hand an die Kabelverbindungen. Danach streift er das Lötzinn mit dem Finger vom heißen Kolben ab.

„Jetzt müsste man das testen“, sagt er. „Du meinst, das sollte jetzt funktionieren? Das ging schnell!“, sagt Christiane. Bernd steckt das Netzkabel in die Steckdose, das Display geht an. Christiane zeigt, wo man die Behandlungsdauer und den Anstellwinkel einstellt.

Doch das Gerät bewegt sich nicht. Eigentlich sollte es jetzt laufen. Aber es passiert nichts. Stattdessen klingelt einen Tisch weiter eine Mikrowelle, als wäre sie fertig. Der Timer ist kaputt und eine weitere Gruppe von Reparierern testet ihn. Immer wieder schallt das Ping durch den Raum.

Eine Wende zeichnet sich ab

Die Industrie tut einiges dafür, Verbraucher*innen weiszumachen, dass Dinge veraltet sind und einen aktuellen Nachfolger brauchen. Sie preist mutmaßliche Verbesserungen an, die letztlich die Lebensdauer von Produkten verkürzen, Kühlschränke mit Touchscreens beispielsweise. Oder sie stellt den Support von Produkten nach einiger Zeit ein, liefert beispielsweise keine Sicherheitsupdates für ältere Smartphones mehr aus oder produziert keine Ersatzteile.

Die Politik stemmt sich immer deutlicher gegen solche Praktiken. Eine Wende zeichnet sich ab. Gemäß einer EU-Verordnung müssen Hersteller Smartphones und Tablets, die nach dem 20. Juni 2025 auf den Markt kommen, mindestens fünf Jahre mit Updates versorgen und Ersatzteile dafür bereitstellen. Außerdem muss mit einem Label angezeigt werden, wie gut die Produkte reparierbar sind.

Bis Juli kommenden Jahres müssen die EU-Staaten zudem die EU-Richtlinie zum „Recht auf Reparatur“ umsetzen. Verbraucher*innen dürfen dann Geräte wie Waschmaschinen oder Kühlschränke innerhalb der Garantiefrist reparieren lassen, wodurch sich die Garantiefrist um zwölf Monate verlängert. Außerdem sollen die Nationen eine staatliche Reparaturförderung aufsetzen.

Auch in der Industrie kommt der Trend zum Weiterverwenden nach und nach an. Refurbished-Geräte erreichen einen immer größeren Marktanteil und zunehmend werden Geräte wie zum Beispiel Laptops direkt so gebaut, dass sie einfach zu reparieren sind.

Renate will moderne Musik

Eine weitere Frau betritt das Repaircafé in Berlin-Reinickendorf. Sie ist das erste Mal da und stellt sich als Renate vor. Sie fragt Hajo, einen Ehrenamtlichen, ob sie sich zu ihm setzen kann, und holt ein Radio aus ihrer Tasche. Dazu legt sie verpackte Batterien, in der Hoffnung, dass die in das entsprechende Fach passen. Hajo nimmt das Radio, steckt die Batterien hinein und stellt dann fest, dass Renate keinen Deckel fürs Batteriefach dabei hat.

Hajo fragt den Kollegen Ralf nach einer Rolle Isolierband. Ralf reicht es über den Tisch und Hajo klebt das Batteriefach zu. Renate erzählt währenddessen, dass sie mit dem Radio den Sender 94.3 RS2 hören möchte, denn da laufe immer die neueste und modernste Musik. Hajo zieht die Antenne aus dem Radio und schaltet es ein. Zuerst rauscht es, dann wird die Musik immer klarer.

Hajo erklärt Renate, wie sie die Sender wechseln kann. Renate ist das zu kompliziert. Sie beschließt, das Radio lieber an jüngere Menschen zu verschenken. Im Hintergrund läutet die Glocke der Mikrowelle.

Staatliche Unterstützung für Reparaturen

Eine deutschlandweite Reparaturförderung, wie sie das EU-Recht ab 2026 vorsieht, gibt es noch nicht, dafür aber zahlreiche lokale Varianten, zum Beispiel in Bayern und Berlin. Die Fördersummen unterscheiden sich je nach Bundesland und Landkreis. In Berlin wird die Hälfte der Reparaturkosten übernommen, bis zu 200 Euro, mindestens müssen die Reparaturkosten 75 Euro betragen. Wenn die Geräte in einem Repaircafé repariert werden, werden die Ersatzteile ganz übernommen.

Damit sollen Reparaturinitiativen und ein nachhaltiges Wirtschaften gestärkt werden. Doch so richtig klappt das noch nicht. Antragsteller:innen warten zum Teil monatelang auf eine Rückmeldung, ob sie das Geld erstattet bekommen oder nicht.

Eine Art Denksportaufgabe

Um den Tisch, auf dem Christianes Knie-Mobilisierer liegt, stehen inzwischen vier ehrenamtliche Reparierer, lauter ergraute Männer, und fachsimpeln. Bernd beugt sich tief über die offenliegende Elektronik des Geräts. Er verfolgt Kabel und murmelt: „Der Motor bekommt keinen Strom, also muss doch eigentlich hier was sein. Das läuft hier lang, dann geht es hier rein, die Phase geht auf die Rückplatte und das hier an den Trafo.“ Er setzt seine Brille ab und reibt sich mit dem Handballen über die Stirn. „Warum dreht der sich nicht?“

Kollege Olaf fragt: „Was ist das für ein Relais?“ Die Reparatur ist eine Art Denksportaufgabe für die Ehrenamtler. Eine Geduldsspiel. Eine Beschäftigung, die eigentlich nicht in unsere schnelllebige, effizienzorientierte Zeit passt. Weil es sein kann, dass sie es nicht schaffen, das Gerät zu retten und trotzdem viel Mühe investieren.

Christiane sagt: „Du weißt nie, ob es klappt. Das ist glaube ich auch der Kick für die Jungs.“ Bernd sagt: „Der Reiz ist eigentlich, dass es am Ende wieder funktioniert.“ Olaf sagt: „Was der eine nicht kann, kann der andere, einer hat immer ne Idee.“ Die Reparaturen sind Teamprojekte. Ihm geht es hier auch ums Beisammensein. „Wenn keiner kommt, trinken wir Kaffee und essen Kuchen“, sagt er. Die Mikrowelle pingt.

16 Jahre Repaircafés

Seit 2009 gibt es das Konzept des Repaircafés. Es stammt von einer niederländischen Umweltjournalistin und fand schnell Anklang. Sieben Jahre später gab es schon 1.000 Repaircafés weltweit. Mittlerweile gibt es alleine in Deutschland 1.200. Zum großen Teil organisieren sie sich über das Netzwerk Reparatur-Initiativen. Es gibt auch eine internationale Vernetzung.

Das Repaircafé in Berlin-Reinickendorf gibt es jetzt schon seit zehn Jahren. In dieser Zeit haben verschiedene Reparierende die Klienten betreut. Unter anderem kamen Elektrotechnikstudenten, um praktische Erfahrungen neben ihres Studiums sammeln zu können.

Neben Elektrogeräten können hier in Berlin-Reinickendorf auch Fahrräder und zudem Textilien repariert werden. Letzteres macht Betty, die dafür eine Nähmaschine vor Ort hat.

Renate hat Probleme mit ihrem Telefon

Renate hat noch ein Anliegen. Auf ihrem Handy sind Sachen, die sie da nicht draufgeladen hat. Zum Beispiel hat sie neben der App „WhatsApp“ auch „WhatsApp Business“ und die Suchleiste von Google befindet sich nicht mehr auf ihrem Home-Bildschirm. Hajo ist sich sicher, dass Renate die Suchleiste selbst entfernt und auch „WhatsApp Business“ selbst heruntergeladen hat.

Renate erzählt, dass sie sich extra ein neues Handy gekauft hat. Jetzt habe sie aber wieder „WhatsApp Business“ und keine Google-Suchleiste. Hajo zeigt ihr, wie sie die Suchleiste entfernen kann. Renate lächelt. Dann setzt sie sich zu Betty, die heute „die Empfangsdame“ gibt, trinkt Kaffee und isst den Käsekuchen, den Betty gebacken hat. Beim nächsten Mal will Renate eine defekte Stehlampe mitbringen.

Was man als reparierende Person braucht

Das Repaircafé findet einmal im Monat für drei Stunden im Familienzentrum Letteallee statt. Für die Reparaturen nehmen die Ehrenamtlichen Spenden entgegen, für die sie Kleinkram wie Lötzinn, Sekundenkleber, Reinigungsmittel oder Kabelbinder kaufen. „Und wenn was übrig ist, gehen wir damit zu Weihnachten einmal essen“, sagt Ralf, einer der Reparierer. Einen Grundstock an Werkzeug hat das Repaiarcafé von Sponsoren gestellt bekommen, viel bringen die Reparierenden privat mit.

Ein Mann sitzt vor einem Haufen Werkzeug.
Ralf und sein Werkzeug. - Alle Rechte vorbehalten netzpolitik.org

Ralf stellt stolz seine Werkzeugtasche vor. Darin finden sich unter anderem: Strommessgerät, Lupenbrille, Taschenlampe, Test-Musikkassette und -CD, Federn, Schrauben, Klemmen, Dremel, Bremsenreiniger, Kontaktspray, Schraubendreher und unzählige Bits in absurdesten Formen. „Die Hersteller lassen sich da immer was neues einfallen, damit man die Geräte nicht aufbekommt. Teils gibt es sieben verschiedene Schraubentypen für eine Kaffeemaschine und die nötigen Bits werden manchmal nur an Fachwerkstätten verkauft“, sagt Ralf.

„Für mich steht das Ganzmachen im Vordergrund“

Ralf war Nachrichtentechniker, Filmtechniker, Kältetechniker und Lokführer. Er hat schon immer gerne gebastelt. Jetzt ist er berufsunfähig und hat Zeit. Vier Repaircafes begleitet er als ehrenamtlicher Helfer. „Für mich steht das Ganzmachen im Vordergrund“, sagt er. Er kann es nicht gut aushalten, wenn Dinge weggeworfen werden, die man noch reparieren könnte. Einmal habe er zwei Stunden Arbeit in die Reparatur eines Neun-Euro-Milchschäumers investiert.

Was Ralf richtig fuchsig macht: Wenn Produkte so gebaut sind, dass sie schneller kaputtgehen als sie müssten. Geplante Obsoleszenz nennt sich das. Ralf nennt Beispiele: Monitore mit Kondensatoren, die so verbaut sind, dass sie sich schnell erwärmen, Brotschneidemaschinen mit Plastikzahnrädern, Staubsauger, deren Kabelaufwicklung zu hart am Kabel zieht. Ebenfalls ärgerlich findet er Geräte, die eine Reparatur extra schwer machen. „So wie Apple-Ladegeräte, die sind gegossen. Aber die kriege ich mit der Trennscheibe auch auf. Oder Solarlampen mit eingeklebten LEDs, das ist eine Katastrophe“, sagt er.

Inzwischen ist es 18 Uhr. Die Reparierer und ihre Klienten müssen das Repaircafé abbauen. Christianes Kniemobilisierer ist leider nicht fertig geworden. Sie muss noch einmal wiederkommen. „Wenn das Gerät mal zum finalen Abschluss kommt, das wäre für uns alle eine Erleichterung“, sagt Ralf. „Das Ding ist ein Bumerang“, fügt Olaf hinzu.


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20.06.2025 11:56

Wir haben Post von Wetter Online: endlich. Nach einer Beschwerde und vielen Monaten Verzögerung soll nun eine Tabelle Auskunft darüber geben, welche Standortdaten zu einem Redakteur aus dem Recherche-Team vorliegen. Doch das Dokument lässt Fragen offen.

Ein Smartphone mit Wetter-Online-App. Aus dem Gerät kommt ein Wasserhahn. Aus dem Wasserhahn tröpfeln GPS-Daten.
Getropft (Symbolbild) – Smartphone: Pixabay; Nebel: Vecteezy; Screenshot: Wetter Online; Montage: netzpolitik.org

Diese Recherche ist Teil der „Databroker Files“. Hier geht es zu den weiteren Veröffentlichungen.


Wetter Online, eine von Deutschlands populärsten Wetter-Apps, kann nun offenbar den Aufwand bewältigen, Datenschutz-Auskunftsanfragen von Nutzer*innen nachzukommen. Vor mehr als einem Jahr hatten wir Wetter Online eine solche Anfrage gestellt. Anlass waren unsere Recherchen zu den Databroker Files. Sie zeigten, dass Unternehmen offen mit präzisen Standortdaten von Wetter-Online-Nutzer*innen handelten. Wie kann das sein?

Ein Mitglied des Recherche-Teams hatte selbst Wetter Online auf dem Handy und deshalb auf Grundlage der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) eine Auskunftsanfrage gestellt. Welche Daten hatte Wetter Online über ihn erfasst? Die Antwort auf eine solche Anfrage ist Pflicht, das verlangt das Gesetz. Wegen angeblich zu hohem Aufwand wollte Wetter Online dem allerdings zunächst nicht vollständig nachkommen. Nach einer Beschwerde haben wir nun erstmals Daten erhalten.

Die schlechte Nachricht: Die Aussagequalität der ausgehändigten Daten ist begrenzt. Zahlreiche Fragen bleiben offen. Aber eins nach dem anderen.

Zu viel Aufwand?

Auf Artikel 15 der DSGVO können sich alle Nutzer*innen in der EU berufen. Demnach müssen ihnen Datenverarbeiter Informationen darüber bereitstellen, wie sie deren personenbezogene Daten verarbeiten. So können Interessierte erfahren: Was genau wird über mich erhoben? Auf welcher Rechtsgrundlage? An wen werden Daten weitergegeben? Zudem können sie eine vollständige Kopie ihrer Daten anfordern.

Genau das taten wir bereits im Sommer 2024. Wetter Online kam der Anfrage damals jedoch nur teilweise nach. Das Unternehmen teilte zunächst mit, dass lediglich drei Firmen die Daten des betroffenen Redakteurs erhalten hätten. Eine Kopie könne man jedoch nicht herausgeben, weil das zu aufwendig sei. Dabei verwies Wetter Online auf veraltete Regeln im ehemaligen Bundesdatenschutzgesetz.

Wir hatten deshalb gemeinsam mit der Datenschutzorganisation noyb Beschwerde bei der zuständigen Datenschutzbehörde Nordrhein-Westfalen eingelegt und darüber im Februar 2025 berichtet. Diese Beschwerde hatte zumindest in Teilen Erfolg, denn inzwischen verweigert Wetter Online die Datenkopie nicht mehr mit Blick auf den Aufwand.

Spuren von Wetter Online bei zwei Datenhändlern

Wetter Online spielt eine besondere Rolle bei den Databroker Files, unseren Recherchen mit dem Bayerischen Rundfunk zum unkontrollierten Handel mit Standortdaten. In mehreren Artikeln hatten wir zunächst aufgedeckt, wie Datenhändler vermittelt über eine Berliner Plattform intime Daten von Millionen Menschen verkaufen. Darunter auch genaueste Standortdaten von hochrangigen deutschen Regierungsangestellten, von Menschen mit Zugang zu sensiblen Arealen bei Militär und Geheimdienst.

Dem Rechercheteam liegen inzwischen mehrere Datensätze mit mehreren Milliarden Standortdaten vor, inklusive Werbe-IDs, mit denen sich Handys eindeutig identifizieren lassen. In einem dieser Datensätze sind die Standortdaten zudem mit Hinweisen auf konkrete Apps verknüpft. Zu einigen der Apps konnten wir alarmierend genaue Standortdaten finden. Eine davon ist Wetter Online.

An nur einem Tag in Deutschland wurden zehntausende Nutzer*innen wohl teils auf den Meter genau geortet. Wetter Online taucht auch in einem anderen Datensatz als Quelle für Handy-Standortdaten auf: dem Leak des Datenhändler Gravy Analytics, der im Frühjahr gehackt wurde.

Nach Recherchen: Vor-Ort-Kontrolle bei Wetter Online

Alarmiert durch unsere Berichterstattung schaltete sich die Datenschutzbeauftragte Nordrhein-Westfalen ein und schaute bei Wetter Online persönlich nach dem Rechten.

„Die schnelle Vor-Ort-Kontrolle war hier besonders hilfreich, da das Unternehmen die nicht datenschutzkonforme Handhabung bestritten hatte“, schreibt Behördenchefin Bettina Gayk in einer Pressemitteilung. Der Behörde zufolge konnten die Datenschützer*innen bei ihrem Besuch feststellen, dass tatsächlich genaue Standortdaten ohne wirksame Einwilligung an Dritte weitergegeben wurden. Das habe man stoppen können.

Noch im Februar nahm Wetter Online auch für Nutzer*innen sichtbare Änderungen vor. „Wetter Online hat innerhalb der uns gesetzten Frist reagiert und nun auf Website und Apps einen Einwilligungsbanner gesetzt, der auf die Verarbeitung von GPS-Standortdaten nur für Wetterinformationen hinweist“, erklärte ein Sprecher der Datenschutzaufsicht.

Unklar blieb jedoch, an wen genau die Standortdaten der Wetter-Online-Nutzer*innen geflossen sein könnten. Wetter Online antwortete im Januar und Februar auf wiederholte Presseanfragen nicht. Umso höher waren die Erwartungen an neue Erkenntnisse durch die beantragte Datenauskunft.

Firma hat Reiseroute erfasst

In Reaktion auf die Beschwerde hat uns Wetter Online schließlich eine Tabelle mit rund 150 Zeilen zur Verfügung gestellt. Zu den erfassten Informationen gehört etwa, ob das Handy des Redakteurs mit einem WLAN verbunden war und welche Betriebssystem-Version darauf lief. Die Tabelle enthält auch auf die Sekunde genaue Zeitstempel sowie zahlreiche Ortsnamen und Postleitzahlen.

Mehrfach taucht Berlin auf, wo netzpolitik.org seinen Sitz hat. Einige Orte scheinen falsch erfasst worden zu sein, der Redakteur war dort nicht. Ablesen lässt sich jedoch eine Auslandsreise. Legt man die erfassten Postleitzahlen auf eine Karte, lassen sich Teile der tatsächlichen Reiseroute ungefähr nachvollziehen.

Was die Tabelle allerdings nicht enthält: Präzise Standortdaten, aus denen sich Bewegungen minutiös nachverfolgen lassen. Es gibt keine Hinweise auf die genaue Wohnadresse oder den Arbeitsplatz. Außerdem stehen in der Tabelle lediglich Daten eines einzigen Tracking-Unternehmens: Appsflyer. Zuvor hatte Wetter Online noch mitgeteilt, Daten an drei Tracking-Firmen weitergegeben zu haben. Und in der Datenschutzerklärung werden gar Hunderte Firmen als Werbepartner gelistet. Die Datei enthält zudem zahlreiche leere Felder.

Hat Wetter Online wirklich alle Daten vorgelegt, die erfasst wurden?

Wetter Online: Keine GPS-Daten „verkauft“

Wir haben Wetter Online per Presseanfrage um Erklärung gebeten. Das Unternehmen teilt mit: „Die Auskunft ist auf Sie bezogen vollständig.“ Mehrfach habe man geprüft, ob auch Daten zu den ursprünglich genannten Tracking-Firmen vorliegen. Es konnten jedoch keine gefunden werden, heißt es. Für die leeren Felder in der Datei gebe es technische Gründe; das heißt: Nachträglich entfernt worden sei nichts.

Aus der Antwort geht jedoch hervor, dass Wetter Online durchaus mal mehr Daten erfasst hatte. Diese Daten würden aber nicht mehr vorliegen. „Wir haben bereits vor Ihrem Auskunftsersuchen, basierend auf Regellöschfristen, personenbezogene Daten gelöscht“, erklärt der Sprecher.

Der Wetter-Online-Sprecher äußert sich auch erstmals zur Datenschutzbeauftragten Nordrhein-Westfalen: „Die Untersuchungen laufen noch“, schreibt er. Wetter Online ist es wichtig zu betonen, dass GPS-Daten nicht an Dritte „verkauft“ worden seien. „Dies war und ist auch nicht Gegenstand der laufenden Untersuchung“, betont der Sprecher. Wie genaue Handy-Standortdaten auch ohne einen direkten Verkauf an Dritte gelangt sein könnten, erklärt der Sprecher nicht. „Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu laufenden Untersuchungen nicht äußern.“

In unserem Artikel Im Dschungel der Datenhändler haben wir mehrere Wege beschrieben, wie sensible Daten von Handy-Nutzer*innen zur offenen Handelsware werden können, auch ohne dass App-Betreiber sie selbst verkaufen.

Nutzer*innen haben keine Kontrolle

Die Auskunft von Wetter Online liefert also keine lückenlose Aufklärung – schon allein, weil wir nicht wissen, welche personenbezogenen Daten Wetter Online bereits im Vorfeld durch „Regellöschfristen“ getilgt hat. Der konkrete Fall verdeutlicht ein typisches Problem beim Recht auf Datenauskunft. Betroffene können nicht genau prüfen, welche Daten Unternehmen tatsächlich über sie verarbeitet haben.

Theoretisch könnten Unternehmen also auch nach einer Auskunftsanfrage gezielt Daten löschen, um sie nicht offenlegen zu müssen. Oder ihre Antwort so lange herauszögern, bis sensible Daten durch übliche Löschfristen nicht mehr vorliegen. Betroffene wären nicht in der Lage, das nachzuweisen. Sie müssten dem Unternehmen schlicht vertrauen. Das bedeutet: Für Nutzer*innen ist die mit dem Recht auf Datenauskunft eigentlich intendierte Kontrollfunktion eine Illusion.

Abhilfe schaffen könnten hier nur Datenschutzbehörden. Mit Kontrollen vor Ort könnten sie prüfen, ob Unternehmen die Rechte von Nutzer*innen wirklich umsetzen. Allerdings ist das aufwendig und allenfalls in Einzelfällen realistisch.

So können Interessierte selbst ihre Daten anfragen

Die Hürden bei Auskunftsersuchen sollten Interessierte allerdings nicht davon abhalten, ihre Rechte einzufordern. Selbst eine möglicherweise geschönte Datenauskunft kann aufschlussreich sein.

Wer eine vollständige Datenauskunft nach Artikel 15 DSGVO erhalten will, sollte jedoch etwas Geduld einplanen. Immer wieder versuchen Unternehmen, Betroffene mit Ausreden abzuspeisen. In der Regel haben sie nur vier Wochen Zeit für die Auskunft. Nur in Ausnahmefällen mit besonderem Aufwand darf diese Frist verlängert werden.

Hilfreich ist es, einem Unternehmen möglichst direkt alle Daten zu schicken, die die Auskunft erleichtern. Dazu zählen auch Identifier wie die Mobile Advertising ID, also die einzigartige Werbe-Kennung des eigenen Handys. Wir haben im Fall von Wetter Online etwa konkrete Beispiele für besuchte Orte mitgeschickt, zu denen Standortdaten vorliegen müssten. Auch eine (teils geschwärzte) Kopie des Personalausweises kann in Einzelfällen verlangt werden.

Für Interessierte gibt es mehrere Anlaufstellen, die bei der Formulierung solcher Auskunftsanfragen helfen, etwa die Verbraucherzentralen, die deutsche Initiative datenanfragen.de oder die englischsprachige Initiative datarequests.org.


Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus jetzt mit einer Spende.

20.06.2025 07:54

Zahlreiche Kreisverbände der Grünen Jugend, der Linken sowie die Partei der Humanisten haben den Zugang zu ihren Instagram-Accounts verloren. Die Betroffenen können sich nicht erklären, warum. Der Versuch der Aufklärung ist eine kafkaeske Mission.

Eine Tastatur ist eine Kette eingewickelt, die von einem Vorhängeschloss zusammengehalten wird.
Meta sperrt immer wieder politische Organisationen aus ihren Instagram-Accounts aus. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO/Wolfilser

Zehn Kreisverbände der Grünen Jugend wurden laut der Organisation im vergangenen Jahr aus ihren Instagram-Accounts ausgesperrt: Düsseldorf, Solingen, Mönchengladbach, Bonn, Dortmund, Minden-Lübbecke, Coesfeld, Leer, Gotha, Meißen. Für die Betroffenen ist das dramatisch. Die Meta-Plattform Instagram „spielt eine zentrale Rolle in der digitalen Öffentlichkeitsarbeit, besonders in unserer Zielgruppe“, sagt Oketade Olayiwola-Olosun, Sprecher der Grünen Jugend Bonn.

Neben den Grüne-Jugend-Accounts wurden auch Accounts der Partei Die Linke gesperrt und der Hauptaccount der Partei der Humanisten, berichten Vertreter die Parteien. Auch Greenpeace leidet unter einer Vielzahl von Accountsperrungen. Immer wieder gibt es auch Privatpersonen, die sich bei netzpolitik.org darüber beschweren, dass ihr Konto ohne nachvollziehbare Begründung gesperrt wurde. Doch im Fall der politischen Organisationen sind die Sperren noch brisanter.

„Wenn politische Akteur*innen die Stimme verwehrt wird, ohne dass klar ist, warum, und ohne dass es schnell zu einer Korrektur kommt, hat das einen Einfluss auf die politische Meinungsbildung“, sagt Jürgen Bering, der für die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) das Center for User Rights leitet.

Grüne Jugend soll sich als Unternehmen ausgegeben haben

Als Begründung, warum das Konto der Grünen Jugend Bonn gesperrt wurde, schrieb Meta, dass es gegen Gemeinschaftsstandards verstoße. „Auf Instagram ist es nicht erlaubt, sich für ein Unternehmen auszugeben oder sich ohne dessen Genehmigung in seinem Namen zu äußern“, heißt es. Was das mit seinem Kreisverband zu tun haben soll, kann sich Olayiwola-Olosun nicht erklären.

Jürgen Bering berichtet, dass eine Reihe von Greenpeace-Ortsverbänden ähnliches erlebt habe: „Da wurden Accounts gesperrt mit der Begründung: Wir bezweifeln, dass ihr die Organisation vertretet.“

Die Fälle seien klar, die GFF habe bei Meta Dokumente des Bundesverbands eingereicht, die besagen, dass die Ortsverbände legitim sind. „Da muss man eigentlich nicht mehr viel prüfen“, sagt Bering. Dennoch seien die Accounts einiger Ortsverbände weiterhin gesperrt. Meldewege und Entsperrungen bei Meta funktionierten häufig nicht gut. „Ich habe den Eindruck, da gibt es nicht ausreichend Menschen, die sich das angucken“, sagt Bering.

Dauerhaft deaktiviert

Der Grüne-Jugend-Kreisverband Bonn versuchte in der App Einspruch gegen die Kontolöschung einzulegen. Meta antwortete: „Wir haben uns dein Konto noch einmal angesehen und sind zu dem Schluss gekommen, dass es tatsächlich gegen unsere Gemeinschaftsrichtlinien zu Kontointegrität und Authentizität verstößt.“ Das war Anfang vergangenen Jahres.

Olayiwola-Olosun und seine Mitstreiter*innen betrieben von da an noch den Account des Grüne-Jugend-Bezirks Mittelrhein, in dem verschiedene Kreisverbände, auch der aus Bonn, vertreten sind. Im Februar 2025 wurde dann auch dieses Konto gesperrt, „weil dein Konto bzw. dessen Aktivitäten gegen unsere Gemeinschaftsstandards zu Kontointegrität verstoßen haben“, so Meta in einer Info-Mail.

Auf einen Einspruch in der App antwortete das Unternehmen mit den selben Textbausteinen wie schon zuvor bei der Sperre des Bonner Accounts. Man habe das Konto noch einmal geprüft und festgestellt, dass es gegen Gemeinschaftsstandards verstoße. „Aus diesem Grund wurde dein Konto dauerhaft deaktiviert.“

Instagram muss Sperren erläutern

Nach dem Digital Services Act der EU müssen Nutzer*innen umfassend über die Gründe einer Accountsperre informiert werden. Es braucht einen Verweis auf die vertragliche Bestimmung und eine Erläuterung, warum das Handeln der Accountinhaber damit unvereinbar ist. Diese Begründung gäbe es aber meist nicht, sagt Jürgen Bering von der GFF.

„Um mich gegen eine Entscheidung zu Wehr zu setzen, muss ich wissen, was mir vorgeworfen wird. Wenn ich nur auf einen groben Grund in den Nutzungsbedingungen verwiesen werde, weiß ich gar nicht, ob meine Beschwerde Erfolg haben kann“, sagt Bering.

Olayiwola-Olosun hörte sich um und stellte fest, dass zahlreiche weitere Kreisverbände der Grünen Jugend ebenfalls ihre Instagram-Konten verloren hatten. Meta schreibt auf Anfrage in einer Mail, aus der wir nicht direkt zitieren sollen, dass die betroffenen Accounts aufgrund von Hinweisen auf Nachahmung und Fake Accounts fälschlicherweise entfernt worden seien. Den Fehler habe man sofort korrigiert, nachdem man davon erfahren hatte.

Beim NRW-Landesverband der Partei Die Linke gibt es ebenfalls regelmäßig Probleme mit Accounts von Kreisverbänden. Die Instagram-Seiten der Kreisverbände in Dortmund, Düsseldorf, Minden-Lübecke und Köln wurden mindestens zeitweise gesperrt.

„Diverse Basisgruppen hatten immer wieder Probleme“

Der Bundesverband der Linken schreibt auf netzpolitik.org-Anfrage: „Es kommt immer mal wieder vor, dass die Accounts von Kreisverbänden gesperrt werden. Manchmal melden sie sich dann bei uns, in der Hoffnung, wir hätten einen besonderen Draht zu Meta. Wir haben aber keine Liste dazu.“

Eine Vertreterin der Linksjugend solid, des Jugendverbands der Partei Die Linke, schreibt auf netzpolitik.org-Anfrage, dass der Instagram-Account ihres Kreisverbandes Bonn schon öfter getroffen worden sei. Die Linksjugend Köln sei zweimal blockiert worden und auch der Account des Landesverbandes der Linksjugend Nordrhein-Westfalen. „Diverse vor allem neue Basisgruppen hatten wohl immer mal wieder Probleme“, schreibt sie.

In der Nacht auf den 4. Juni 2025 hat es dann auch den Instagram-Account der Partei der Humanisten erwischt. Es war der reichweitenstärkste Kanal der Partei. Er wurde ohne konkrete Begründung gesperrt, so Sascha Klughardt, der Generalsekretär. „Trotz mehrfacher Kontaktaufnahme reagierte Meta bislang lediglich mit automatisierten Verweisen auf allgemeine Richtlinien. Es wurden keine Inhalte veröffentlicht, die gegen die Plattformregeln verstoßen hätten“, sagt er. Die Partei habe nun einen Anwalt eingeschaltet.

Demokratische Teilhabe in Gefahr

Für seine Partei sei Social Media ein zentrales Mittel der politischen Kommunikation, sagt Klughardt. Als kleine Partei sei sie besonders auf digitale Sichtbarkeit angewiesen.

„Die Sperrung stellt daher nicht nur einen massiven Eingriff in die digitale Sichtbarkeit dar, sondern wirft auch grundlegende Fragen zur Fairness und Transparenz digitaler Öffentlichkeiten auf. Wenn politische Parteien ohne nachvollziehbare Gründe von sozialen Netzwerken ausgeschlossen werden, gefährdet das die demokratische öffentliche Präsenz und Teilhabe“, sagt er. Es brauche neben einer schnellen Klärung durch Meta nun eine politische Debatte über die Verantwortung großer Plattformen für die digitale Demokratie.

Neben dem Parteiaccount seien auch private Accounts von Mitgliedern gesperrt worden. „Offenbar aufgrund von Verknüpfungen oder Interaktionen mit unseren Inhalten“, vermutet Klughardt. Zuvor hätte die Partei auf ihrem Account darauf hingewiesen, dass man der Nutzung seiner Daten für die Meta-KI widersprechen könne. Außerdem sei ein Video zum Pride Month gepostet worden, „das starke Aufmerksamkeit, auch aus rechten Influencer-Kreisen, auf sich gezogen hat.“

Meta will weniger Politik

Dass möglicherweise Rechte die Sperren angestoßen haben, kann sich auch Olayiwola-Olosun von der Grünen Jugend vorstellen. „Es ist möglich, dass Rechte uns melden“, sagt er. Wäre es der Fall, sollte Meta aber merken, dass die Meldungen falsch sind. „Das wäre deren Verantwortung.“

Er kann sich auch vorstellen, dass die Sperrungen mit Metas Ankündigung zu tun haben, künftig die Reichweite politischer Akteure auf den Plattformen zu begrenzen. Er sieht eine „möglicherweise politisch motivierte Einschränkung der digitalen Meinungsfreiheit.“

Olayiwola-Olosun und die Grüne Jugend Bonn haben sich auf einen kafkaesken Feldzug begeben, um ihr Konto zurückzubekommen. Sie haben Meta geschrieben und eine inhaltsleere Antwort bekommen. Sie haben eine Beschwerde bei der irischen Datenschutzbehörde eingereicht, die für Meta zuständig ist. Die hat sie an die Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit weitergeleitet, die wiederum an die Hamburger Datenschutzbehörde verwiesen hat. Die schrieb, dass sie nicht zuständig sei.

„Gefühlt ein Verwaltungsstudium“

Olayiwola-Olosun und die Grüne Jugend Bonn haben auch die Bundesnetzagentur kontaktiert und die Firma User Rights, die als externe Schlichtungsstelle Nutzer*innenrechte durchsetzt. Von der Bundesnetzagentur habe es keine Rückmeldung gegeben. User Rights schreibt: „Der Fall liegt außerhalb unserer Zuständigkeit.“ Olayiwola-Olosun sagt: „Es ist ein Unding, dass es so viele parallele Strukturen gibt, man aber gefühlt ein Verwaltungsstudium braucht, um überhaupt die Zuständigkeiten zu verstehen.“

Geholfen habe bislang nur politischer Einfluss, zum Beispiel durch die grüne Europaabgeordnete Alexandra Geese. Eine Reihe von Grüne-Jugend-Accounts sei so wieder entsperrt worden. Die von Mittelrhein, Minden-Lübbecke, Gotha und Meißen sind aber weiterhin blockiert.

Um weniger abhängig von den Tech-Giganten zu sein, posten Olayiwola-Olosun und seine Mitstreiter*innen mittlerweile alle Inhalte auch auf der offenen Plattform Mastodon.

Update, 20.6.2025, 16.34 Uhr: Statement von User Rights eingebaut.


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19.06.2025 18:11

Die Forderung nach einer Klarnamenpflicht im Netz hat wieder Konjunktur. Dabei ist sie brandgefährlich für gleich mehrere Grundrechte. In einer Demokratie brauchen wir Orte, an denen wir wirklich frei kommunizieren können. Ein Kommentar.

Personen mit Masken
Pseudonymität hat viele Gesichter – und Gründe. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Wazaer Shadman / Sara Ghasemi / Thiago Rebouças /

Nach dem Amoklauf von Graz wird in Österreich über eine Ausweispflicht im Netz diskutiert und die CDU in Schleswig-Holstein hat gerade gegen Hass und Hetze eine Klarnamenpflicht in sozialen Medien gefordert. Die Idee hinter der Forderung ist die Annahme, dass Menschen „mit offenem Visier“ weniger gewaltsam kommunizieren würden. Dafür gibt es jedoch wenig Belege, im Gegenteil hetzen Rassisten ganz offen.

Eine Klarnamenpflicht im Internet oder in sozialen Medien ist keine gute Idee. Nicht nur das: Sie gefährdet die Pressefreiheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Meinungsfreiheit, die Freiheit der Kunst, die informationelle Selbstbestimmung und die Religionsfreiheit. Und sie gefährdet insbesondere Minderheiten und verletzliche Gruppen.

Anonymität und Pseudonymität sind notwendig für freie, demokratische Diskurse. Die Anonymität im Netz ist durch Ausweispflicht bei SIM-Karten oder durch IP-Speicherung schon heute stark eingeschränkt. Wer Anonymität und Pseudonymität im Netz weiter angreift, sägt an einem Grundpfeiler der Demokratie.

Wir alle brauchen Orte ohne Klarnamen

Es gibt bemerkenswert viele praktische Beispiele dafür, warum Pseudonyme unverzichtbar für eine freie Gesellschaft sind. In einem Artikel aus dem Jahr 2018, der (leider) immer noch aktuell ist, haben wir sechzehn besonders eindrückliche Beispiele ausgeführt. Hier kommen noch mehr:

  • Stellen Sie sich vor, Sie sind dick und haben von ihrer Ärztin gerade die Abnehmspritze verschrieben bekommen. Auf der Plattform Reddit möchten sie sich mit Gleichgesinnten über Ihre Gesundheit, Nebenwirkungen, die Reaktionen ihres Umfelds oder das neue wunderbare Gefühl beim Blick in den Spiegel austauschen. Nun ist ihr Name aber nicht zufällig Christian Müller, sondern so außergewöhnlich, dass Suchmaschinen mühelos jegliches ihrer Reddit-Gespräche aufspüren und ihnen direkt zuordnen können. Wie fänden Sie es, wenn das auch Jahre später noch Menschen lesen, die neugierig ihren Namen googeln? Die neue Kollegin auf der Arbeit; der nervige Onkel, der findet, Dünnsein sei nur eine Frage der Selbstdisziplin; die tratschenden Nachbarn im Dorf?
  • Oder stellen Sie sich vor, sie sind gerade 15 Jahre alt und bisexuell. Sie leben in erzkonservativen Familie in einem erzkatholischen Dorf und kennen im direkten Umfeld niemanden, mit dem sie darüber sprechen können. Aber in einem Online-Forum haben Sie endlich einen Ort gefunden, wo Sie Freude und Anerkennung finden – statt Ablehnung und Scham. Endlich können sie offen darüber reden, welche Menschen sie attraktiv finden und lieben. Ob und wann Sie sich outen, das wollen Sie selbst entscheiden. Wie würde sich ein unfreiwilliges Outing anfühlen, ausgelöst durch die Google-Anfrage eines queerfeindlichen Familienmitglieds?
  • Oder stellen Sie sich vor, Sie wohnen in einer bürgerlichen Kleinstadt und erleben, wie Ihre Kommune immer weiter nach rechts kippt. Nazis brüllen auf dem Marktplatz; Kinder auf dem Schulhof zeigen den Hitlergruß; demokratische Parteien können nur auf den letzten Drücker noch einen AfD-Bürgermeister verhindern. Die Lokalzeitung ist schon lange pleite; deshalb berichten Sie eben auf eigene Faust mit einem pseudonymen Account auf Bluesky und Instagram, was in ihrer Stadt passiert. Sie decken Skandale auf, die überregionale Medien aufgreifen; der lokale AfD-Mann landet im Verfassungsschutzbericht. Fieberhaft suchen die Rechtsradikalen nach dem Menschen hinter Ihrem Account, um Rache zu üben. Mit einer Klarnamenpflicht, wären Sie jetzt in Lebensgefahr – oder hätten sich gar nicht erst getraut, zu berichten.

16 Beispiele, warum Pseudonymität im Netz unverzichtbar ist

Die Feinde der Demokratie hetzen mit Klarnamen

Solche Beispiele zeigen: Orte, an denen wir unter einem erfundenen Namen kommunizieren können, sind für eine vielfältige Gesellschaft zwingend notwendig. Die Gesellschaft profitiert davon. Nicht nur ein paar Datenschutz-Freaks, sondern wir alle benötigen solche anonymen Orte im Netz, damit wir frei sind.

In den Parlamenten sitzen zunehmend mehr Rechtsextreme. In manchen Bundesländern könnte die AfD bald die größte Fraktion stellen. Wenn der Aufwind der AfD nicht gestoppt wird, dann droht auch im Bund eine Regierung mit deren Beteiligung. Auch wenn diese Partei gerne so tut, als verteidige sie die Meinungsfreiheit – am Ende werden Faschisten immer alles tun, um die Freiheit von Meinungen einzuschränken, die nicht in ihr menschenfeindliches Weltbild passen. Anfangen werden sie mit den Freiheiten von Marginalisierten und Minderheiten. Am Ende werden sie allen die Freiheit nehmen, um ihre Macht zu sichern.

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Wer Hass und Hetze bekämpfen will, sollte sich den Menschen widmen, die täglich – mit Klarnamen! – in Parlamenten und Talkshows gegen Minderheiten wettern und ihre Verachtung für Menschenrechte und Demokratie propagieren.

Eine Klarnamenpflicht ist schon in der Demokratie brandgefährlich, in den Händen von Autoritären ist sie ein mächtiges Instrument der Unterdrückung. Nicht umsonst gibt es solche Pflichten in China und Russland. Klarnamenpflicht ist eines der mächtigsten Werkzeuge, um Meinungsfreiheit zu bekämpfen, Menschen einzuschüchtern und Informationen zu kontrollieren. Selbst wenn eine Demokratie gerade nicht bedroht ist, sollte sie ein solches Werkzeug nicht einführen. Und gerade wenn eine Demokratie – wie unsere – ernsthaft bedroht ist, dann sollte sie alles daran setzen, dieses Werkzeug nicht auch noch freiwillig jenen zu überlassen, die gerade die Macht an sich reißen wollen.


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19.06.2025 16:31

An internal paper gives some clues about the EU Commission’s plans for open source policy in the future. An existing funding programme will continue under a new name and re-focus on commercial value. The document calls on the Commission to support open source in public administrations – and think about a new legal form. Many questions remain open.

A blurry mess of lights.
The Commission’s plans are not really clear. – Public Domain Pexels / Rô Acunha

The EU Commission has been funding open source projects for years. A programme called Next Generation Internet (NGI) is central to this by distributing money quickly and without red tape to promising projects – such as the decentralised microblogging service Mastodon, the video software PeerTube or Jitsi for videoconferencing.

But the Commission has been set on ending funding NGI for some time – despite prolonged criticism. Involved organisations have said that NGI works well and efficiently. Open source also plays a key role in protecting Europe from foreign actors – particularly important in the current geopolitical environment.

The Commission responded that the end of NGI is not meant to be the end of its open source funding. That is set to continue under a new name – initially the “Open Europe Stack”, now the “Open Internet Stack”. Important distinction: In spite of the new name, the programme is only indirectly related to the “EuroStack”.

Buzzword bingo

But what exactly is that supposed to mean? Why does the EU need a new programme at all? What changes will the new name bring? How much money should the new programme have? So far, all these questions go unanswered.

The new programme’s official description refers to a “publicly available and operational stack” focusing on “internet technologies for trust, transactions, connectivity, and decentralisation” and with the aim of creating a  “library of inclusive, trustworthy, interoperable, and human-centric applications and services”.

One of the points is actually new: The programme is set to be linked to a “Connected Collaborative Computing” network, or 3C network for short. This network is an EU Commission dream of an internet relying more heavily on telecommunications providers – one of the few tech sectors in which Europe still has a foothold. This idea is currently still very vague.

Thibault Kleiner, Director at the Commission’s Directorate-General for Communications, spoke more clearly today. “We’re at the stage where we need to move on”, he said at NGI’s annual event in Brussels. The work of NGI has been a big success, but is not resulting in enough business success: “We do the work, but we don’t monetise it.” The new focus, according to him, will be on building software that people will see as a credible alternative to big tech.

Decisions on the horizon

Further details on the Open Internet Stack can be found in an internal document written by a consultant for the Commission. A short version of the document has been published for the NGI event currently taking place in Brussels – we are publishing its full and confidential version.

The most concrete points in the paper concern the future programme’s budget. This is particularly important because Brussels will soon start negotiating the European Union’s next multi-year budget. This will roughly set out what the EU wants to spend money on from 2028 to 2034 – including its support for open source developers.

And how much money would you like?

The paper presents four scenarios for this period: No money at all, as much as before, a little more or twice as much. The author warns that if the Commission stops promoting open source all together, Europe could become even more dependent on non-European software. Experts could leave the continent.

The Commission could also continue the existing NGI funding model – which, according to the author, has so far proven successful. This option would cost the Commission a total of 35 million euros per year. It could also build on what NGI has achieved so far while continuing to reach small organisations with a low-barrier funding model.

As a third option, the document considers an annual budget of 50 million euros to boost Europe’s digital industry. The additional money could be channeled into the education sector or support new companies. Separate budgets should exist for technology that is considered  “critical” for Europe – whatever that means.

The fourth option would amount to up to 70 million euros per year. According to the obviously very optimistic author, this would allow Europe to “set the rules for the digital age”. Europe could become the first region to treat open source maintainers as personnel for critical infrastructure, he says, which could make digital infrastructure more resilient.

Many questions remain open

In terms of budget, the paper is relatively concrete – but apart from that, the plans remain vague. What will the new programme’s name mean for the NLnet Foundation, which distributes open source funding to developers? This is currently causing a few headaches for the Foundation’s employees, as it could potentially mean that it will have to stop its work completely.

Developers are also still asking a lot of questions about what the Open Internet Stack will mean for them. Even the best-known open source projects that have so far benefited from EU support are so far still in the dark.

The difficult topic of procurement

The paper also lists a number of other ideas for the EU’s open source policy. One key problem that open source developers have been pointing out for years is public procurement. They often face major problems selling their products to public authorities because their processes are set up for readily available software packages.

The paper calls on the EU to better align its procurement rules with open source. The personnel responsible for buying software should also be better educated on how open source software works – with the Commission setting a good example.

The proposals might come at just the right time. Yesterday Euractiv reported that the EU Commission is actively negotiating to switch its internal cloud services from Microsoft Azure to the French open source cloud provider OVH Cloud. The EU’s rules for public procurement are also currently being reformed.

Another idea is an EU legal form for open source organisations financed through donations. This legal form should be easy, the paper argues, and therefore accessible to developers. This could contribute to fixing problems faced for example by Mastodon, which was stripped of its charitable status by the German tax authorities.


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19.06.2025 16:31

Ein internes Papier gibt Hinweise auf die EU-Politik für Open Source in den kommenden Jahren. Ein schon etabliertes Förderprogramm soll unter einem neuen Namen weiterlaufen, mit Fokus auf Kommerzialisierung. Die Kommission soll sich auch für mehr Open Source in der Verwaltung einsetzen – und über eine eigene Rechtsform nachdenken. Viele Fragen bleiben offen.

Eine unklare Menge an Lichtern
Die Pläne der Kommission sind nicht wirklich klar. – Public Domain Pexels / Rô Acunha

Die EU-Kommission fördert seit Jahren Open-Source-Projekte. Zentral war dabei bisher ein Programm namens Next Generation Internet (NGI), das schnell und unbürokratisch Geld an vielversprechende Projekte verteilt – etwa den dezentralen Mikroblogging-Dienst Mastodon, die Videoplattform-Software PeerTube oder die Videokonferenz-Anwendung Jitsi.

Diesem NGI-Programm will die Kommission aber den Geldhahn abdrehen. Daran gibt es seit Monaten laute Kritik. NGI funktioniere gut und effizient, so die Botschaft verschiedener Gruppen. Open Source spiele eine zentrale Rolle dabei, Europa vor ausländischen Akteuren zu schützen – das sei gerade im aktuellen geopolitischen Umfeld sehr wichtig.

Die Kommission verweist seit Monaten darauf, dass das Ende von NGI nicht das Ende ihrer Open-Source-Förderung bedeuten soll. Die soll unter einem neuen Namen weiterlaufen – zuerst „Open Europe Stack“, inzwischen „Open Internet Stack“. Wichtig: Trotz des ähnlichen Namens hat das Programm nur indirekt mit dem „EuroStack“ zu tun.

Buzzword-Bingo

Aber was genau bedeutet das? Warum braucht es überhaupt ein neues Programm? Was soll sich mit dem neuen Namen ändern? Wie viel Geld soll das neue Programm haben? Darauf gab es bisher noch keine genauen Antworten.

In der offiziellen Beschreibung ist die Rede von einem „öffentlich verfügbaren und laufenden Stack“. Der soll sich auf „Internet-Technologien für Vertrauen, Transaktionen, Konnektivität und Dezentralisierung“ konzentrieren. Dabei soll eine „Bibliothek an inklusiven, vertrauenswürdigen, interoperablen und menschenzentrierten Anwendungen und Diensten“ entstehen.

Ein tatsächlich neuer Punkt: Das neue Programm soll mit dem sogenannten „Connected Collaborative Computing“-Netzwerk, kurz 3C-Netzwerk, verbunden sein. Dieses Netzwerk ist ein Wunschtraum der Kommission für ein Internet, das sich stärker auf Telekommunikationsfirmen stützen soll – einer der wenigen Sektoren, in denen Europa digital noch mitreden kann. Auch diese Idee ist aber momentan noch sehr vage.

Thibault Kleiner, Direktor im Generaldirektorat Connect der Kommission, wurde heute etwas konkreter. „Wir sind an einem Punkt, wo wir uns weiterentwickeln müssen“, sagte er heute beim jährlichen NGI-Forum in Brüssel. Die Arbeit des Programms sei ein großer Erfolg gewesen, ergebe aber nicht genug in Geschäftserfolge: „Wir machen die Arbeit, aber wir ziehen daraus keinen Gewinn.“ Der neue Fokus soll laut ihm auf Software liegen, die als glaubwürdige Alternative zu Big-Tech-Angeboten dienen soll.

Es stehen Entscheidungen an

Noch mehr Details zum Open Internet Stack liefert ein internes Dokument, dass ein Berater für die Kommission verfasst hat. Eine Kurzversion des Dokuments hat die Kommission für das NGI-Forum freigegeben – wir veröffentlichen die vertrauliche, vollständige Version des Dokuments.

Am konkretesten wird das Papier zum Budget des zukünftigen Programms. Das ist besonders wichtig, weil in Brüssel bald die Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union beginnen. Der wird für die Jahre 2028 bis 2034 grob vorgeben, wofür die EU wie viel Geld ausgeben will – etwa, wie sehr sie Open-Source-Entwickler:innen fördern kann.

Wie viel Geld darf’s sein?

Das Dokument skizziert für diesen Zeitraum vier Szenarien: gar kein Geld, so viel wie bisher, ein wenig mehr Geld oder doppelt so viel. Sollte die EU-Kommission Open Source gar nicht mehr fördern, könnte Europa noch abhängiger von nicht-europäischer Software werden, warnt der Autor des Dokuments. Fachkräfte könnten abwandern.

Die Kommission könnte auch das bisherige Fördermodell von NGI weiterführen. Das habe sich bisher bewährt, schreibt auch der Autor des Papiers. Kosten würde das die Kommission insgesamt 35 Millionen Euro pro Jahr. Diese Option könnte auf dem aufbauen, was NGI bisher schon erreicht habe, und durch das unbürokratische Fördermodell auch kleine Organisationen erreichen.

Als dritte Option erwägt das Dokument ein Jahresbudget von 50 Millionen Euro, mit dem die europäische Digitalindustrie angefeuert werden soll. Das zusätzliche Geld soll etwa in den Bildungssektor fließen oder neue Unternehmen unterstützen. Gesonderte Budgets soll es für Technologie geben, die für Europa „kritisch“ ist – was auch immer das heißen soll.

Bei der vierten Option soll es sogar 70 Millionen Euro pro Jahr geben. Damit könnte Europa „die Regeln für das digitale Zeitalter setzen“, sagt der offenbar sehr optimistische Autor voraus. Mit diesem Geld könnte man zur ersten Region werden, die Open-Source-Maintainer als Personal für kritische Infrastruktur behandelt. Das könnte die digitale Infrastruktur widerstandsfähiger machen.

Noch viele Fragen offen

Die Zahlen für das Budget sind zwar relativ konkret – aber darüber hinaus bleiben die Pläne vage. Was bedeutet der neue Name etwa für die NLnet Foundation, die aktuell die Open-Source-Fördermittel an Entwickler:innen verteilt? Diese Frage bereitet momentan den Mitarbeitenden dort einiges Kopfzerbrechen. Es könnte auch sein, dass die Stiftung ihre Arbeit komplett einstellen muss.

Auch die Entwickler:innen sind momentan noch im Unklaren darüber, was der Open Internet Stack für sie bedeutet. Selbst die bekanntesten Open-Source-Projekte, die die EU bisher unterstützt hat, haben momentan noch eine Menge Fragen.

Das schwierige Thema Beschaffung

Das Dokument enthält auch noch eine ganze Liste an weiteren Ideen, was die EU in Sachen Open Source tun könnte. Ein zentrales Problem, auf das Open-Source-Entwickler:innen seit Jahren hinweisen, ist die öffentliche Beschaffung. Sie haben oft große Probleme damit, ihre Produkte an Behörden zu verkaufen, weil deren Prozesse für fertig verfügbare Software-Pakete aufgebaut sind.

Das Dokument schlägt deshalb vor, dass die EU ihre Verfahrensregeln besser auf Open Source ausrichten soll. Außerdem soll das zuständige Personal darüber fortgebildet werden, wie die Entwicklung von Open-Source-Software funktioniert. Die Kommission soll dabei mit gutem Beispiel vorangehen.

Diese Vorschläge kommen zu einem guten Zeitpunkt: Erst gestern berichtete Euractiv, dass die Kommission aktiv darüber verhandelt, für interne Cloud-Dienste von Microsoft Azure auf den französischen Open-Source-Cloud-Anbieter OVH Cloud umzusteigen. Auch die Beschaffungsregeln für Europas Behörden werden gerade überarbeitet.

Eine weitere Idee ist eine EU-Rechtsform für spendenfinanzierte Open-Source-Organisationen. Diese Rechtsform soll vor allem einfach und damit für Entwickler:innen zugänglich sein. Das könnte Problemen wie denen von Mastodon begegnen, dem in Deutschland die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde.


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