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15.09.2025 18:03

Nach dem Attentat auf den rechtsradikalen Influencer Charlie Kirk gerät in den Medien einiges durcheinander und aus dem Blick. Wir haben mit der Autorin Berit Glanz über Online-Kultur und Offline-Gewalt, kryptische Memes und Nihilismus gesprochen.

Ein FBI-Beamter mit einer Kamera untersucht eine beschriftete Wand
Ein FBI-Agent untersucht den Tatort auf dem Campus der Utah Valley University. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / UPI Photo

Am vergangenen Mittwoch wurde der rechtsradikale Influencer Charlie Kirk erschossen. Obwohl er sich immer wieder wieder klar antisemitisch, rassistisch und LGBTQI+-feindlich geäußert hatte, erklärten ihn einige etablierte Medien posthum zum Kämpfer der Redefreiheit. „Kirk hat Politik auf genau die richtige Weise praktiziert“, schrieb etwa Ezra Klein in der New York Times. „Er tauchte an Universitäten auf und sprach mit jedem, der mit ihm reden wollte.“

In Deutschland kam es zu ähnlichen Trauerbekundungen. Manuel Ostermann, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, lobte Kirks „Einsatz für Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschlichkeit“. Und die CDU-Bundestagsabgeordnete Caroline Bosbach beschrieb Kirk auf Instagram als „Kämpfer für westliche Werte“, mit ihm sterbe „eine der einflussreichsten jungen konservativen Stimmen weltweit“. Den Post hat die Politikerin nach vielfacher Kritik inzwischen gelöscht.

Bereits unmittelbar nach der Tat hatte US-Präsident Donald Trump die „radikale Linke“ für den Tod seines Unterstützers Kirk verantwortlich gemacht und landesweit Trauerbeflaggung angeordnet. Elon Musk schrieb auf X: „The Left is the party of murder.“ Etliche weitere Stimmen sahen in dem Anschlag einen Aufruf „der Linken“ zum Bürgerkrieg.

Seit Donnerstagabend sitzt der 22-jährige Tatverdächtige Tyler R. in Untersuchungshaft. Er stammt aus dem Bundesstaat Utah und gehört offenbar einer Familie von Trump-Anhänger:innen an. Ehemalige Mitschüler:innen beschreiben ihn als zurückhaltend und online sehr aktiv.

Wir haben mit Berit Glanz über den Fall und seine mediale Deutung gesprochen. Sie ist Schriftstellerin und Essayistin, lebt in Island und veröffentlicht regelmäßig den Newsletter Phoneurie, in dem es um die „allgegenwärtige Verzahnung von virtuellem und realem Raum“ geht.

Eine Person zwischen Tannenzweigen
Berit Glanz - Alle Rechte vorbehalten Cat Gundry-Beck

Medien und Missverständnisse

netzpolitik.org: Nach dem Attentat auf Charlie Kirk veröffentlichten mehrere etablierte Medien Nachrufe, die den rechtsradikalen Influencer als eine Art Märtyrer der Redefreiheit darstellen. Wie kommt es dazu?

Berit Glanz: Ich glaube, dass Kirk eine Projektionsfläche ist. Es geht überhaupt nicht darum, was er gesagt hat, wer er als Person ist und was seine Geschichte im Internet ist. Sondern es geht einfach nur darum, wie man diesen Mord für eigene politische Ziele stilisieren kann.

Etwas Ähnliches passierte nach der mutmaßlichen Tat von Luigi Mangione, …

netzpolitik.org: … der im vergangenen Dezember Brian Thompson erschossen haben soll, den damaligen CEO von UnitedHealthcare.

Berit Glanz: Auch dieser Mord wurde umgehend dazu verwendet, um eine bestimmte politische Agenda zu pushen. Und zwar von vielen Seiten.

Das Gleiche ist jetzt bei Kirk passiert. Rechte nutzen das Attentat, um eine Machtposition im Diskurs zu gewinnen. Sie behaupten dann etwa, dass ihre Positionen so gefährlich seien, dass sie dafür ermordet würden. Im aktuellen Fall und bei Luigi Mangione sehen wir also einen sehr unehrlichen Diskurs, in dem die Gewalttat so genutzt wird, das sie dem jeweiligen Milieu den maximalen politischen Nutzen bringt.

netzpolitik.org: Erkennen Sie auch Parallelen, wenn Sie die Debatte in den sozialen Medien verfolgen?

Berit Glanz: Im Internet wird die Debatte teilweise besser geführt. Dort gibt es eine größere Kompetenz bei der Einordnung von Personen und es werden sehr viel mehr Originalquellen verlinkt. So können alle gut nachverfolgen, wie bestimmte Behauptungen zustandekommen.

Ich habe außerdem den Eindruck, dass es auf Reddit und Blue Sky, teilweise sogar auf Twitter eine größere Kenntnis darüber gibt, wer die Person Charlie Kirk gewesen ist. Besonders auffällig war das auf TikTok. Dort wurden sehr viel Clips von Charlie Kirk geteilt, also O-Töne von ihm als rechten Influencer. Wer sich die Aufnahmen anschaut, erkennt schnell, dass vor wenigen Tagen kein friedlicher Debattierer ermordet wurde. Sondern dass Kirk eine massiv toxische Person war, die eine überaus gefährliche Rolle im öffentlichen Diskurs gespielt hat.

netzpolitik.org: Kirk war auch eine öffentliche Person. Man kennt seine Aussagen. Das unterscheidet ihn auch von Luigi Mangione, oder?

Berit Glanz: Ja, und zugleich kannten viele Leute seine Aussagen offenkundig nicht. Das finde ich so faszinierend: Da ist ein Mensch gestorben, der vielen Leuten, die sich aktiv im Internet aufhalten, klar ein Begriff ist. Andere wiederum hörten seinen Namen das erste Mal und mussten ihre 15-jährigen Kinder fragen, wer das ist.

Dabei hat Charlie Kirk eine wichtige Rolle dabei gespielt, dass Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl gewonnen hat. Und dennoch ist er einer bestimmten Generation, die sich nicht auf diesen Plattformen aufhält, schlichtweg unbekannt.

Es gibt also offenkundig eine große Informationslücke über Influencer, die einen Diskurs bestimmen, die radikalisieren und die eine aufpeitschende Wirkung haben.

Memes als Botschaften

netzpolitik.org: Im Laufe der vergangenen Tage taten sich dann weitere Informationslücken auf. Nämlich als bekannt wurde, dass auf den Patronen, die der Attentäter verwendete, kryptisch anmutende Sätze eingestanzt waren. Haben diese Botschaften Sie überrascht?

Berit Glanz: Beschrifteten Patronen zählen fast schon zum Standard bei solchen Gewalttaten. Die Patronen, mit denen der CEO Thompson getötet wurde, trugen die Worte „deny“, „defend“ und „depose“, wahrscheinlich ein Verweis auf die Geschäftspraktiken von US-Versicherungen. Dieses Mal waren es die Sätze wie „Hey fascist! Catch!“, „Oh bella ciao bella ciao bella ciao ciao ciao“ und „If you read this, you are gay lmao“.

Es bereitet den Tätern wohl eine Freude, wenn alle versuchen, in diese Botschaften etwas hinein zu interpretieren. Dieser hermeneutische Akt wird dann selbst zu einem essenziellen Teil ihrer Gewalttaten.

Bei Kirks Ermordung waren die Sprüche bekannt, bevor der Name des Verdächtigen kursierte. Prompt wurden die Botschaften als angeblich transideologisch identifiziert und der Täter einem bestimmten Milieu zugeordnet. Auch das war Teil der politischen Instrumentalisierung. Sind solche Vermutungen erst einmal in den Timelines und in der Welt, kriegt man sie nur noch sehr schwer wieder eingefangen.

netzpolitik.org: Warum nutzen Attentäter eine so große Bühne und greifen dann auf derart kryptischen Botschaften zurück, die fast unweigerlich für Missverständnisse sorgen?

Berit Glanz: Es wäre naheliegend und würde die Dinge auch sehr vereinfachen, wenn es ein klassisches Bekenntnisschreiben gäbe, das eine klare Ideologie ausformuliert. Aber das Internet funktioniert so halt nicht.

Der Mord an Kirk entstammt einer Trollkultur. Und da geht es immer auch darum, sich über die Ratlosigkeit anderer lustig zu machen. Es gibt einen Wissensvorsprung, bestimmte Eingeweihte können die Botschaften leicht dechiffrieren und daraus entsteht dann ein eigener Trollhumor. Bei allen anderen herrscht massive Verwirrung oder sie verirren sich in vorschnelle, aber falsche Annahmen.

netzpolitik.org: Ist die tödliche Gewalt dann ebenfalls Teil der Trollerei?

Berit Glanz: Wir sprechen seit mehr als zehn Jahren – also mindestens seit Gamergate – darüber, dass Minderheiten im Internet Trollkultur als Gewalt erleben. Dafür sind die Betroffenen eine Dekade lang belächelt worden. Das sei Hysterie oder sie seien zu empfindlich, war meist die Antwort.

Und dann bricht sich diese Gewalt ihren Weg in die Realität. Und es zeigt sich: Das ist eine reale Gewalt – im Internet und in der analogen Welt. Das jetzt Menschen sterben, zeigt jenen Menschen, die diese Gewalt lange ignoriert oder als irrelevant abgetan haben, dass diese da ist und mitunter tödliche Auswirkungen hat. Und diese Entwicklung wird sich mit dem Zusammengehen von Online und Offline, das wir seit einigen Jahren beobachten können, weiter verschärfen.

Schon jetzt gibt es keine klare Grenze mehr zwischen Online und Offline. Und die Gewalt, die es im Internet bereits seit Jahren gegeben hat, bahnt sich vermehrt ihren Weg in die Offline-Welt.

Und dass Memes in gewaltvollen Konflikten eine zentrale Rolle spielen, sehen wir nicht nur bei solchen Attentaten. Sondern das gibt es auch als Strategie im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Das ist ebenfalls ein Memewar – ein Krieg der Memes –, in dem beide Seiten Formen der Internetkommunikation einsetzen und damit versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

netzpolitik.org: Wie erklären Sie sich, dass das in den etablierten Medien noch immer so eine geringe Rolle spielt? Ist das ein Generationenproblem?

Berit Glanz: Es ist natürlich naheliegend, darin ein Altersproblem zu sehen. Das ist es aber nicht unbedingt. Was es vor allem braucht, ist eine Anerkennung von Gewalt und spezifischen Kommunikationsstrukturen im Internet. Und die sind nicht auf den Computer beschränkt oder auf ein paar merkwürdige Leute, die ihre Handys viel nutzen. Sondern das ist etwas, was in unser aller Welt hineinfließt und diese verändert.

Und das Bewusstsein dafür, dass es da etwas gibt, was man eventuell nicht versteht, muss jetzt entstehen. Vor allem Menschen in institutionellen Machtpositionen sollten zur Kenntnis nehmen, dass sie dieses Wissen erwerben müssen.

netzpolitik.org: In der öffentlichen Debatte sprechen wir viel über Social-Media- oder Gaming-Sucht und über Alterskontrollen und Handyverbote. Diskutieren wir also an entscheidenden Themen vorbei?

Berit Glanz: Ja, und zwar auf zwei Ebenen. Der Diskurs ist zum einen oftmals sehr alarmistisch. Und zum anderen ignoriert er, warum wir eigentlich im Internet sind.

Die meisten Menschen verbringen sehr viel Zeit im Netz und das hat Gründe. Weil es halt Spaß macht, weil wir da in sozialen Austausch gehen, weil wir dort einer besonderen Form von Humor begegnen. Das wird alles komplett ausgeblendet.

Und gleichzeitig gibt es die dunkle Seite von Radikalisierung durch Internetkultur, besonders bei Memes mit ihren mehrdeutigen Anspielungen. Diese Entwicklung wird in öffentlichen Debatten häufig nicht angeschaut. Stattdessen geht es sehr viel um Regulierung und ob man Teenagern das Handy verbieten soll. Ich glaube nicht, dass dieser Ansatz etwas bringt.

Rechtsradikaler Nihilismus

netzpolitik.org: Es scheint sich abzuzeichnen, dass der mutmaßliche Attentäter von Charlie Kirk der rechtsradikalen Szene entstammt. Ein Motiv für den Mord könnte demnach in den Groyper Wars liegen. Was hat es damit auf sich?

Berit Glanz: Die Rechte im Internet ist fragmentiert. Es gibt unterschiedliche Fraktionen, die sich seit Jahren bekriegen. Zu den Streitfragen zählen etwa der Umgang mit Israel, mit Antisemitismus oder bestimmte Vorstellungen von ideologischer Reinheit.

Zwei Fraktionen in der US-amerikanischen Rechten sind hier besonders einflussreich. Die eine scharrt sich um den rechten Influencer Nick Fuentes, die andere um Charlie Kirk. Daher haben viele, die sich gut im Internet auskennen, nach dem Attentat auch umgehend eine Verbindung zu diesem Konflikt gezogen. [Anm. d. Red.: Sogenannten Groypern sind Kirk oder Trump nicht rechtsextrem genug.]

Das größere gesellschaftliche Problem sind aber die Gemeinschaften junger Männer im Internet, die sich antisozial gebärden. Das können Fan-Communitys sein, teilweise sind das auch Gaming-Subkulturen. Dieses Problem bekommt man nicht in den Griff, wenn man jetzt nur auf die Groyper Wars blickt. Stattdessen müssen wir untersuchen, in welche Radikalisierungskanäle junge Männer gelangen. Dazu gehören Incel-Culture und Andrew Tate, aber auch bestimmte Formen von Sport- und Körperkult, die etwa auf TikTok oft ein Einstieg sind in rechtes und maskulinistisches Denken.

Diese Foren müssen wir uns gründlich anschauen. Und wir müssen darüber nachdenken, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Das ist für mich die eigentliche Antwort, die wir auf den Mord an Charlie Kirk geben sollten.


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15.09.2025 15:47

Der Berliner Verfassungsschutz soll neue Regeln bekommen. Ginge es nach dem schwarz-roten Senat, dürfte er künftig live auf Videoüberwachung von Einkaufszentren oder Krankenhauseingängen zugreifen, um Menschen zu observieren. Fachleute stufen das als verfassungswidrig ein.

Überwachungskamera im Vordergrund, Foyer eines Einkaufszentrums im Hintergrund
Wer sieht, was die Überwachungskamera beim Shopping erfasst? – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Kamera: pawel_czerwinski, Einkaufszentrum: Chethan KVS

Umfangreicher Zugriff auf Videoüberwachung, weitreichende Überwachung von Kontaktpersonen und schwache Transparenzpflichten: Der Berliner Verfassungsschutz soll neue Befugnisse bekommen. Einen Gesetzentwurf dazu legte die schwarz-rote Landesregierung im Mai dem Berliner Abgeordnetenhaus vor. Am heutigen Montag waren Sachverständige im Verfassungsschutz-Ausschuss des Landesparlaments und äußerten verfassungsrechtliche Bedenken.

Besonders alarmiert hat die Fachleute offenbar die geplante Neuregelung zur Videoüberwachung. Der neue Paragraf zu Observationen sieht vor, dass Betreiber:innen von Videoüberwachungsanlagen verpflichtet werden können, „die Überwachung auszuleiten und Aufzeichnungen zu übermitteln“. Das beträfe Überwachungskameras an „öffentlich zugänglichen großflächigen Anlagen“ oder in „Fahrzeugen und öffentlich zugänglichen großflächigen Einrichtungen des öffentlichen Schienen-, Schiffs- und Busverkehrs“.

Videoüberwachung aus Parks, Einkaufszentren, Krankenhäusern

Das bedeutet: Observiert der Verfassungsschutz eine Person, kann er sich dafür im Zweifel Live-Zugang zu den Überwachungskameras eines Einkaufszentrums oder einer S-Bahn geben lassen. Der Jurist David Werdermann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) stuft das in seiner Stellungnahme als verfassungswidrig ein.

Bei einer solchen Maßnahme sind regelmäßig unzählige Personen betroffen, die nicht im Fokus des Inlandsgeheimdienstes stehen. „Wer sich in Berlin im öffentlichen Raum bewegt, müsste daher künftig permanent damit rechnen, durch den Inlandsgeheimdienst beobachtet zu werden“, schreibt Werdermann. „Die Befugnis ermöglicht eine nahezu durchgängige Rundumüberwachung aus der Ferne.“

Das schreibt auch die Berliner Landesdatenschutzbeauftragte Meike Kamp. Im Gegensatz zu klassischen Observationen gehe es beim Zugriff auf die Videoüberwachungseinrichtungen auch privater Stellen um „deutlich eingriffsintensivere Maßnahmen, für die strengere Maßstäbe und gesetzliche Erfordernisse gelten“. Sie zählt eine ganze Reihe Orte auf, die von der neuen Regelung erfasst wären, „sogar der Besucherbereich einer Arztpraxis oder eines Krankenhauses während der Öffnungs- bzw. Besuchszeiten“.

Kamp kritisiert außerdem, dass im Entwurf nicht eindeutig festgelegt sei, wie lange ein solcher Zugriff stattfinden dürfe. Außerdem fehle eine spezifische Eingriffsschwelle, ihrer Meinung nach bedarf es bei so einer invasiven Maßnahme einer „mindestens erhöhten Beobachtungsbedürftigkeit als Eingriffsvoraussetzung“ und es sollte einen generellen Richtervorbehalt geben.

Umfeldausforschung mit Auskunftsersuchen

Als unverhältnismäßig kritisiert Kamp ebenfalls die geplante Neuregelung zu Auskunftsersuchen zu Bestandsdaten bei Telekommunikationsanbietern. Im Gesetz selbst gibt es keine Beschränkung, „dass das Auskunftsverlangen nur erfolgen darf, wenn die Daten zur Aufklärung tatsächlich erforderlich sind“.

Werdermann bemerkt außerdem, dass die Auskunftsersuchen – auch diejenigen zu Verkehrs- und anderen Daten – nicht im Kapitel für „Nachrichtendienstliche Mittel“ eingegliedert sind. Das habe zur Folge, dass die Ersuchen nicht nur gegen eine bestimmte Zielperson eingesetzt werden könnten, sondern zusätzlich gegen Dritte. „Damit eröffnet der Gesetzgeber eine ins Blaue hineingehende Möglichkeit der Überwachung des gesamten Umfelds einer Zielperson mittels Auskunftsersuchen“, so Werdermann.

Diese Eingruppierung wirkt sich außerdem aus, wenn der Inlandsgeheimdienst entsprechend gewonnene Daten an andere Behörden übermitteln will. Auch hier würden für die Informationen aus Auskunftsersuchen geringere Voraussetzungen gelten, wenn sie nicht als nachrichtendienstliche Mittel gelten.

Keine Selbstauskunft ohne Selbstbezichtigung?

Der Auskunftsanspruch für Betroffene ist im neuen Gesetz sehr restriktiv geregelt. Wer vom Berliner Verfassungsschutz künftig wissen wollen würde, ob Daten zur eigenen Person vorliegen, soll dabei auf „einen konkreten Sachverhalt“ hinweisen und „ein berechtigtes Interesse an der Auskunft“ darlegen. Das heißt, eine Person müsste sich wohl teils selbst bezichtigen, warum sie für den Inlandsgeheimdienst interessant sein könnte.

„Hierdurch wird der Auskunftsanspruch unverhältnismäßig eingeschränkt“, schreibt dazu die Berliner Landesdatenschutzbeauftragte. Kamp gibt zu Bedenken, dass der Verfassungsschutz in der Regel im Geheimen agiert, ohne dass Personen etwas davon mitbekommen. „Wer beispielsweise erfasst ist, weil ein Informant ihn mit einer anderen Person verwechselt hat, wird bei Beantragung einer Auskunft zum konkreten Sachverhalt naturgemäß keine Angaben machen können“, so Kamp.

Staatstrojaner und mangelnde Kontrolle

Neben diesen Punkten enthält das geplante Gesetz eine Vielzahl weiterer grundrechtssensibler Vorschläge. Der Berliner Verfassungsschutz soll künftig Staatstrojaner für die sogenannte Online-Durchsuchung nutzen dürfen, um eine „konkretisierte Gefahr für ein besonders bedeutendes Rechtsgut“ abzuwehren. Das soll dann erlaubt sein, wenn „geeignete polizeiliche Hilfe“ nicht rechtzeitig erlangt werden könne.

Weitaus kürzer als die vorgesehenen Befugnisse reichen die geplanten Berichts- und Rechenschaftspflichten für den Inlandsgeheimdienst. Berichtspflichten gelten zwar für einige Auskunftsersuchen, Werdermann vermisst sie aber für Observationen, verdeckt eingesetzte Dienstkräfte oder Online-Durchsuchungen. Dort, so seine Stellungnahme, „sind keine Berichtspflichten vorgesehen, obwohl hier ein noch viel stärkeres Bedürfnis an einer Kontrolle durch das Parlament besteht“. Ohne verfügbare Zahlen dazu, wie und wie häufig die Behörde ihre Befugnisse einsetzt, ist eine öffentliche Kontrolle nicht möglich.

Nach der Anhörung im Verfassungsschutzausschuss des Parlaments steht bei dem Gesetzentwurf aus dem Senat noch eine letzte Lesung im Plenum an. Vorher kann der Ausschuss nachbessern und die Kritik der Sachverständigen berücksichtigen. Eine Reform des Verfassungsschutzgesetzes war auch wegen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts notwendig geworden, die etwa das hessische und das bayerische Verfassungsschutzgesetz rügten.

Nimmt das Abgeordnetenhaus die Kritik der Sachverständigen nicht ernst, könnte erneut ein Ländergesetz zu einem Inlandsgeheimdienst vor Gericht landen.


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15.09.2025 15:07

Der Einsatz von Staatstrojanern durch den BND gefährdet den journalistischen Quellenschutz. Reporter ohne Grenzen zieht deshalb nun vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Es geht auch darum, dass die Betroffenen mangels Informationspflichten gar keine Chance haben, sich zu wehren.

Pegasusfigur auf Smartphone
Auch der BND setzt auf den Staatstrojaner Pegasus. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Christian Ohde

Der Journalist:innen-Verband Reporter ohne Grenzen (RSF) verklagt den deutschen Auslandsgeheimdienst BND vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen des Einsatzes von Staatstrojanern. Mit ihrer Klage war die die Organisation schon vor dem Bundesverwaltungsgericht, das die Klage für unzulässig erklärte, wie auch vor dem Bundesverfassungsgericht, das die Klage nicht annahm, gescheitert. Laut RSF liegt das daran, dass die Klage nicht im Namen von konkret betroffenen Kläger:innen gestellt wird.

Nach Auffassung des Verbandes verletzt die Überwachung mit Staatstrojanern grundlegende Rechte gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK): das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8), das Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit (Artikel 10) sowie das Recht auf wirksame Beschwerde (Artikel 13).

„Wir sind durch alle rechtlichen Instanzen in Deutschland gegangen, um sicherzustellen, dass diese Grundrechte geschützt werden, doch nun hat auch das Bundesverfassungsgericht unsere Beschwerde ohne Begründung abgelehnt. Daher wenden wir uns jetzt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“, sagt Anja Osterhaus, Geschäftsführerin von Reporter ohne Grenzen Deutschland.

Fehlender Rechtsschutz durch Nachweispflicht

Reporter ohne Grenzen will mit der Klage auf ein Problem hinweisen: In Deutschland verlangen Gerichte einen Nachweis, dass man selbst Ziel einer geheimen Überwachung war, bevor sie eine Klage gegen die Überwachungsmaßnahme annehmen. Diesen Nachweis zu liefern, sei aber faktisch unmöglich, weil die Maßnahmen des Geheimdienstes im Verborgenen stattfinden würden. Wer dagegen klagen wollte, müsste sich selbst bezichtigen – also einräumen, in einer Konstellation tätig zu sein, die den Einsatz eines Staatstrojaners rechtfertigen könnte, heißt es in der Pressemitteilung. Der RSF bezeichnet das als „unzumutbar hohe Hürden“, die die Organisation nun mit der Beschwerde in Straßburg abschaffen wolle, denn sie verhinderten effektiven Rechtsschutz für Journalist:innen.

Journalist:innen müssten sich auf die Vertraulichkeit ihrer Kommunikation verlassen können, der Einsatz von Staatstrojanern würde diese Vertraulichkeit jedoch untergraben. „Der Geheimdienst kann Journalisten heimlich per Trojaner überwachen, ohne dass der Betroffene hiervon jemals erfährt. Hiergegen gibt es in Deutschland keinen Rechtsschutz, wenn vom Betroffenen auch weiterhin Nachweise für eine Überwachung verlangt werden. Dies steht einem demokratischen Rechtsstaat schlecht zu Gesicht und verstößt gegen die Menschenrechte“, sagt Rechtsanwalt Niko Härting, der das Verfahren für RSF führt.


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14.09.2025 12:52

Elon Musk hat am Samstag als Sprecher einer Großdemonstration zu Gewalt aufgerufen. Doch die Bundesregierung und viele Medien sind weiterhin auf seiner Plattform X. Was muss eigentlich noch passieren, bis sie diesem gewaltbereiten Rechtsradikalen den Rücken kehren? Ein Kommentar.

Elon Musk (rechts) in einer Liveschaltung mit dem britischen Neonazi Tommy Robinson. Screenshot: Hindustan Times

Gestern hat Elon Musk per Liveschaltung auf der Großdemo des bekanntesten britischen Neonazis – Tommy Robinson – unverhohlen zu Gewalt aufgerufen. Elon Musk ist der reichste Mann der Welt, er besitzt, kontrolliert und steuert die Plattform X, er macht sie zum Werkzeug für eine rechtsradikale Revolution. Musk unterstützt international rechtsextreme Parteien wie die AfD in Wahlkämpfen, er zeigt den Hitlergruß, verbreitet Desinformation. Und jetzt also der nur noch dürftig verklausulierte Aufruf zur Gewalt.

Was muss eigentlich noch passieren, damit die Bundesregierung, der Bundeskanzler, das Außenministerium, die Tagesschau, die ZEIT, der Spiegel oder der Zentralrat der Juden dieser Plattform eines zu allem entschlossenen gewaltbereiten Rechtsradikalen den Rücken kehren? Wann kapieren die Verantwortlichen dieser Accounts, dass sie mit ihrer Anwesenheit bei einem derartig mit dem Eigentümer verbundenen Dienst eben jenem Eigentümer mit ihrem guten Namen Relevanz und Reputation verleihen? Wann kapieren sie, dass ihre Anwesenheit der Propagandabude X Seriosität verleiht und dass sie sich letztlich gemein machen mit der Sache von Elon Musk?

Kommt mir nicht mit Reichweite und den wohlfeilen Argumenten, dass man die demokratische Diskussion dorthin tragen müsse, wo es wehtut. Dieses ganze rechtfertigende Gelaber, ich bin es satt: Irgendwann muss auch mal Schluss sein, wenn man noch ein Fünkchen Moral in der Tasche hat und als Demokrat:innen einen Rest Glaubwürdigkeit behalten will.

Sonst immer Neutralität, aber der Aufruf zu Gewalt ist OK?

Stellen wir uns einmal vor, dass Musk ein Linker wäre, der permanent für eine friedliche Revolution zum Sozialismus werben würde. Das wäre doch schon zuviel. Ihr wärt doch schon lange gegangen, denn die heilige Neutralität ist ja so wichtig und das wäre alles ganz schlimme Propaganda, die dem Eigentümer einer so wichtigen Nachrichten- und Informationsplattform nicht zusteht. Was wäre das Gezeter groß…

Aber Aufrufe zu Gewalt und Bürgerkrieg und Hitlergrüße und Antisemitismus und Desinformation und Drehen an den Algorithmen, damit die Nazis mehr Reichweite erhalten, das alles nehmt Ihr achselzuckend hin. Weil es der Zeitgeist ist? Traut Ihr Euch nicht mehr, weil die Rechten so stark sind? Was ist eigentlich los bei Euch?

Vielleicht deswegen nochmal zur Erinnerung, welchen Appell Musk am Samstag im Rahmen der Demonstration gegen Einwanderung an die britische Bevölkerung richtete. Ihr sitzt mit Euren Accounts quasi im Funkhaus dieses Typen.

Dies ist eine Botschaft an die vernünftige Mitte, an die Menschen, die sich normalerweise nicht in die Politik einmischen, die einfach nur ihr Leben leben wollen. Sie wollen das nicht, sie sind still, sie gehen einfach ihren Geschäften nach. Meine Botschaft an sie lautet: Wenn das so weitergeht, wird die Gewalt auch Euch erreichen, Ihr werdet keine Wahl haben. Ihr befindet euch hier in einer grundlegenden Situation. Ob Ihr Euch für Gewalt entscheidet oder nicht, die Gewalt wird Euch einholen. Entweder Ihr wehrt Euch oder Ihr sterbt – das ist die Wahrheit.

Was muss eigentlich noch alles passieren, bis Ihr eure X-Accounts endlich dichtmacht?

Korrekturhinweis 14.9. – 20:30 Uhr:
Wir haben im übersetzten Zitat eine Kleinigkeit korrigiert. Elon Musk sagt in der Videoschalte nicht „das ist meiner Meinung nach die Wahrheit“, sondern „Das ist die Wahrheit“.


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14.09.2025 10:51

Gerade wenn ein Problem rein technisch erscheint, lohnt es sich, eine Frage zu stellen: Was macht das mit den Menschen? Das könnte einigen Schaden verhindern, bevor etwas wild drauf los digitalisiert wird, findet unsere Kolumnistin Bianca Kastl.

Eine kurvenreiche Straße im Wald, aus der Vogelperpektive
Lässt sich das abkürzen? – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Maksym Mazur

Die heutige Degitalisierung startet mit tiefsinnigen Fragen. Sie stammen aus einer Konversation über ein vermeintlich rein technisches Problem.

„Aber was macht das mit den Menschen?“ Vielleicht ist diese Gegenfrage, wie sich der Einsatz von Technik auswirkt, nicht unbedingt das Erste, was ihr erwarten würdet, wenn ihr einer Expert*in eine vermeintlich ausschließlich technisch geartete Frage stellt.

Es folgten eine zweite ungewöhnliche Frage und ein eindringlicher Appell, die heute immer noch in meinen Gedanken nachhallen. Auch nach Jahren.

„Kann es Menschen Schaden hinzufügen? Dann solltest du das nicht weiter vorantreiben.“

Die Fragen und den Appell habe ich tatsächlich im Gespräch mit einer bekannten Person aus dem Fachbereich der Kryptografie zu hören bekommen. Ganz im Sinne der Privatsphäre sei jetzt nebensächlich, wer genau das war. Die Wahrscheinlichkeit ist aber sehr hoch, dass sehr viele von euch das Werk dieser Person möglicherweise schon genutzt haben.

Im Wesentlichen haben diese Fragen nach der Wirkung von Technik auf Menschen und die Gesellschaft eine Abkürzung aufgezeigt. Eine Abkürzung hin zur eigentlichen Wirkung von Technik. Eine Abkürzung, die so wieder zu mehr Nutzen für alle führen kann.

Digitalisierung wirkt oftmals einfach und logisch. Alles sei durch Daten, Daten und Daten abbildbar und das sei ja auch wichtig für sogenannte Künstliche Intelligenz und Innovation und überhaupt – die Wirtschaft. Zuerst an die möglichen negativen Folgen zu denken und deshalb schon im Design bessere Lösungen mit weniger möglichem Schaden für Betroffene zu schaffen, scheint daher oftmals gar nicht so erstrebenswert. Leider.

Datenketten und Schulabbrüche

Um das mit der Schadensvermeidung besser zu verstehen, bedarf es vielleicht eines aktuellen Beispiels. Vor ein paar Tagen fiel der Spitzenkandidat der Grünen in Baden-Württemberg, Cem Özdemir, mit der Forderung nach einer Schüler-ID auf. Er forderte öffentlich eine eindeutige und dauerhafte Kennnummer für Schüler*innen, die quasi als „Schulabbrecher-Prellbock“ dienen würde. Eine Art Frühwarnsystem, das Alarm schlagen könne, „bevor ein Schüler durch das Raster fällt“.

Aber nicht nur in Baden-Württemberg gibt es Pläne für eine solche Schüler-ID, auch die Bundesregierung möchte das laut Koalitionsvertrag weiter voranbringen. Wie so häufig sind die Ziele von solchen digitalen Vorhaben oftmals im Kern löblich: Weniger Schüler*innen sollen die Schule ohne Abschluss verlassen, es soll bessere Fördermöglichkeiten geben.

Im Koalitionsvertrag steht sehr klar, wie das alles zu schaffen sei: Von einer datengestützten Schulentwicklung und einem Bildungsverlaufsregister ist da die Rede, von einer Schüler-ID, die auch gleich noch mit einer Bürger-ID verknüpft werden soll. Nach einem vermeintlich löblichen Ansinnen – die Schulabbrecherquote senken – folgt eine ganze Menge an potenziellem Schaden: mögliche dauerhafte Stigmatisierung wegen schlechter schulischer Leistungen, Reduktion auf nackte Zahlen bei Ignoranz der oftmals vielfältigen Gründe für schulische Probleme, Objektivierung von jungen Menschen, die immer persönlich anerkannt und wertgeschätzt werden sollten, und so weiter.

Ob eine Schüler-ID überhaupt wirksam ist, ist von der Datenlage her eher eine „entdeckerische, explorative“ Frage. Man müsse erst mal schauen, was sich über ein paar Jahre vielleicht statistisch begleiten lässt, so etwa die Aussage einer Professorin für Mediendidaktik im Breitband-Beitrag zum Thema. Sehr große Fragezeichen, unklare Risiken. Eigentlich sollte man das nicht vorantreiben.

Der vermeintlich löbliche Zweck der Schüler-ID, Schulabbrüche zu verhindern oder Schüler*innen besser zu fördern, schreit geradezu nach Privatsphäre-sensitiven Lösungen, die jedes Mal neue Chancen ermöglichen, sich zu verbessern. Unvoreingenommenheit braucht es hier etwa als wesentliches Merkmal, um Menschen jedes Mal neu gute Chancen zu bieten, zu einem guten Abschluss zu kommen, teils auch ein Leben lang.

Der Zweck schreit nicht nach einer typischen Verwaltungslösung mit mehr Daten und umfassenden Registern, er schreit erst mal nach gar keinen rein digitalen Lösungen. An sich ließe sich die digitalpolitische Diskussion hier schon wieder vollständig abkürzen. Sollte es aber unbedingt eine digitale Hilfslösung sein (müssen), dann müsste dies eine konsequent individuelle, vertrauliche und vergessliche Lösung sein, die Mängel in der schulischen Entwicklung anzeigt. Also eben kein Bildungsregister mit lebenslänglichen IDs, die dann auch noch mit einer Bürger-ID verknüpft werden.

Nichtnutzen und Markterfolg

Allzu oft scheint der ursprüngliche Sinn und Nutzen einer digitalen Lösung vergessen zu werden. Ein Paradebeispiel ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland, nicht erst seit der elektronischen Patientenakte „für alle“. Bevor jetzt wieder „der Datenschutz“ als Wurzel allen Übels herhalten muss, sollten wir erst einmal ein paar Jahre in die Vergangenheit schauen: Was war der Auslöser, das Gesundheitswesen in Deutschland zu digitalisieren? Welchen Nutzen wollte man stiften?

Ein wichtiges Ereignis in dieser Genese ist der Lipobay-Skandal von 2001. Dabei wurde der Cholesterinsenker Cerivastatin nach Todesfällen vom Markt genommen. Nach der Untersuchung der betroffenen Patient*innen stellte sich heraus, dass es kaum Aufzeichnungen über Medikamente gab. Damals wurde die Einführung einer Chipkarte vorgeschlagen, um darauf die verordneten Medikamente zu speichern und mögliche Kontraindikationen feststellen zu können.

Der Rest ist dann mehr oder weniger Geschichte, oder wie Detlef Borchers schon 2011 bei heise schrieb: Aus der einfachen Verschreibungsliste erwuchs ein höchst komplexes System, das Deutschland eine „telemedizinische Infrastruktur“ bescheren sollte.

Harter Sprung ins Jahr 2025: An der Digitalisierung des Gesundheitswesens Beteiligte schwärmen davon, dass jetzt die Medikationsliste – diesmal aber wirklich manifest geworden in der ePA für alle – Leben rette. „KI-ready“ sei die ePA jetzt auch, wenn der versprochene Nutzen schon etwas später und die Kosten ein paar unzählige Milliarden Euro teurer geworden sind als die ursprünglich gedachte Medikationsliste.

Auf dem Weg dorthin sind neben diversen Sicherheitsproblemchen, auf die speziell ich jetzt nicht noch mal eingehen möchte, neue Probleme mit der Verfügbarkeit dazugekommen. Ob das elektronische Rezept funktioniert, das vielleicht auch irgendwie zum Nutzen dieser Medikationsliste gezählt werden könnte, ist gefühlt so planbar wie eine Fahrt mit der Deutschen Bahn. Kaum ein Tag ohne Ausfälle und die Zuverlässigkeit des E-Rezepts stellt Apotheken jedes Mal aufs Neue vor Herausforderungen, um die medizinische Versorgung überhaupt sicherstellen zu können.

Erfolgreich sind in der Genese der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens eigentlich nur Unternehmen gewesen – auch dank dem in der Telematikinfrastruktur zelebrierten Marktmodell. Manche Firmen wie CGM verdienten besonders gut und deren Gründer finanziert jetzt mit dem vielen Geld rechte Newsportale.

Klar, es wäre auch anders gegangen in den 2000er-Jahren. Als nutzenfokussierte Abkürzung: mit eher kartenbasierten, offlinefähigen Anwendungen wie einer gut gemachten Medikationsliste zu starten. Aber der Drang noch mehr Daten, Daten, Daten und Überwachung war schon damals stärker.

Der zweifelhafte „Erfolg“ der Telematikinfrastruktur sollte bei allen digitalpolitischen Vorhaben eine Warnung sein. Eine Warnung, was passiert, wenn ursprüngliche, oft löbliche Ziele immer mehr aufgeblasen werden. Eine Warnung, was passiert, wenn trotz von vielen Seiten vorgebrachter, greifbarer Probleme immer wieder wild drauf los digitalisiert wird.

Gerade der aktuell sehr kritisch angegangene, nervige Datenschutz bietet Handlungsleitlinien wie Datensparsamkeit, Security by Design und Privacy by Design, um immer wieder über eine Abkürzung zum eigentlichen Zweck und Ziel von Digitalisierungsvorhaben zu kommen. Am Ende bleibt immer wieder die eine Frage zentral: Was macht das mit den Menschen?


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13.09.2025 09:44

Die 37. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 11 neue Texte mit insgesamt 67.374 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

Liebe Leser*innen,

diese Woche hat sich das Kabinett geeinigt: E-Sport-Vereine sollen künftig gemeinnützig sein dürfen. Das ist eine gute Nachricht und längst überfällig. Ebenso überfällig ist es, dass auch Journalismus endlich als gemeinnützig anerkannt wird. Doch dazu ist es bislang nicht gekommen. Dabei sind die Unterschiede zum E-Sport doch minimal.

Regelmäßig legen wir Speedruns hin, um frische Gesetzentwürfe einzuordnen. Unsere inzwischen mehr als 400 Artikel zur Chatkontrolle sind nichts anderes als übles Grinding. Pressestellen verhalten sich wie NPCs, wenn sie uns mit den immer gleichen Floskeln abwimmeln wollen. Und sobald eine neue Regierung ihren Koalitionsvertrag droppt, schalten wir in den Multiplayer-Modus und schreiben unsere Analyse auch mal mit zehn Leuten auf einmal – natürlich auf der Suche nach Easter Eggs.

Schon die Ampel hatte sich vorgenommen, Journalismus gemeinnützig zu machen, aber vor Ablauf der Legislaturperiode einen Selfkill hingelegt. Die nun mitregierende Union wiederum dürfte gemeinnützigen Journalismus für overpowered halten. Es scheint so, als betrachteten die immer weiter nach Rechtsaußen driftenden Konservativen kritische Medien und Zivilgesellschaft zunehmend als Endgegner. Wenn das so ist, haben sie die Quest nicht verstanden. Nicht die Zivilgesellschaft will die Demokratie am liebsten per Cheatcode deaktivieren, sondern Rechtsaußen. Das wiederholte populistische Zündeln der Union gegen NGOs ist vor allem ein Power-up für die AfD.

Für guten Journalismus braucht es nicht nur Skills, sondern auch Geld. Mit dem Boost durch Gemeinnützigkeit könnten sogar neue Redaktionen in der Medienlandschaft spawnen. Ansonsten überlassen wir die Map den Griefern, die mit Hetze und Desinformation um sich schießen. Wenn Journalismus gebufft wird, dann leveln alle up, die eine freie, offene Gesellschaft wollen.

gg
Sebastian


Trugbild: Plastik, Parasiten und Paranoia

Wir sind voller Schadstoffe und Gewürm. Das sagen Model-Mama Heidi Klum und „Langlebigkeits-Influencer“ Bryan Johnson. Dabei tragen die Promis selbst zur allgemeinen Vergiftung bei. Von Vincent Först –
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Fußfessel für Gewaltschutz: „Es gibt nur schlechte Optionen. Wir sollten sie alle umsetzen.“

In Spanien gilt sie als Erfolg, jetzt kommt sie auch in Deutschland: Die elektronische Fußfessel für Gewalttäter*innen soll Opfer von Partnerschaftsgewalt schützen. Doch Kriminologe Florian Rebmann warnt im Interview: In vielen Fällen hilft sie nicht – und könnte die eigentlichen Probleme verdecken. Von Chris Köver –
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Online-Werbung: Die EU muss Google aufspalten

Die EU-Kommission zwingt Google zunächst noch nicht dazu, Teile seines Werbegeschäfts zu verkaufen. Der Konzern muss zwar eine Strafe von 2,95 Milliarden Euro zahlen. Aber ob es zu einer Aufspaltung kommt, ist offen. Dabei kann nur sie die Interessenkonflikte Googles und seinen Machtmissbrauch dauerhaft beenden. Von Gastbeitrag, Ulrich Müller –
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Offener Brief: Hunderte Wissenschaftler:innen stellen sich gegen Chatkontrolle

Renommierte Forscher:innen erinnern die Mitglieder des EU-Parlaments und des EU-Rates daran, dass die Chatkontrolle „beispiellose Möglichkeiten für Überwachung, Kontrolle und Zensur“ bieten würde. Sie fordern, die Ursachen von sexualisierter Gewalt an Kindern zu bekämpfen statt Hunderte Millionen Menschen zu überwachen. Von Markus Reuter –
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Alaa Abd el-Fattah: Ägyptens Präsident prüft Begnadigung von berühmtem Blogger

Einen großen Teil seines Lebens verbrachte der Blogger und Aktivist Alaa Abd el-Fattah im Gefängnis. Nun könnte die Symbolfigur der ägyptischen Demokratiebewegung endlich freikommen. Von Markus Reuter –
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Datenschutzreform: Kommt der Kahlschlag?

Schwarz-Rot hat weitreichende Reformen beim Datenschutz angekündigt. „Im Sinne der Wirtschaft“ soll unter anderem die Aufsicht neu geregelt werden. Inzwischen liegen zahlreiche konkrete Vorschläge vor, unter anderem von SPD und Landesdatenschützer:innenn, nur die Union gibt sich verschlossen. Von Ingo Dachwitz –
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Druck auf Bundesregierung: Schleswig-Holstein drängt auf Digitalabgabe

Zuletzt ist es still um eine Digitalsteuer in Deutschland geworden. Nun könnte ein Vorstoß von Schleswig-Holstein der Debatte neues Leben einhauchen. Von Tomas Rudl –
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Amnesty-Bericht: Pakistan überwacht Bevölkerung mit deutscher Technologie

Pakistan hat laut Amnesty International eines der umfangreichsten staatlichen Überwachungssysteme außerhalb Chinas aufgebaut. Zulieferer neuester Technologie zur Überwachung und Zensur sind auch europäische und deutsche Unternehmen wie Thales und Utimaco. Von Timur Vorkul –
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Überwachungssoftware: Mehr als zwei Drittel lehnen Palantir ab

Geht es um polizeiliche Big-Data-Software und Datenanalyse, fällt immer wieder der Name Palantir. Wie eine aktuelle Umfrage zeigt, sehen Menschen über Parteigrenzen hinweg die Einführung von Überwachungssoftware des US-Konzerns mehrheitlich kritisch. Von Markus Reuter –
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Gut für alle: Gemeinwohlorientierter Journalismus braucht Rechtssicherheit

Die Bundesregierung will E-Sport gemeinnützig machen. Das ist richtig. Gemeinwohlorientierter Journalismus hingegen muss weiter mit Unsicherheiten rechnen. Das wird sich mit dieser Union auch kaum ändern – obwohl es gerade jetzt bitter nötig wäre. Ein Kommentar. Von Markus Reuter –
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Chatkontrolle: Noch hält sich Widerstand

Derzeit ist eine Einigung zur Chatkontrolle auf Ebene der EU-Mitgliedstaaten im Rat noch nicht absehbar. Doch ob etwa die Ablehnung aus Deutschland zum massenhaften Scannen privater Kommunikation weiter hält, ist ungewiss. Das hat auch eine Sitzung des Digitalausschusses im Bundestag gezeigt. Von Anna Biselli –
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12.09.2025 16:23

Derzeit ist eine Einigung zur Chatkontrolle auf Ebene der EU-Mitgliedstaaten im Rat noch nicht absehbar. Doch ob etwa die Ablehnung aus Deutschland zum massenhaften Scannen privater Kommunikation weiter hält, ist ungewiss. Das hat auch eine Sitzung des Digitalausschusses im Bundestag gezeigt.

Innenminister Dobrindt und Justizministerin Hubig stehen nebeneinander im Gespräch.
Auf sie beide kommt es wesentlich an, wenn es um die deutsche Position zur Chatkontrolle geht: Innenminister Dobrindt (CSU) und Justizministerin Hubig (SPD). – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Political-Moments

Ein polnischer Kompromissvorschlag zur Chatkontrolle war zuletzt im Rat gescheitert. Der hatte darauf gesetzt, dass Internet-Dienste zwar freiwillig die Inhalte ihrer Nutzer:innen auf Straftaten durchsuchen können, es aber keine verpflichtenden Anordnungen geben soll. Darauf konnten sich die EU-Mitgliedstaaten nicht einigen. Aber auch der neue Vorschlag der aktuellen dänischen Ratspräsidentschaft findet noch keinen vollen Rückhalt. Der kehrt im Gegensatz zum Kompromissvorschlag aus Polen wieder zurück zur ursprünglichen Linie, eine umfassend verpflichtende Chatkontrolle einzuführen, um nach Darstellungen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Grooming zu suchen.

Dass die Mitgliedstaaten sich seit mehr als drei Jahren mit dem Thema herumschlagen und nicht einfach grünes Licht für eine Massenüberwachung ohne Verdacht geben, ist einer Sperrminorität im Rat zu verdanken. Auch Deutschland hatte immer wieder Vorschläge blockiert, die vorgesehen hatten, etwa auch verschlüsselte Kommunikation zu scannen.

Bedenken gab es offenbar auch in der Sitzung der Gruppe „Strafverfolgung“ am Freitag, einem Vorbereitungsgremium des Rats. Dort hätten viele Mitgliedstaaten noch Vorbehalte angemeldet, heißt es aus EU-Kreisen.

Doch seit dem Regierungswechsel in der Bundesrepublik ist ungewiss, wie entschieden der deutsche Beitrag zur Verhinderung des anlasslosen Scannens noch ist. Federführend für die deutsche Position ist das CSU-geführte Innenministerium unter Alexander Dobrindt. Als bevölkerungsreiches EU-Land ist die hiesige Position ausschlaggebend dafür, ob eine Einigung auf Ratsebene zustande kommt.

Chatkontrolle im Digitalausschuss

Einen Einblick, wie es mit der deutschen Position zur Chatkontrolle aussieht, bot die Sitzung des Digitalausschusses im Bundestag am Mittwoch. Die fand nicht öffentlich statt, doch nach einem Bericht von „heute im bundestag“ erklärte eine Vertreterin des Bundesinnenministeriums, man könne die dänische Position „nicht zu 100 Prozent“ mittragen.

Nach Informationen von netzpolitik.org wurde in der Ausschusssitzung jedoch klar, dass es Spannungen zwischen Innen- und Justizministeriums (BMJV) gibt und eine geeinte Position Deutschlands noch nicht absehbar ist. Offenbar steht das BMI zwar weiterhin gegen ein Aufbrechen von Verschlüsselung, aber im Scannen von bekanntem Material auf den Endgeräten sieht es eine zustimmungsfähige Möglichkeit.

Das entspräche einem sogenannten Client-Side-Scanning, bei dem unverschlüsselte Inhalte vor oder nach dem Versenden untersucht werden. Das widerspricht der Position der Vorgängerregierung. Sicherheitsfachleute warnen vor dieser Methode, da sie Privatsphäre, IT-Sicherheit und Meinungsfreiheit gefährde.

„Ich finde es äußerst beunruhigend, dass die Bundesregierung sich dermaßen aus ihrer Verantwortung nimmt, hier eine Position zu beziehen“, so die Linkenabgeordnete Donata Vogtschmidt, die Obfrau ihrer Fraktion im Digitalausschuss ist. „Denn im Rat der EU hängt die bisherige Sperrminorität gegen Chatkontrolle unmittelbar von Deutschland ab.“ Bleibe die Bundesregierung nicht bei der Position ihrer Vorgängerregierung, „könnte der Damm brechen und das größte Überwachungspaket wahr werden, das die EU je gesehen hat.“

Jeanne Dillschneider, Obfrau für die Grünen im Ausschuss, schreibt gegenüber netzpolitik.org zu ihrem Eindruck von der Sitzung: „Gerade die Union hat in der Vergangenheit oft gezeigt, wie wenig ihr der Schutz digitaler Grundrechte bedeutet. Ähnliches befürchte ich nun erst recht beim unionsgeführten Innenministerium.“ Sie hält es deshalb für „umso entscheidender, ob das Justizministerium auch in dieser Legislaturperiode unsere digitalen Grundrechte hochhält“.

Justiz- und Innenministerium bleiben verschlossen

Ob es das tun wird? Das Haus unter Leitung von Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) hält sich auf Nachfrage von netzpolitik.org bedeckt und bittet darum, sich bei dem Thema an das „innerhalb der Bundesregierung federführend zuständige Bundesinnenministerium zu wenden“. Selbst will das Ministerium zu offenen Punkten für eine Einigung offenbar nichts sagen. Das Innenministerium hingegen teilt mit, es werde sich „zu laufenden Abstimmungen innerhalb der Bundesregierung grundsätzlich nicht äußern“.

„Vorsichtig hoffnungsvoll stimmt mich, dass einige Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen meine Kritik an der Chatkontrolle offenbar teilen“, schreibt Dillschneider weiter. „Die Frage wird nun sein, ob sie sich auch zu einer tatsächlichen Ablehnung der Chatkontrolle durchringen können. Sonderlich optimistisch bin ich hier allerdings nicht.“

Dillschneiders Ausschusskollegin Vogtschmidt will dafür sorgen, dass sich der Bundestag auch über Äußerungen in Ausschusssitzungen hinaus zum Thema positionieren muss. Das ermöglicht Artikel 23 des Grundgesetzes, dementsprechend auch das Parlament europapolitische Stellungnahmen beschließen kann. Diese muss die Regierung dann in Verhandlungen berücksichtigen. Vogtschmidt findet: „Jetzt denke ich, wird die Chatkontrolle auch noch mal ins Plenum des Bundestags müssen, um diese ungeheuerliche Gefahr einer breiteren Öffentlichkeit bewusst zu machen. Dafür werde ich mich in den nächsten Tagen einsetzen!“

Ernst wird es auf EU-Ebene zum nächsten Mal Mitte Oktober, wenn die Justiz- und Innenminister:innen der EU-Staaten zusammenkommen. Die dänische Ratspräsidentschaft habe laut einem EU-Beamten trotz der Vorbehalte in der Ratsarbeitsgruppe angekündigt, den Vorschlag bei dem Treffen am 13./14. Oktober auf die Tagesordnung zu bringen. Das wäre eine Gelegenheit, eine Ratsposition abzustimmen – wenn bis dahin eine Einigung gelingt.


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11.09.2025 18:10

Die Bundesregierung will E-Sport gemeinnützig machen. Das ist richtig. Gemeinwohlorientierter Journalismus hingegen muss weiter mit Unsicherheiten rechnen. Das wird sich mit dieser Union auch kaum ändern – obwohl es gerade jetzt bitter nötig wäre. Ein Kommentar.

Grafitti auf einem Rolladen: Mann mit Brille gibt Frau eine Zeitung.
Gemeinwohlorientierter Journalismus hat bei der Union keinen guten Stand. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Claudio Schwarz

Mit dem Werkzeug der Gemeinnützigkeit kann eine Gesellschaft fördern, was ihr wichtig ist und was sie erhalten will. Wer als Körperschaft, zum Beispiel als Verein, selbstlos und für einen gemeinnützigen Zweck tätig ist, der kann Steuervorteile genießen. Weil die Gesellschaft diese Tätigkeit als nützlich für die Allgemeinheit ansieht und deshalb honoriert.

Das ist gut, denn an vielen Orten des Landes arbeiten Menschen fürs Gemeinwohl. Die Abgabenordnung, die in Deutschland gemeinnützige Zwecke regelt, deckt eine Spannbreite von Tätigkeiten ab, die einer vielfältigen Gesellschaft gerecht werden: Ob nun der bunte Karnevalsumzug, die Ortsverschönerung, der Schachverein, die lokale Umweltschutzinitiative oder die Kriegsgräberpflege – sie alle können vom Staat steuerlich begünstigt werden. Das bedeutet, dass zum Beispiel Spenden an diese Organisationen steuerlich absetzbar und von der Körperschafts- und Gewerbesteuer befreit sind.

Bald soll auch der E-Sport diesen Status der Gemeinnützigkeit bekommen, wie das Bundeskabinett am Mittwoch beschlossen hat. Das ist richtig so, denn warum soll Gaming weniger gut für die Allgemeinheit sein als Schach spielen oder Klettern?

Rechtsunsicherheit für gemeinwohlorientierten Journalismus

Gemeinwohlorientierter Journalismus allerdings bleibt weiter außen vor – und muss sich Hilfskonstruktionen bedienen, um gemeinnützig sein zu dürfen. Das funktioniert, aber birgt Unsicherheiten. Die Ampel-Regierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen, Rechtssicherheit für gemeinnützigen Journalismus zu schaffen. Es geht um nicht gewinnorientierte, parteipolitisch unabhängige, gemeinwohlorientierte Redaktionen. Doch das Vorhaben ist am Widerstand der Bundesländer gescheitert. Zu einem neuen Anlauf kam es nicht mehr, die Ampel zerbrach.

Dass von der unionsgeführten Bundesregierung keine neuen Impulse kommen, um gemeinwohlorientierten Journalismus zu fördern, verwundert wiederum nicht. Stattdessen zeigt die Union Misstrauen und Drohgebärden gegenüber der Zivilgesellschaft, jüngst durch Familienminsterin Priem, die die demokratische Zivilgesellschaft praktisch unter Generalverdacht stellte, während Kulturstaatsminister Wolfram Weimer die Stimmung weiter aufheizt. Damit stimmt die Union ein in das Lied rechtsradikaler Akteure, die eine angeblich linksgrüne Dominanz propagieren.

Von der Union ist deshalb nicht viel zu erwarten. Dabei ist gerade in Zeiten des galoppierenden Rechtsrucks nicht-kommerzieller, demokratischer, unabhängiger Journalismus ein Mittel, um Lügen, Propaganda und Desinformation mit Fakten, Aufklärung und Transparenz zu begegnen. Medien, die für die Demokratie eintreten statt sie zu demolieren, brauchen gerade jetzt mehr Rechtssicherheit, damit sie für das Gemeinwohl weiter recherchieren und informieren können.

Offenlegung: netzpolitik.org ist als gemeinwohlorientiertes Medium Mitglied im „Forum gemeinnütziger Journalismus“.


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11.09.2025 16:11

Geht es um polizeiliche Big-Data-Software und Datenanalyse, fällt immer wieder der Name Palantir. Wie eine aktuelle Umfrage zeigt, sehen Menschen über Parteigrenzen hinweg die Einführung von Überwachungssoftware des US-Konzerns mehrheitlich kritisch.

Mensch hält Plakat mit der Aufschrift "Peter Thiel = Big Brother"
Protest gegen Palantir in New York im August. Der Konzern rund um Peter Thiel ist auch in die Deportationen in den USA verwickelt. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ZUMA Press Wire

Die Bevölkerung in Deutschland sieht mit deutlicher Mehrheit die bundesweite Einführung einer Überwachungs- und Datenauswertungssoftware des US-Unternehmens Palantir kritisch. Das hat eine repräsentative Umfrage (PDF) des Meinungsforschungsinstituts Verian im Auftrag von Campact ergeben.

Palantir bietet Software an, die eine automatisierte Datenanalyse bei den Polizeien des Bundes ermöglichen soll. Hierfür muss Palantir Zugang zu vielen Datensätzen bei den Polizeien erhalten, darunter jede Menge personenbezogene Datensätze über Menschen. Das ist auch unter Gesichtspunkten der Digitalen Unabhängigkeit ein Problem.

Dass ausgerechnet der Konzern rund um den US-Milliardär und Trump-Freund Peter Thiel den Zuschlag bekommen soll, bereitet vielen Menschen Sorge: 68 Prozent der Befragten antworteten, sie fänden eine Einführung der umstrittenen Software „eher falsch“, nur 27 empfinden dies als „eher richtig“. Im Osten war die Ablehnung noch größer, hier lehnten fast drei Viertel Palantir ab, nur 18 Prozent befürworteten die Einführung.

Die Einführung von Palantir wird laut der Umfrage über Parteigrenzen hinweg mehrheitlich kritisch gesehen. Während Anhänger der Union sich mit 54 Prozent gegen Palantir aussprachen, ist die Ablehnung bei SPD, Grünen und Linken mit Werten zwischen 79 und 89 Prozent besonders hoch. Auch die Anhängerschaft der rechtsradikalen AfD lehnt Palantir mehrheitlich ab.

Die Palantir-Konkurrenz schläft nicht

„Kein Vertrauen in Palantir“

Dr. Astrid Deilmann, geschäftsführende Vorständin von Campact e.V. schreibt in der Pressemitteilung: „Die Deutschen wollen keine Trump-Software, die Zugriff auf sensibelste Polizeidaten bekommt. Die Umfrage macht deutlich, dass es schlicht kein Vertrauen in Palantir gibt.“ Bürgerinnen und Bürger wollten das Risiko des Datenabflusses in die USA nicht eingehen und sich nicht noch mehr von Trump abhängig machen, so Deilmann weiter.

„Wer diese Warnung in den Wind schlägt, riskiert nicht nur die Verletzung von Grundrechten, sondern missachtet auch den klaren Willen der Bevölkerung. Innenminister Dobrindt brüstet sich gerne mit dem Mehrheitswillen – jetzt wäre eine gute Gelegenheit, den Bürgerwillen ernst zu nehmen. Dobrindt muss sich endlich gegen den bundesweiten Einsatz von Palantir aussprechen!” so Deilmann.

Campact ruft gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte die Bundesregierung auf, den Einsatz von Palantir-Software zu stoppen. Mehr als 425.000 Menschen haben laut Campact bereits den Appell „Trump-Software Palantir: Über­wa­chungs­pläne stoppen“ unterzeichnet. Der Protest richtet sich allerdings nicht nur gegen Palantir, sondern gegen die Datenauswertung generell, zivilgesellschaftliche Gruppen wehren sich seit Monaten gegen die Pläne.


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11.09.2025 13:21

Pakistan hat laut Amnesty International eines der umfangreichsten staatlichen Überwachungssysteme außerhalb Chinas aufgebaut. Zulieferer neuester Technologie zur Überwachung und Zensur sind auch europäische und deutsche Unternehmen wie Thales und Utimaco.

Eine Person mit einem Tuch auf dem Kopf läuft vor einem bunten Mauergemälde. Auf der Mauer liegt NATO-Stacheldraht.
Vor Telefonüberwachung und Internetzensur ist in Pakistan niemand mehr sicher. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Anadolu Agency

Pakistan überwacht Millionen seiner Einwohner*innen auch mit in Deutschland entwickelten Technologien, das geht aus einem am Dienstag veröffentlichten Bericht von Amnesty International hervor. Auch andere europäische und ausländische Unternehmen versorgen die pakistanischen Behörden mit hochentwickelten Werkzeugen zur Massenüberwachung und Internetzensur.

Mit dem Telefonüberwachungssystem Lawful Intercept Management System (LIMS) erfassen die pakistanischen Sicherheitsbehörden Standort, Anrufe, Textnachrichten sowie den Browserverlauf von mindestens vier Millionen Mobiltelefonen gleichzeitig. LIMS erlaubt zu sehen, welche Webseiten Nutzer*innen aufrufen, selbst wenn diese oder ihre Teile verschlüsselt sind. Das System gewährt dem pakistanischen Militär und den Geheimdiensten direkten Zugriff auf die Daten von Telekommunikationskunden, da es in die Telekommunikationsnetze der privaten Anbieter direkt eingebaut ist. zur Identifikation bedarf es lediglich der Handynummer.

Kontrolle von Handys und Internet

Zudem blockieren Geheimdienste mit einer in China entwickelten Firewall-Technologie (WMS 2.0) Virtual Private Networks (VPN), die zur Umgehung von Zensur genutzt werden können, sowie unliebsame Webseiten. Die Behörden können mit der Technologie auch den Internetverkehr drosseln.

Amnesty beschreibt diese Kombination an Technologien als Wachttürme, die ständig das Leben gewöhnlicher Menschen ausspionieren. Sie machen es laut der Menschenrechtsorganisation der Regierung möglich, Dissident*innen zu überwachen, zum Schweigen zu bringen und grundlegende Menschenrechte systematisch zu verletzen.

„Weil es in Pakistan an technischen und rechtlichen Schutzmaßnahmen mangelt, ist LIMS in der Praxis ein Instrument rechtswidriger und unterschiedsloser Überwachung“, heißt es in dem Bericht. Die Geheimdienste nutzen LIMS, ohne dafür einen richterlichen Beschluss eingeholt zu haben – eine gesetzlich vorgeschriebene Mindestanforderung, die von den pakistanischen Behörden jedoch in gewohnter Manier ignoriert wird.

Überwachung made in Aachen

Pakistan hat in den letzten Jahren eine tiefgreifende Überwachungsinfrastruktur aufgebaut und dabei auf eine globale Lieferkette von Überwachungstechnologien zurückgegriffen. Der Großteil der Technologie, die LIMS in Pakistan ermöglicht, kommt von zwei Unternehmen: dem deutschen Utimaco mit Sitz in Aachen und dem emiratischen Datafusion mit Niederlassung in Deutschland. Mit LIMS von Utimaco durchsuchen die Behörden die Daten der Telekommunikationskunden, die dann über Überwachungszentren von Datafusion zugänglich gemacht werden. Mit Hilfe von Handelsdaten konnte Amnesty nachweisen, dass LIMS über das Unternehmen aus den Arabischen Emiraten an Pakistan geliefert wurde. Das System wird in Pakistan schon seit 2007 eingesetzt.

Die Internet-Firewall wurde erstmals 2018 in Betrieb genommen und stammte von einem kanadischen Unternehmen namens Sandvine (jetzt AppLogic Networks). Fünf Jahre später wurde sie durch eine fortgeschrittene Technologie vom chinesischen Unternehmen Geedge Networks ersetzt, das Verbindungen zu chinesischen Staatsunternehmen unterhält. Die US-amerikanische Firma Niagara Networks und die französische Firma Thales lieferten die unterstützende Infrastruktur.

Laut Amnesty handelt es sich bei der von Geedge Networks entwickelten Technologie um eine kommerzielle Version von Chinas „Großer Firewall“, die nun auch außerhalb des Landes zum Einsatz kommt. Die Große Firewall ist ein umfangreiches staatliches Zensur- und Überwachungssystem, mit dem die chinesische Regierung unerwünschte ausländische Seiten sperrt und die gesamten Aktivitäten der Bevölkerung im Internet kontrolliert.

Verantwortung der Unternehmen und Exportländer

Datafusion erklärte gegenüber Amnesty, dass die Überwachungszentren ausschließlich an gesetzlich legitimierte Behörden verkauft werden und man selbst LIMS nicht herstelle. Utimaco weigerte sich seinerseits, seine Verbindungen zu Datafusion offenzulegen und berief sich auf Geschäftsgeheimnisse. Beide vermieden es, auf die Enthüllungen der Menschenrechtsorganisation einzugehen.

Unklar bleibt, welche Ausfuhrgenehmigungen für den Export von LIMS durch Utimaco beantragt oder erteilt wurden. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle äußerte sich nicht zu dem Fall. Die deutsche Regierung lehnte es ebenfalls ab, Auskunft über Ausfuhrgenehmigungen zu geben.

Amnesty hält fest, dass der Handel mit Überwachungstechnologien in Deutschland, der EU und weltweit weiterhin unzureichend kontrolliert ist.

Überwachung als politische Waffe

Pakistan gilt seit langem als Land mit massiver Internetüberwachung und Informationskontrolle. Laut der Menschenrechtsorganisation hat sich die politische Lage im Land, in dem Meinungsfreiheit stark eingeschränkt, Oppositionelle willkürlich verhaftet und verschleppt werden, mit dem ungebremsten Export von Überwachungstechnologien weiter verschärft.

Seit dem Sturz des ehemaligen Premierministers Imran Khan im Jahr 2022 sind Oppositionelle und Aktivist*innen von Massenverhaftungen betroffen. Am Obersten Gerichtshof in Islamabad wird aktuell der Fall von Khans Frau Bushra Bibi verhandelt, nachdem private Telefongespräche von ihr online geleakt worden waren.

Lokale Mobilfunk- und Internetabschaltungen sind besonders häufig in den Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa. In lokalen Bezirken ist das Internet teilweise über Jahre gesperrt. Aktivist*innen in beiden Provinzen berichten, dass diese Abschaltungen oft dazu genutzt werden, Proteste und politische Kundgebungen zu stören und Verschleppungen zu verdecken. Das Militär weist diese Vorwürfe zurück.

Die einjährige Untersuchung hat Amnesty in Zusammenarbeit mit Paper Trail Media, DER STANDARD, Follow the Money, The Globe and Mail, Justice For Myanmar, InterSecLab und dem Tor Project durchgeführt. Die Ergebnisse beruhen einerseits auf öffentlich zugänglichen Handelsdaten internationaler Unternehmen und andererseits auf einem 600 GB großen Datenleak des chinesischen Unternehmens Geedge Networks.


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10.09.2025 15:59

Zuletzt ist es still um eine Digitalsteuer in Deutschland geworden. Nun könnte ein Vorstoß von Schleswig-Holstein der Debatte neues Leben einhauchen.

Zähe Debatte um faire Besteuerung großer Digitalkonzerne: Dirk Schrödter (CDU), Chef der schleswig-holsteinischen Staatskanzlei, versucht sein Glück mit einer Initiative im Bundesrat. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Frank Peter

Schleswig-Holstein will frischen Wind in die zuletzt abgeflaute Debatte zur Digitalabgabe bringen. Mit einer Initiative im Bundesrat will das Land sehr große Online-Dienste wie Alphabet oder Meta zur Kasse bitten, um mit den Einnahmen die heimische Medienlandschaft zu fördern, gab gestern die Staatskanzlei bekannt.

„Die immer weiter zunehmende Marktdominanz internationaler Großplattformen stellt unsere lokalen und regionalen Medien vor existenzielle Herausforderungen“, sagte Dirk Schrödter (CDU), Digitalminister und Chef der Staatskanzlei, in einer Pressemitteilung. Gerade auch die jüngste Entscheidung der EU-Kommission im Fall Google, der wichtigsten Unternehmenstochter von Alphabet, habe einmal mehr gezeigt, dass dringender Handlungsbedarf besteht, so Schrödter.

Vergangene Woche hat Brüssel eine knapp 3 Milliarden Euro schwere Geldbuße gegen den US-Werbekonzern verhängt, zudem muss Google binnen 60 Tagen seine Interessenskonflikte auf dem Markt für Online-Werbung auflösen – womöglich sogar durch eine Entflechtung, wie EU-Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera angedeutet hatte. Laut EU-Kommission hat der Konzern über ein Jahrzehnt lang seine Marktmacht missbraucht und damit dem Wettbewerb und letztlich auch den Medien geschadet, die sich traditionell über Anzeigen finanzieren.

Übermächtige Digitalkonzerne

Alphabet zählt zu einem der wertvollsten Unternehmen der Welt und hat allein im vergangenen Quartal einen Gewinn von über 31 Milliarden US-Dollar bei einem Umsatz von fast 97 Milliarden US-Dollar eingefahren. Wie viele andere große Digitalkonzerne bedient sich Alphabet nicht nur fragwürdiger Geschäftspraktiken, sondern zahlt auch unterdurchschnittlich wenig Steuern. Auf eine faire Besteuerung solcher Unternehmen konnte sich die EU jedoch schon vor Jahren nicht einigen. Seitdem sind einzelne EU-Länder, darunter Frankreich, Österreich und Italien, mit eigenen Modellen vorgeprescht und besteuern etwa Online-Werbeanzeigen.

Mit Verweis auf den österreichischen Ansatz hat Kulturstaatsminister Wolfram Weimer im Mai einen Vorstoß in Richtung einer Digitalabgabe gestartet. Zur Debatte steht ein Abgabesatz von 10 Prozent für große Tech-Unternehmen, welcher der deutschen Medienbranche zugutekommen soll. Innerhalb der Regierung war der Anlauf jedoch offenkundig nicht abgestimmt: Es hagelte Absagen unter anderem von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) und Finanzminister Lars Klingbeil (SPD). Öffentlich hält der parteilose Konservative Weimer bislang an einer zweckgebundenen Digitalabgabe fest, ein konkreter Gesetzentwurf soll im Herbst vorgestellt werden.

Digitalabgabe für sehr große Unternehmen

Von einem Gesetz ist die Initiative aus Schleswig-Holstein noch weit entfernt, könnte aber zumindest den Druck auf die Bundesregierung erhöhen. Inhaltlich enthält der gestern im Bundesrat eingebrachte Entschließungsantrag, der netzpolitik.org vorliegt, jedenfalls nicht mehr als die Pressemitteilung der Staatskanzlei. Grundsätzlich soll sich die Abgabe an bestimmten EU-Vorgaben orientieren, insbesondere was die davon erfassten Anbieter betrifft: Gelten soll die Abgabe ausschließlich für sehr große Plattformen, sogenannte VLOPs (Very Large Online Plattforms) beziehungsweise VLOSEs (Very Large Online Search Engines) mit monatlich mehr als 45 Millionen Nutzer:innen in der EU.

Wann genau die Länderkammer den Antrag behandeln wird, ist noch nicht bekannt. Unklar ist auch, ob und wie viele Länder sich dem nördlichen Bundesland anschließen werden. Auf Anfrage gibt sich die Staatskanzlei optimistisch und sieht den weiterführenden Beratungen im Bundesrat „positiv“ entgegen, teilt ein Pressesprecher mit. „Alle Bundesländer haben ein großes Interesse daran, die Medienvielfalt in Deutschland zu erhalten“, so der Sprecher.

Die Debatte spielt sich vor dem Hintergrund des weiter andauernden Zollstreits mit der US-Regierung von Donald Trump ab. Zwar hat sich die EU im Sommer auf ein Abkommen mit dem rechtsnationalistischen US-Republikaner geeinigt, inzwischen steht dieses jedoch wieder auf der Kippe – nicht zuletzt wegen der jüngsten Kartellstrafe gegen Alphabet, die laut Trump „nicht fair“ sei und US-Investitionen sowie Jobs bedrohe. Ob die unilateral von Trump verhängten und erneut angedrohten Zölle überhaupt legal sind, bleibt derweil offen: Ein Gerichtsverfahren ist mittlerweile vor dem Supreme Court gelandet, eine Anhörung vor dem Verfassungsgericht soll Anfang November stattfinden.

Update, 11.9.: Laut Staatskanzlei sieht der Zeitplan so aus: „Fest steht derzeit, dass der Antrag am 26.09. auf die Tagesordnung des Bundesrates kommt und danach in die Ausschüsse geht. Dann folgen die Beratungen in der Ausschusswoche vom 29.09.-02.10.“


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10.09.2025 13:51

Schwarz-Rot hat weitreichende Reformen beim Datenschutz angekündigt. „Im Sinne der Wirtschaft“ soll unter anderem die Aufsicht neu geregelt werden. Inzwischen liegen zahlreiche konkrete Vorschläge vor, unter anderem von SPD und Landesdatenschützer:innenn, nur die Union gibt sich verschlossen.

Foto einer Axt auf einem Holzklotz, im Hintergrund karge Landschaft und dunkle Wolken
Die Regierung könnte die Axt an die föderale Datenschutzstruktur legen. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Jason Abdilla

Die schwarz-rote Koalition hat sich für die nächsten Monate einiges vorgenommen. Ein „Herbst der Reformen“ soll es werden, sagt der Bundeskanzler, und meint dabei vor allem Einsparungen beim Sozialstaat. Eine andere Reform steht weniger im Fokus der Öffentlichkeit, führt aber in Fachkreisen seit Monaten zu intensiven Debatten. Es geht um den Datenschutz, auch hier hat die Koalition sich weitreichende Maßnahmen vorgenommen.

So haben CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag (PDF), verabredet, sich auf europäischer Ebene für umfassende Ausnahmen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) „für nicht-kommerzielle Tätigkeiten (zum Beispiel in Vereinen), kleine und mittelständische Unternehmen und risikoarme Datenverarbeitungen (zum Beispiel Kundenlisten von Handwerkern)“ einzusetzen. Auf nationaler Ebene sollen Spielräume der DSGVO genutzt werden, und für mehr Kohärenz und „Vereinfachungen für kleine und mittlere Unternehmen, Beschäftigte und das Ehrenamt“ zu sorgen.

Besonders intensiv debattiert werden Pläne zur Veränderung der Aufsichtsstruktur im nicht-öffentlichen Bereich, also bei nicht-staatlichen Akteur:innen. So strebt Schwarz-Rot hier „im Interesse der Wirtschaft“ eine Bündelung von Zuständigkeiten und Kompetenzen bei der Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI) an. Die Bundesbehörde soll zudem umbenannt werden und künftig auch Beauftragte für Datennutzung heißen. Zudem soll die Datenschutzkonferenz (DSK), in der die Datenschutzbehörden von Bund und Ländern sich informell koordinieren, gesetzlich verankert werden.

Überlastete Aufsicht

Da CDU-Chef Friedrich Merz im Wahlkampf mit markigen Worten einen Kahlschlag beim Datenschutz angekündigt hat, lassen diese Vorhaben bei vielen Datenschützer:innen die Alarmglocken läuten. Allerdings: Dass sich in Sachen Aufsicht etwas tun muss, dafür plädiert längst nicht mehr nur die Wirtschaft. So spricht auf Anfrage auch Frederick Richter, Vorstand der (staatlichen) Stiftung Datenschutz von einer „überlasteten regionalen Datenschutzaufsicht“ und Problemen mit uneinheitlicher Auslegung der Datenschutzgesetze.

Die Datenschutzbehörden selbst weisen zwar in der Regel den Vorwurf der Uneinheitlichkeit von sich, bringen sich jedoch auch mit eigenen Vorschlägen in die Debatte ein. „Die Rechtsanwendung muss vereinheitlicht, eine zentrale Koordinierung geschaffen werden“, heißt es beispielsweise in der Überschrift eines Gastbeitrages, den Thomas Fuchs, Meike Kamp und Alexander Roßnagel kürzlich in der FAZ [€] veröffentlichten. Das sind die Datenschutzbeauftragen von Hamburg, Berlin und Hessen. Meike Kamp ist derzeit zudem die Vorsitzende der Datenschutzkonferenz.

Die große Frage ist allerdings, wie genau die im Koalitionsvertrag beschriebene „Bündelung von Zuständigkeiten und Kompetenzen“ aussehen soll.

Entsteht eine Riesenbehörde beim Bund?

Die nur vermeintlich einfachste Lösung wäre eine umfassende Zentralisierung. Also: Die Landesbehörden verlieren die gesamte Aufsichtskompetenz über die Wirtschaft und den sonstigen nicht-öffentlichen Bereich. Zuständig wäre dann die Bundesbeauftragte, die bislang neben Bundesbehörden lediglich ein paar staatliche Unternehmen und Telekommunikationskonzerne überwacht. Laut geleakter Zwischenstände der Koalitionsverhandlungen favorisierten CDU und CSU diese Variante.

Wenn die Zentralisierung nicht zu einem Freifahrtschein für die Wirtschaft werden soll, ginge das wohl nur mit erheblichem Personalausbau bei der BfDI. Fuchs, Kamp und Roßnagel berichten von etwa 70.000 Fällen, die die Landesbehörden im nicht-öffentlichen Bereich pro Jahr bearbeiten. Tendenz: steigend. Um mit dieser Last fertigzuwerden, müsste die Behörde der Bundesbeauftragten ihrer Schätzung nach von 430 auf etwa 900 Stellen anwachsen. Eine neue Mega-Behörde also? „Dass sehr große Behörden unbürokratischer arbeiten, wäre mir neu“, kommentiert Meike Kamp gegenüber netzpolitik.org.

In jedem Fall müssten bei einer Zentralisierung auch die Bundesländer mitspielen, deren Aufsichtsbehörden um Kompetenzen beschnitten würden. Frederick Richter betont, dass die dadurch freiwerdenden Stellen nicht wegfallen dürften. „Denn sämtliche Behörden sind strukturell unterausgestattet, und die vorhandenen Belegschaften könnten sich dann komplett auf die Aufsicht im öffentlichen Bereich konzentrieren, sodass dort sofort die Unterausstattung behoben wäre.“ Ob die Bundesländer das wollen?

Weniger Zentralisierung, mehr Bündelung

Für Kamp jedenfalls steht fest, dass die föderale Struktur der Datenschutzaufsicht zahlreiche Vorteile habe. Sie sichere nicht nur Nähe zu den Betroffenen und der lokalen Wirtschaft, sondern verhindere auch, „dass Datenschutz durch Druck auf eine einzige Stelle ausgehebelt wird“, so die Berliner Datenschutzbeauftragte. Ihr ist wichtig zu betonen, dass Datenschutzaufsicht nicht nur Beratung von Unternehmen bedeute, „sondern vorrangig Grundrechtsschutz durch Hilfestellungen für betroffene Personen sowie Prüfungen vor Ort.“ Dies falle in der aktuellen Debatte manchmal unter den Tisch.

Gemeinsam mit Thomas Fuchs und Alexander Roßnagel macht sie deshalb eine Reihe anderer Vorschläge für eine verbesserte Aufsichtsstruktur. So wünschen sie sich eine Institutionalisierung der Datenschutzkonferenz, die bislang informell arbeitet und künftig verbindliche Beschlüsse fassen könnte. Für eine zentrale Koordination der DSK sollte ihrer Meinung nach eine Geschäftsstelle bei der BfDI eingerichtet werden. Außerdem schlagen sie ein zentrales Online-Portal vor, über das Beschwerden und Datenpannen gemeldet und dann verteilt werden können. Bislang müssen Bürger:innen und Unternehmen sich je nach Bundesland mit unterschiedlichen Meldewegen herumschlagen.

Darüber hinaus regen die drei Datenschützer:innen an, die Potenziale zur Entbürokratisierung zu nutzen, die die DSGVO bereits vorsieht. Dazu gehören etwa Zertifizierung und verbindliche Verhaltensregeln von Verbänden, die bislang kaum genutzt werden und künftig von der BfDI koordiniert werden könnten. Auch Standardisierung und Normierung könnten entlastend wirken; die BfDI sollte stellvertretend für alle Behörden in entsprechenden Gremien mitwirken. Und auch die Technologieberatung sollte zentral von der BfDI übernommen werden, so Fuchs, Kamp und Roßnagel.

Ihr wohl weitgehendster Vorschlag: Für überregionale Unternehmen und Forschungsvorhaben soll nur eine einzige Behörde zuständig sein. Außerdem soll ein „Einer-für-alle-Prinzip“ gelten, bei dem eine Aufsichtsbehörde Prüfungen vornimmt, deren Ergebnis auch für die anderen Behörden verbindlich sind. Das wäre ein Modell der Bündelung, bei dem die Aufsicht für den Großteil der Unternehmen bei den Landesbehörden bleibt, schließlich machen kleine und mittlere Unternehmen laut Fuchs, Kamp und Roßnagel 99,3 Prozent der Wirtschaftsakteure aus.

In diese Richtung denkt auch Frederick Richter von der Stiftung Datenschutz, geht jedoch etwas weiter. Auch er hält eine umfassende Zentralisierung der Aufsicht beim Bund für keine gute Lösung, weil regionale Unternehmen und Vereine von regionaler Beratung und Aufsicht profitieren würden. Stattdessen spricht er sich aber für eine alleinige Zuständigkeit der BfDI für überregionale und internationale Unternehmen aus, also eine Teilzentralisierung.

SPD legt Fokus auf verbesserte Zusammenarbeit

Welche Richtung wird die Bundesregierung einschlagen? Derzeit will sie sich nicht in die Karten blicken lassen. Auf Anfrage schreibt uns das Innenministerium lediglich: „Die Bundesregierung beabsichtigt, in Umsetzung der Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag diese Legislaturperiode das Bundesdatenschutzgesetz zu reformieren.“ Die betroffenen Stellen innerhalb der Regierung stünden dazu im Austausch; Zwischenstände laufender Abstimmungen zu Gesetzgebungsvorhaben teile man grundsätzlich nicht.

Auch Johannes Schätzl, digitalpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, schreibt uns, dass sich die Reformvorhaben derzeit noch in laufenden Abstimmungsprozessen befinden. „Ein konkreter Zeitplan zur Umsetzung liegt noch nicht vor.“

Immerhin macht Schätzl deutlich, wo die Prioritäten seiner Meinung nach liegen sollten. „Unser wichtigstes Ziel in den Koalitionsverhandlungen war es, die Kohärenz und Einheitlichkeit der Auslegung der Datenschutzregelungen seitens der Aufsichtsbehörden zu stärken und die institutionelle Verankerung der Datenschutzkonferenz gesetzlich festzuschreiben.“ Sie müsse rechtlich verankert und durch eine zentrale Geschäftsstelle gestärkt werden. Außerdem müsse sie verbindliche Schlüsse fassen können.

Der Schritt, Aufsichtskompetenzen zur BfDI zu verlagern, habe dahingegen „tiefgreifende Folgen, da er eine umfassende Neuorganisation erfordern und die Arbeit der Datenschutzbehörden für längere Zeit noch herausfordernder gestalten würde“, so Schätzl weiter. „Zudem würden Unternehmen ihre vertrauten Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner in den Ländern verlieren, während die BfDI erst erhebliche neue Kapazitäten aufbauen müsste.“

Die SPD plädiere stattdessen für „eine sinnvolle Kompetenzbündelung, die tatsächliche Erleichterung etwa durch schnellere Bearbeitung ähnlich gelagerter und landesübergreifender Anfragen ermöglicht, ohne die Beratungsbedürfnisse lokaler Unternehmen zu vernachlässigen.“

Ob das auch der Koalitionspartner so sieht? Wir haben dem Sprecher der AG Digitales und Staatsmodernisierung der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus, mehrere Fragen geschickt. Als einziger von uns angefragter Bundestagsabgeordneter hat er keine einzige davon beantwortet, sondern teilt lediglich vage mit, man arbeite an den von uns genannten Themen.

Auch Opposition will Datenschutzkonferenz stärken

Klar fallen hingegen die Antworten der demokratischen Oppositionsparteien im Bundestag aus. Eine mögliche Zentralisierung „käme einer Entmachtung der bisher zuständigen Landesbeauftragten gleich“, schreiben Lukas Benner und Konstantin von Notz von den Grünen. Es ist sei „nicht im Interesse der vielen kleinen und mittleren Unternehmen, wenn sie keine Ansprechpartner für Datenschutzfragen und Beratung mehr in ihrer Nähe haben“, teilen der Obmann der Grünen im Innenausschuss und der Fraktionsvize mit. „Am Ende einer solchen Politik stünde weniger Datenschutz für alle und weniger Service und unabhängige Beratung für die Unternehmen.“

Dass die Reform „im Interesse der Wirtschaft“ stattfinden soll, lässt auch Sonja Lemke von der Linkspartei misstrauisch werden. Die Sprecherin für Digitale Verwaltung und Open Government fürchtet einen Abbau der Landesdatenschutzbehörden und einen „Grundrechteabbau zugunsten von Profitinteressen“.

Grundsätzlichen Reformbedarf bei der Aufsicht sehen allerdings auch Linke und Grüne. Die Kohärenz müsse durch eine verbesserte Zusammenarbeit der Behörden im Rahmen der Datenschutzkonferenz erreicht werden. Sie sollte gesetzliche verankert werden und verbindliche Mehrheitsentscheidungen treffen.

Im Sinne der Bürger:innen

Durchweg kritisch sehen Grüne und Linke hingegen die weiteren Reformvorhaben von Schwarz-Rot. Fast wortgleich antworten sie uns, dass sie „pauschale Ausnahmen“ für kleinere und mittlere Unternehmen sowie Vereine ablehnen. „Das würde in der Realität zu weniger Datenschutz und Datensicherheit für Millionen von Bürger*innen in Deutschland führen“, so Benner und von Notz. Sonja Lemke wiederum erinnert daran, dass auch kleine Unternehmen wie etwas Medizin-Start-ups oder auch Selbsthilfevereine hochgradig sensible Daten verarbeiten. Eine Umbenennung der BfDI sehen beide Parteien kritisch.

Auch Johannes Schätzl von der SPD betont: Bei den angedachten Vereinfachungen gehe es nicht darum, „Datenschutzvorgaben und bewährte Instrumente wie die betrieblichen Datenschutzbeauftragten zur Risikominimierung grundsätzlich in Frage zu stellen“. Vielmehr sollten Spielräume der DSGVO genutzt werden, um neben der Kohärenz auch Vereinfachungen für kleinere und mittlere Unternehmen und das Ehrenamt zu erreichen. Details dazu, wie dies im bestehenden rechtlichen Rahmen aussehen könnte, nennt er nicht. Die genaue Ausgestaltung werde noch verhandelt.

Unklar bleibt auch, ob die Koalition mit ihren Reformen nicht nur für Erleichterungen „im Sinne der Wirtschaft“ sorgen wird, sondern auch bestehende Probleme bei der Durchsetzung des Datenschutzes angeht. Denn dass es auch dort Handlungsbedarf gibt, zeigen immer wieder Recherchen nicht nur unseres Mediums. Sei es beim Werbe-Tracking, beim Datenhandel oder bei Einwilligungen im Handy-Shop oder in der Sparkasse – an vielen Stellen funktioniert der Datenschutz für Bürger:innen nicht. Jede Reform wird daran zu messen sein, ob sie auch daran etwas ändert.


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10.09.2025 09:14

Einen großen Teil seines Lebens verbrachte der Blogger und Aktivist Alaa Abd el-Fattah im Gefängnis. Nun könnte die Symbolfigur der ägyptischen Demokratiebewegung endlich freikommen.

Alaa Abd el-Fattah, hinter ihm Demonstrierende
Alaa Abd el-Fattah im Juni 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo. CC-BY 2.0 Lilian Wagdy

Im Fall des bekanntesten politischen Häftlings Ägyptens gibt es nach Jahren erstmals wieder Hoffnung, dass er freigelassen wird. Wie die Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch berichtet, hat der ägyptische Machthaber al-Sisi die Behörden am Dienstag angewiesen, die Begnadigung des Aktivisten und Bloggers Alaa Abd el-Fattah zu prüfen. Das gehe auf ein Appell des ägyptischen Nationalrats für Menschenrechte zurück, in der el-Fattahs Name neben sieben anderen Gefangenen genannt werde, berichtet die Nachrichtenagentur. Der Nationalrat ist eine Institution des ägyptischen Regimes.

Tarek al-Awady, Mitglied des ägyptischen Präsidialbegnadigungskomitees, erklärte gegenüber Reuters, dass die Entscheidung über die Freilassung des Gefangenen voraussichtlich innerhalb „weniger Tage“ getroffen werde.

Der 1981 geborene el-Fattah befindet sich nach Angaben seiner Mutter Laila Soueif seit dem 1. September in einem Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung zu protestieren. Die Familie des Aktivisten, der auch einen britischen Pass besitzt, setzt sich seit Jahren für seine Freilassung ein. Sie hatte dabei zuletzt auch die Unterstützung der britischen Regierung erhalten. Eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen hatte die Haft von el-Fattah als rechtswidrig und willkürlich eingestuft.

„Das ist wirklich vielversprechend. Wir hoffen, dass die Behörden dies dringend umsetzen und dass Alaa bald zu uns zurückkehren kann“, sagte seine Schwester Sanaa laut Reuters auf X.

Prominentes Gesicht der demokratischen Revolte

El-Fattah war eine der zentralen Figuren und prominenten Gesichter des Arabischen Frühlings in Ägypten. Seit nunmehr fast 20 Jahren ist el-Fattah immer wieder im Fokus der ägyptischen Repression. Schon vor der arabischen Revolution war er im Jahr 2006 für zwei Monate verhaftet worden. Nach dem arabischen Frühling 2011 saß er ab 2015 für mehr als vier Jahre im Gefängnis, weil ihm vorgeworfen wurde, politische Proteste organisiert zu haben.

Im September 2019 wurde el-Fattah erneut festgenommen, vermutlich weil er den Tweet eines politischen Gefangenen teilte. Ein ägyptisches Staatssicherheitsgericht hat ihn im Dezember 2021 zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren wegen angeblicher Verbreitung von Falschnachrichten verurteilt. Während seiner Haft trat er zuletzt im Jahr 2022 in Hungerstreik, um konsularischen Zugang zur britischen Botschaft zu erhalten.

Am 29. September 2024 hätte Alaa Abd el-Fattah eigentlich wieder auf freiem Fuß sein sollen. Dann wäre eigentlich die fünfjährige Haftstrafe abgelaufen. Doch die ägyptische Justiz weigert sich – entgegen der eigenen Strafprozessordnung – ihn aus dem Gefängnis zu entlassen, indem sie die zweijährige Untersuchungshaft nicht anrechnete.


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09.09.2025 14:22

Renommierte Forscher:innen erinnern die Mitglieder des EU-Parlaments und des EU-Rates daran, dass die Chatkontrolle „beispiellose Möglichkeiten für Überwachung, Kontrolle und Zensur“ bieten würde. Sie fordern, die Ursachen von sexualisierter Gewalt an Kindern zu bekämpfen statt Hunderte Millionen Menschen zu überwachen.

Auge schaut auf Smartphone. Prompt: a chat on a smartphone, surveillance eye looking at smartphone, black outlines -
Kommt die Chatkontrolle, gibt es keine sichere verschlüsselte Kommunikation mehr. (Symbolbild) – Public Domain generiert mit Midjourney

Mehr als 470 Wissenschaftler:innen aus 34 Ländern stellen sich gegen den aktuellen Vorschlag zur Chatkontrolle, den die dänische Ratspräsidentschaft am 24. Juli im EU-Rat eingebracht hat.

Die EU-Kommission versucht seit mehreren Jahren ein Vorhaben umzusetzen, das verschlüsselte Kommunikation in der EU durchleuchten würde, etwa auf Messengern wie Signal. Auf diesem Weg will sie nach Darstellungen von sexualisierter Gewalt an Kindern (CSAM) suchen.

Die EU-Staaten können sich bisher nicht auf eine gemeinsame Position zu dem umstrittenen Vorhaben einigen. Eine Mehrheit unterstützt die Pläne der EU-Kommission, eine Sperrminorität von Staaten blockiert jedoch und setzt sich für die überwachungskritische Position des Parlaments ein. Mehrere Präsidentschaften sind bislang daran gescheitert, eine Einigung im Rat zu organisieren– zuletzt Polen. Die Position Deutschlands könnte entscheidend sein für den Fortgang der Verhandlungen, weil Deutschland als bevölkerungsreiches Land die bislang vorhandene Sperrminorität alleine kippen kann.

In ihrem Brief begrüßen die Unterzeichnenden zwar die Aufnahme von Bestimmungen, die eine freiwillige Meldung illegaler Aktivitäten erleichtern, sowie die Forderung, die Bearbeitung dieser Meldungen zu beschleunigen. Sie richten sich aber entschieden gegen das Durchsuchen der Endgeräte sowie gegen Alterskontrollen im Netz.

„Beispiellose Möglichkeiten für Überwachung, Kontrolle und Zensur“

Es sei einfach nicht möglich, bekanntes und neues Bildmaterial von sexualisierter Gewalt (CSAM) für Hunderte Millionen Nutzer:innen mit einer akzeptablen Genauigkeit zu erkennen, unabhängig vom spezifischen Filter. Darüber hinaus untergrabe die Erkennung auf dem Gerät, unabhängig von ihrer technischen Umsetzung, den Schutz, den eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung gewährleisten soll. Die Änderungen im Vorschlag würden zudem die Abhängigkeit von technischen Mitteln erhöhen und so die Sicherheits- und Datenschutzrisiken für die Bürger:innen verschärfen, ohne dass eine Verbesserung des Schutzes für Kinder garantiert sei.

Im offenen Brief, der auf deutsch und englisch vorliegt, heißt es:

Der neue Vorschlag würde – ähnlich wie seine Vorgänger – beispiellose Möglichkeiten für Überwachung, Kontrolle und Zensur schaffen und birgt ein inhärentes Risiko für den Missbrauch durch weniger demokratische Regime. Das heute erreichte Sicherheits- und Datenschutzniveau in der digitalen Kommunikation und in IT-Systemen ist das Ergebnis jahrzehntelanger gemeinsamer Anstrengungen von Forschung, Industrie und Politik. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Vorschlag diese Sicherheits- und Datenschutzmaßnahmen, die für den Schutz der digitalen Gesellschaft unerlässlich sind, vollständig untergräbt.

Weiterhin weist der Brief auf Widersprüche im neuen Vorschlag hin: Dort heißt es, dass die CSAM-Detektionstechnologie nicht zu einer „Schwächung des durch Verschlüsselung gebotenen Schutzes” führen dürfe. Es sei jedoch unmöglich, Material zu erkennen und entsprechende Berichte zu übermitteln, ohne die Verschlüsselung zu unterminieren. Zu den zentralen Gestaltungsprinzipien eines sicheren Ende-zu-Ende-Verschlüsselungsschutzes (E2EE) gehöre nämlich die Gewährleistung, dass einerseits nur die beiden vorgesehenen Endpunkte auf die Daten zugreifen können, und andererseits die Vermeidung eines Single Point of Failure.

Zwangs-Detektion und Verschlüsselung schließen sich aus

Wenn aber ein Detektionsmechanismus die Daten vor ihrer Verschlüsselung scanne, wie der aktuelle Vorschlag der Dänen es vorsieht – mit der Möglichkeit, sie nach der Überprüfung an die Strafverfolgungsbehörden zu übermitteln –, verstoße das gegen beide Grundsätze: Sie untergrabe die zentrale Kerneigenschaft von E2EE, indem sie über den Detektionsmechanismus auf die privaten Daten zugreife, und schaffe zugleich durch die erzwungene Detektion einen einzelnen Fehlerpunkt für alle sicheren E2EE-Systeme.

Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sei aber unerlässlich, damit EU-Bürger:innen sicher und privat online kommunizieren können, insbesondere wenn man bedenke, dass Kernteile unserer Kommunikationsinfrastruktur von US-amerikanischen Big-Tech-Unternehmen kontrolliert würden. Verschlüsselung schütze nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch EU-Politiker:innen, Entscheidungsträger, Strafverfolgungsbehörden und Verteidigungskräfte. Sie seien in hohem Maße auf Verschlüsselung angewiesen, um eine sichere Kommunikation gegen interne und externe Bedrohungen zu gewährleisten.

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Mehr Aufklärung gegen Missbrauch gefordert

Weiterhin wenden sich die Forscher:innen auch gegen die Erzählung, dass CSAM-Darstellungen nur mit technischen Mitteln zu begegnen sei:

Wir erinnern daran, dass CSAM-Inhalte stets das Ergebnis von sexuellem Kindesmissbrauch sind. Ihre Beseitigung setzt daher die Bekämpfung des Missbrauchs selbst voraus, nicht alleine die Verhinderung der digitalen Verbreitung von Missbrauchsmaterial.

Deshalb solle die Politik nicht weiterhin auf Technologien mit zweifelhafter Wirksamkeit wie CSAM-Erkennungsalgorithmen und Altersüberprüfungen setzen, welche die Sicherheit und Privatsphäre erheblich schwächen. Stattdessen sollte sie den von den Vereinten Nationen empfohlenen Maßnahmen folgen. Zu diesen gehörten unter anderem Aufklärung über Einwilligung, Normen und Werte, digitale Kompetenz und Online-Sicherheit und umfassende Sexualaufklärung sowie Hotlines für Meldungen.


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08.09.2025 16:30

Die EU-Kommission zwingt Google zunächst noch nicht dazu, Teile seines Werbegeschäfts zu verkaufen. Der Konzern muss zwar eine Strafe von 2,95 Milliarden Euro zahlen. Aber ob es zu einer Aufspaltung kommt, ist offen. Dabei kann nur sie die Interessenkonflikte Googles und seinen Machtmissbrauch dauerhaft beenden.

Zerbrochenes Handydisplay, darunter ist ein Google-Logo zu sehen.
Zerschlagung wäre eine Lösung (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / NurPhoto

Am Freitag hat die EU-Kommission verkündet, dass Google seine Marktmacht in der Online-Werbung missbraucht hat. Dafür muss der Tech-Konzern 2,95 Milliarden Euro Strafe zahlen. Google muss zudem innerhalb von 60 Tagen Abhilfemaßnahmen vorlegen, die seine Interessenkonflikte in der Online-Werbung beenden.

Diese Entscheidung vertagt leider die nötigen Maßnahmen, um die Monopolmacht von Google zu brechen. Sie lässt zugleich die Tür zu einer Aufspaltung weiter offen. Die Debatte wird sich zuspitzen – umso wichtiger ist es, den Druck auf die EU-Kommission aufrechtzuerhalten. Denn nur eine Aufspaltung von Google löst die Probleme dauerhaft.

Google nutzt seine Macht zulasten der Medien

Der Kern des Problems ist Googles Dominanz bei der Vermarktung von Anzeigeflächen. Ruft man eine Webseite auf, laufen im Hintergrund in Sekundenbruchteilen Auktionen ab. Ihr Ausgang entscheidet, welche Anzeigen wir auf dieser Seite angezeigt bekommen. Google dominiert beide Seiten dieses Auktionsprozesses: Es betreibt den größten Server, über den die Verleger ihre Anzeigenflächen anbieten. Es ist zugleich bei den Diensten marktbeherrschend, mit denen Werbetreibende ihre Online-Anzeigenkampagnen steuern. Google betreibt zudem mit AdX den größten Auktionsserver auf dem Markt. Google hat diese Marktmacht jahrelang missbraucht und damit Medien, Anzeigenkunden und Wettbewerber geschädigt.

Das sieht auch die EU-Kommission in ihrer Entscheidung so. Google habe den eigenen Auktionsserver AdX bevorzugt, damit seine Stellung gestärkt und hohe Gebühren verlangen können. Diese Bewertung ist ein wichtiger Schritt, um die Monopolmacht des Tech-Konzerns zu begrenzen. Googles Fehlverhalten ist gut belegt und auch in den USA durch ein Gericht bestätigt. Das ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, denn Googles Monopolstellung reduziert die Anzeigenerlöse der Medien und schwächt damit den Journalismus und letztlich die Demokratie.

Geldstrafen wirken nicht – nur Aufspaltung hilft

Die EU verhängt deshalb eine Milliardenstrafe. Sie legt sich aber nicht fest, wie der Machtmissbrauch und die Interessenkonflikte dauerhaft beendet werden sollen. Diese Entscheidung reicht nicht aus und kann nur der erste Schritt sein. Auch wenn Trump sich aufregt und mit Gegenmaßnahmen droht: Geldstrafen bewirken angesichts der gewaltigen Monopolgewinne von Google wenig. Im ersten Quartal 2025 steigerte Googles Mutterkonzern Alphabet seinen Umsatz auf 90,23 Milliarden US-Dollar, der Gewinn lag allein in diesen drei Monaten bei 34,54 Milliarden Dollar.

Verhaltensauflagen für den Konzern wären nur schwer kontrollierbar, Google könnte sie immer wieder durch neue unfaire Praktiken umgehen. Die EU-Kommission muss deshalb eine Aufspaltung weiter verfolgen, statt sich auf Googles Vorschläge und Wohlverhalten zu verlassen. Die EU-Kommission hatte in ihrer vorläufigen Analyse des Falls im Juni 2023 selbst gesehen, dass nur ein Verkauf von Teilen des Werbegeschäfts die Interessenkonflikte Googles beenden kann. Darauf verweist die Kommission auch in ihrer jetzigen Pressemitteilung. Das ist ein Lichtblick.

Die Machtstellung Googles auf mehreren Marktseiten führt unweigerlich zu Interessenskonflikten und öffnet dem Machtmissbrauch Tür und Tor. Nur durch eine Aufspaltung lässt sich dauerhaft sicherstellen, dass Google seine eigenen Werbedienste nicht bevorzugt und andere Marktteilnehmer nicht behindert. Die EU-Kommission muss den politischen Mut dafür aufbringen, um die Demokratie und die digitale Souveränität der EU zu schützen. Wir brauchen eine Wettbewerbspolitik, die die übermäßige Machtkonzentration in der digitalen Wirtschaft endlich auf struktureller Ebene angeht.

Ulrich Müller ist Mitgründer und Vorstand von Rebalance Now. Die Organisation tritt dafür ein, die Monopolisierung der Wirtschaft zurückzudrängen und die Macht großer Unternehmen zu beschränken. Das Ziel ist eine vielfältige und ausgewogene Wirtschaft.


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08.09.2025 13:51

In Spanien gilt sie als Erfolg, jetzt kommt sie auch in Deutschland: Die elektronische Fußfessel für Gewalttäter*innen soll Opfer von Partnerschaftsgewalt schützen. Doch Kriminologe Florian Rebmann warnt im Interview: In vielen Fällen hilft sie nicht – und könnte die eigentlichen Probleme verdecken.

Beine in Jeans und Turnschuhen, an einem Knöchel ist eine elektronische Fußfessel befestigt
Die elektronischen Fußfessel für den Gewaltschutz haben SPD und CDU schon im Koalitionsvertrag vereinbart. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / brennweiteffm

Etwa jeden dritten Tag bringt in Deutschland ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin um. Das ist nicht neu. Neu ist, dass derzeit auch Politiker*innen den Kampf gegen Femizide zu einer Priorität erklären und darüber diskutieren, was sich dagegen tun lässt. Besonders beliebt unter den möglichen Maßnahmen: die elektronische Fußfessel für Gewalttäter*innen, nach dem sogenannten spanischen Modell.

In Spanien wird sie schon seit 2009 eingesetzt, in Deutschland will Schwarz-Rot sie jetzt im Gewaltschutzgesetz verankern. Das Bundesjustizministerium (BMJ) hat dafür Ende August einen Gesetzentwurf vorgestellt.

Künftig sollen Familiengerichte bundesweit die elektronische Fußfessel anordnen können, um Näherungsverbote durchzusetzen und gewaltsame Täter*innen auf Abstand zu halten. Das Besondere dabei: Statt einen Radius um die Wohnung oder den Arbeitsplatz zur verbotenen Zone zu erklären, funktioniert das Näherungsverbot in solchen Fällen dynamisch. Der Gefesselte trägt einen mit GPS ausgestatteten Sender am Bein, die betroffene Person trägt auf Wunsch ebenfalls ein Gerät bei sich. Kommt die Person näher als der gerichtlich angeordnete Abstand, soll ein Alarm ausgelöst werden.

Der Kriminologe Florian Rebmann arbeitet als Teil eines Teams an der Universität Tübingen an einer großangelegten Studie zu Femiziden in Deutschland. Er warnt im Interview mit netzpolitik.org: Die Fußfessel darf nicht dafür sorgen, dass die Debatte um Gewaltschutz abebbt.

netzpolitik.org: Herr Rebmann, warum ist die elektronische Fußfessel als Maßnahme für Gewaltschutz ausgerechnet jetzt oben auf der politischen Agenda in Deutschland angekommen?

Florian Rebmann: Das Thema Partnerschaftsgewalt ist gerade politisch relevant, es besteht ein großer Handlungsdruck. Die Fußfessel ist eine Maßnahme, die, wenn man den Berichten aus Spanien glaubt, sehr gut funktionieren soll. Gleichzeitig kann man diese Maßnahme gut kommunizieren, weil sie sehr direkt die potentiellen Täter betrifft.

Was die Fußfessel nicht leisten kann, ist die strukturellen Ursachen dieser Delikte anzugehen. Das wäre auch mit einem viel höheren Aufwand verbunden. Sie ist also einerseits nur Symptombekämpfung. Andererseits gibt es aber auch Anhaltspunkte dafür, dass die Fußfessel in Einzelfällen etwas bringt.

netzpolitik.org: In Spanien ist die Zahl der Femizide pro Jahr erheblich zurückgegangen. Laut spanischem Innenministerium kam es bei keinem der rund 13.000 Fälle, in denen eine Fußfessel angeordnet wurde, zu einer Tötung. Klingt das nicht nach einem Erfolg?

Florian Rebmann: Da muss man vorsichtig sein. Man kann aus den verfügbaren Daten nicht ableiten, dass dieser Rückgang auf die Einführung der elektronischen Fußfessel zurückzuführen ist. Seit sie im Jahr 2009 in Spanien eingesetzt wird, wurde dort eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen ergriffen. Es ist also nicht klar, auf welche dieser Maßnahmen der Rückgang an Femiziden zurückgeht.

Interessanter als die Fallzahlen finde ich die Information, dass es bei keinem der begleiteten Fälle zu einer Tötung kam. Auch das bedeutet zwar nicht zwangsläufig, dass die Maßnahme funktioniert, weil ja nicht feststeht, dass diese Menschen ohne Fußfessel eine schwere Gewalttat begangen hätten. Bei so vielen Anordnungen kann man aber schon folgern, dass die Maßnahme etwas bringt.

netzpolitik.org: Ist die Lage in Spanien überhaupt mit der in Deutschland vergleichbar?

Florian Rebmann: Nein. Spanien hat schon 2004 sein Gewaltspräventionssystem, das Frauen schützen soll, grundlegend reformiert. Es gibt dort nicht nur die Fußfessel, sondern spezialisierte Polizeibeamt*innen und Staatsanwaltschaften. Es gibt spezialisierte Gerichte, die über alle Rechtsfragen entscheiden, die mit Gewalt an Frauen zu tun haben. All diese Behörden kommunizieren direkt miteinander. In Deutschland gibt es zwar auch seit 2002 das Gewaltschutzgesetz, aber die verschiedenen Maßnahmen greifen nicht so harmonisch ineinander. Jedes Bundesland hat andere Regeln und es ist nicht so, dass nach einer Anzeige bei der Polizei automatisch das Gewaltschutzgesetz aktiviert würde. Spanien hat einen systemischen Ansatz verfolgt; in Deutschland ist es Stückwerk geblieben.

„Viele Opfer rechnen nicht damit, getötet zu werden“

netzpolitik.org: Sie haben anhand eines Samples von 108 Partnerinnentötungen in Deutschland aus dem Jahr 2017 rückblickend untersucht, wie viele davon eine Fußfessel möglicherweise hätte verhindern können. Das war nur bei rund 12 Prozent der Fall. Woran liegt das?

Florian Rebmann: Es gibt sehr unterschiedliche Falltypen von Partnerinnentötungen und nicht auf jede ist die Fußfessel anwendbar. Das gängige Bild ist: schlagender Mann, Frau trennt sich, Mann erträgt das nicht und reagiert mit der Tötung. Diese Fälle gibt es, viele sind jedoch ganz anders gelagert. Alte Paare etwa, wo das Opfer krank ist und der Täter entscheidet, dass es sterben soll. Suizidale Täter, die nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Frau töten. In solchen Fällen beobachten wir vorher meist wenig Gewalt in der Beziehung. Die Opfer rechnen auch nicht damit, getötet zu werden.

Porträtfoto von Florian Rebmann
Florian Rebmann forscht an der Universität Tübingen zu Femiziden. - Alle Rechte vorbehalten Florian Rebmann

netzpolitik.org: Die Fußfessel adressiert also nur bestimmte Hochrisikofälle.

Florian Rebmann: Und nur Fälle, in denen es vorher schon zu Gewalt kam. Selbst unter diesen Betroffenen gibt es sehr viele, die sich nicht an staatliche Stellen wenden. In solchen Fällen können natürlich auch keine präventiven Maßnahmen angeordnet werden. Die Fußfessel kann also nur in den wenigen Fällen helfen, in denen Opfer nach einer vorherigen Gewalttat auch ein Näherungsverbot beantragen und das bewilligt wird.

netzpolitik.org: Das zentrale Problem scheint zu sein, dass viele Betroffene sich nie bei der Polizei melden oder Anzeige erstatten. Warum ist das so?

Florian Rebmann: Wir wissen aus der Forschung, dass es zwischen Opfern und der Polizei, die sie schützen soll, häufig zu Konflikten und Missverständnissen kommt. Weil Opfer von häuslicher Gewalt häufig in akuten Gefährdungssituation die Polizei rufen, sich dann aber umentscheiden, keine Anzeige erstatten wollen oder Anzeigen wieder zurückziehen. Durch dieses Hin uns Her gewinnt die Polizei den Eindruck, die Gewalt sei gar nicht so schlimm oder die Opfer seien unzuverlässig. Für dieses Verhalten gibt es aber sehr nachvollziehbare Gründe, wenn man sich in die Situation der Menschen hineinversetzt. Sie haben Angst, fürchten etwa um das Sorgerecht für gemeinsame Kinder, sie werden von ihrem Partner bedroht oder sind finanziell von ihm abhängig. Opfer glauben, die Polizei kann ihnen nicht helfen oder machen die Erfahrung, dass die Maßnahmen der Polizei nichts an ihrer Situation ändern.

„Wenn man Gewalt gegen Frauen grundlegend angehen wollte, müsste man anders herangehen“

netzpolitik.org: Halten Sie es vor diesem Hintergrund überhaupt für sinnvoll, die elektronische Fußfessel einzuführen?

Florian Rebmann: Es ist ohnehin schon extrem schwierig für die Politik, etwas gegen häusliche Gewalt zu tun. Die geringe Zahl der Fälle, in denen die Fußfessel eine Tötung verhindern könnte, würde aus meiner Sicht also nicht gegen die Einführung sprechen. Man könnte auch sagen: Es gibt nur schlechte Optionen. Wir müssen sie alle umsetzen.

netzpolitik.org: Dann anders gefragt. Sehen Sie die Gefahr, dass die Politik die Wirkung der Fußfessel überschätzt und andere dringend notwendige Maßnahmen aus dem Blick geraten?

Florian Rebmann: Wenn man bei der Fußfessel stehen bliebe und die Spannung abfällt, wäre das ein Problem. Partnerschaftsgewalt hat strukturellen Ursachen. Da geht es um psychische Erkrankungen bei Täter*innen, um finanzielle und soziale Probleme, um Ungleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Wenn man das Problem Gewalt gegen Frauen grundlegend angehen wollte, müsste man ganz anders herangehen: Sozialreformen machen und umfassende Aufklärungskampagnen. Solche Maßnahmen sind schwerer zu kommunizieren und zeigen keine schnelle Wirkung. Sie wären aber wichtiger, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Was also nicht passieren sollte: Fußfesseln einführen und davon ausgehen, damit sei alles gut.

netzpolitik.org: Nach den Plänen der Bundesregierung sollen Familiengerichte nicht nur die Fußfessel anordnen dürfen, sondern auch verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter*innen.

Florian Rebmann: Das ist ein guter Ansatz. Im Moment kann Täterarbeit erst nach einer Verurteilung angeordnet werden. Der Täter muss schuldig gesprochen werden, vorher spielt das so gut wie keine Rolle. Das Problem: Bei schweren Gewaltverbrechen an Frauen, das konnten wir zeigen, sind die Täter in der Regel vorher noch nicht verurteilt worden. Das Strafrecht kommt also zu spät. Die Hoffnung bei der Reform ist, dass jetzt auch schon Familiengerichte im Eilverfahren Maßnahmen wie Anti-Gewalt-Trainings verordnen können und dass sie früher greifen.

Ich sehe allerdings ein Problem auf uns zukommen: Wenn jetzt mehrere Tausend Menschen in Deutschland diese Weisung bekommen, gibt es dafür kein ausreichendes Angebot. Man müsste also auch die Täterarbeit viel stärker ausbauen und finanziell fördern, sonst können Täter die Auflagen nicht erfüllen.

netzpolitik.org: Die Fußfessel ist ein tiefer Eingriff in die Grundrechte der Überwachten. Ihr Standort wird rund um die Uhr überwacht; das Gerät ist etwa am Strand oder im Fitnessstudio für andere sichtbar. Sehen Sie einen so tiefen Eingriff als gerechtfertigt, ohne dass jemand strafrechtlich verurteilt wurde?

Florian Rebmann: Ich kritisiere an dem Entwurf, dass die Voraussetzungen für eine Anordnung nicht hoch genug sind. Ich hätte erwartet, dass hier eine Einschränkung gemacht wird, was die Schwere der potenziellen Straftat angeht, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren.

netzpolitik.org: Laut Entwurf muss die Anordnung „unerlässlich“ sein, um ein Näherungsverbot durchzusetzen und es muss eine Straftat zu befürchten sein, die sich gegen Leben, Leib, persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet.

Florian Rebmann: Diese Maßnahme kann nur dann plausibel begründet werden, wenn wir davon ausgehen, dass Personen in Zukunft gefährlich werden. Über die Täter, die im Eilverfahren vom Familiengericht so eine Anordnung bekommen, wissen wir aber in der Regel sehr wenig. Sie werden nicht begutachtet. Die Gerichte stellen auch keine komplexen Prognosen an. In der Regel vermuten Gerichte aufgrund einer früheren Verletzung, dass Täter nochmal etwas tun werden. Das genügt meiner Meinung nach als prozessuale Absicherung einer so schweren Maßnahme nicht. Wenn man dann im dazu gehörigen Gesetz noch niedrige Voraussetzungen hat, könnte das in der Gesamtschau als nicht verfassungsgemäß eingeschätzt werden. Ich würde deswegen erwarten, dass hier entweder klar geregelt wird, wie die Prognose gestellt werden kann oder die Voraussetzung für die Anordnung von Fußfessseln erhöht werden.

„Nicht nur das Opfer muss sein Leben einschränken“

netzpolitik.org: Wie sicher ist die Technologie hinter den Fußfesseln? Wenn Täter etwa eine Fußfessel mit wenigen Tricks entfernen können oder ein technisches Problem simulieren, dann wäre sie nutzlos.

Florian Rebmann: Täter können sich der Fußfessel entledigen. Das Gerät löst dann einen Alarm aus und die Frage ist, wie schnell die Polizei darauf reagieren kann. Es gibt immer Fälle, in denen elektronisch Gefesselte entwischen und Straftaten begehen. Vollständige Sicherheit bietet sie also nicht, und das sollte man den Betroffenen, die damit geschützt werden sollen, auch vermitteln.

netzpolitik.org: Beim Entfernen der Fußfessel drohen Gefängnisstrafen. Aber wenn ein Täter bereit ist, Gewalt gegen einen Menschen anzuwenden, warum sollte ihn die Strafandrohung beim Entfernen der Fußfessel abschrecken?

Florian Rebmann: Die herkömmliche Fußfessel für Straftäter*innen ist so konzipiert, dass die Strafdrohung verhindern soll, dass der Täter die Fußfessel ablegt. Bei wild entschlossenen zukünftigen Mördern ist es illusorisch, dass das einen Effekt hat. Solche Täter haben schon lange entschieden, dass ihnen egal ist, ob sie ins Gefängnis kommen. Die Fußfessel nach dem spanischen Modell hat aber neben der Abschreckungsfunktion auch die Funktion der Gefahrenabwehr. Die Fessel wirkt also nur, wenn die Polizei in so einem Fall sehr schnell informiert wird und noch in der Gefahrensituation eingreift. Ob das klappen wird, werden wir sehen.

netzpolitik.org: Was weiß man dazu, wie sich die Fußfessel auf die Wahrnehmung der damit geschützten Personen auswirkt? Können Sie dadurch angstfreier leben?

Florian Rebmann: Befragungen haben gezeigt, dass sich die Opfer durch die Überwachung des potentiellen Täters sicherer fühlen. Es führt dazu, dass die verantwortliche Person überwacht wird und die Last trägt – nicht nur das Opfer muss sein Leben einschränken. Da ist also auch eine moralische Komponente dabei. Opfer berichten, dass sie nach Jahren endlich ohne Angst einkaufen gehen oder die Kinder zur Schule bringen können. Die Befragungen zeigen aber auch, dass das stark davon abhängt, wie eng die Opfer von den Behörden begleitet werden. Zum Beispiel, ob sie etwa bei einem Alarm sofort informiert werden, was los war.


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07.09.2025 09:30

Wir sind voller Schadstoffe und Gewürm. Das sagen Model-Mama Heidi Klum und „Langlebigkeits-Influencer“ Bryan Johnson. Dabei tragen die Promis selbst zur allgemeinen Vergiftung bei.

Ein düsteres Gemälde zeigt eine Insel, ein Boot, darauf ein Mann nur mit Lendenschurz bekleidet, der prophetisch die Arme hebt.
Auch Promis müssen sterben. – Public Domain Vincent Först mit ChatGPT

In der Antike deuteten Wahrsager aus den Eingeweiden von Opfertieren die Zukunft. Von großer Bedeutung war die Leberschau – die Leber galt als Organ, das den Zustand der Welt widerspiegelt. Für seherische Weissagungen brauchen wir heute glücklicherweise keine Tierkadaver mehr. Die dauerausgestellten Idealkörper unserer Stars sind für alle sichtbar und ihre prophetischen Deutungen erreichen täglich Tausende Menschen.

So auch der alarmierende Orakelspruch von Heidi Klum: „Wir haben anscheinend alle Parasiten und Würmer“, sagte die Model-Mama jüngst in einem Interview mit dem Wall Street Journal. Sie unterziehe sich daher mit Ehemann Tom Kaulitz einer langwierigen „Parasiten-Reinigung“.

Doch nicht nur bei Heidi ist der Wurm drin. Als „der Mann, der unsterblich sein will“ geistert Bryan Johnson schon seit einigen Jahren durch die Medien. Der US-amerikanische Geschäftsmann und „Langlebigkeits-Influencer“ stellte in seinem Podcast fest: „Unsere Eltern sind voll mit Asbest, wir sind voller Mikroplastik“. Johnson zählt sich selbst zu den „Top 1 %“, gemessen an seiner „Entzündungsrate“ und der Anzahl seiner „nächtlichen Erektionen“.

Die Katastrophe scheint also unausweichlich. Gift und Gewürm geben sich im sonst über alle Maßen gepflegten Promi-Body die Klinke in die Hand. Können uns da Mikroplastik-Tests und Wurmkuren noch retten?

Der Feind in uns

Wenn Klum und Johnson die allumfassende Verseuchung verkünden, sprechen sie gern im Plural. Wir alle sind schwer belastet durch Luftverschmutzung, Mikroplastik und UV-Strahlen, sind gezeichnet von Süchten und Faulheit. Oben drauf kommen Hass und Hetze, schlechte Kunst und mieser Content. Der Gesellschaft bleibt also gar nichts anderes übrig, als den eigenen Körper und die Umwelt als feindlich wahrzunehmen.

Dagegen „helfen“ sollen die verschiedensten Produkte: Atemschutzmasken mit eingebauten Noise-Cancelling-Kopfhörern, „Serum“ mit Lichtschutzfaktor 50 aus Südkorea, Stanley Cups für ausreichend Hydration und einen strahlenden Teint. Für die Feinde im eigenen Kopf und Körper – alternde Zellen, ansetzendes Fett, Einsamkeit oder ein undisziplinierter Geist – gibt es proteinreiche Ernährung, Pillen, Hormontherapien, Dating– und Fitness-Apps.

Die Aussicht auf die nahende Katastrophe oder gar die Todesangst der eigenen Kunden sind immer gut für das Geschäft. Das wissen die Wurm-Gurus auf TikTok, die teure Anti-Parasiten-Tinkturen vertreiben, ebenso wie die Beauty-Industrie und am besten wohl Bryan Johnson, der am regressiven Wunsch nach Unsterblichkeit kräftig mitverdient.

Sauber bleiben in einer schmutzigen Welt

Johnson und Klum verkaufen die Idee eines ewigen Lebens an verzweifelnde Kunden – und das in einer zunehmend schmutzigen Welt, die langsam aber sicher an ihrem eigenen Müll erstickt. Zwar lässt sich Mikroplastik im Gegensatz zu Heidis Parasiten nachweisen, fürs menschliche Auge aber ist es unsichtbar.

Von der eisigen Antarktis bis in die Tiefen des Marianengrabens, ob in Sperma, Uterus oder Gehirn, ob Biomarkt oder Discounter – die winzig kleinen Plastikteilchen sind bereits überall. Und wenn gesundheitsbewusste und zahlungskräftige Kunden auf das Problem aufmerksam gemacht werden, boomt das Geschäft für Johnson und Konsorten.

Johnson selbst hat bereits mit der Entplastifizierung des Körpers begonnen und seine Plastikwerte angeblich um ein Vielfaches gesenkt. Für Normalsterbliche ist das noch nicht möglich. Aber wer jetzt schon wissen mag, wie viel Mikroplastik im eigenen Blut herumschwimmt, dem verkauft Johnson Mikroplastik-Tests für 135 Dollar das Stück. Der Zweck des Produktes richtet sich dabei – wie gewohnt – auf die Bekämpfung der Symptome, nicht ihrer Ursachen.

Wiederkehr verdrängter Schuld

Gleichzeitig arbeiten diejenigen, die vor den Konsequenzen ihres eigenen Treibens am besten geschützt sind, fleißig an der kulturellen und physischen Zersetzung der Welt mit. Parasiten-Prophetin Heidi Klum, die im People Magazine verkündete, dass „Älterwerden okay ist“ und sich „total für Botox“ ausspricht, hat immerhin fünf Jahre lang für die Fast-Food-Kette McDonalds geworben.

Wen wundert es angesichts dieser Ambivalenz, dass Heidi bei ihrer berühmt-berüchtigten Halloween-Party als Riesenwurm auftrat. War das grandiose Kostüm unbewusster Ausdruck der eigenen Todesangst und des verdrängten schlechten Gewissens?

Die Würmer folgen der armen Heidi nun selbst in die virtuelle Heimat. Im persönlichen Social-Media-Feed setzt sich die grausige Thematik fort, wie sie im Wall-Street-Journal-Interview verrät: „Gerade ist mein kompletter Instagram-Feed voll mit Würmern und Parasiten“.

Ähnliche Widersprüche tun sich bei Johnson auf. Der Influencer sagt zwar, dass „wir die Welt in Plastik gebadet haben“. Seine Olivenöl-Hausmarke „Snake Oil“ verkauft er aber dennoch in reisetauglichen Plastiksäckchen zu je 15 Milliliter.

Die Langlebigkeits-Jünger loben das Schlangen-Öl in zahlreichen Kommentaren auf der Verkaufs-Website: „Kein Problem mit dem Geschmack, ich nehme jeden Morgen problemlos einen Esslöffel ein. Das Flaschendesign gefällt mir sehr.“ Und ein anderer schreibt: „Ich trinke gerade meine fünfte Flasche Olivenöl.“ Amerikaner eben.

Madige Aussichten

Wer den Menschen Parasiten andichtet und sie glauben machen will, dass die Mikromenge an „Polyphenolen“ in Olivenöl ewiges Leben verheißt, der ist kein Seher, sondern ein Scharlatan.

Und während die tatsächliche Plastikwerdung von Umwelt und Körper voranschreitet, sind Klum und Johnson vermutlich die Ersten, die sich von Verkaufsschalter und Behandlungstisch auf ihre vom Plebs abgeschirmten Yachten oder in sterile Bunker flüchten.

Grund zur Hoffnung gibt es trotzdem. Für die Verwurmten unter uns hat die Model-Mama immerhin noch einen Hausmittel-Tipp parat: „Der Parasit hasst Nelken. Er hasst auch die Samen einer Papaya.“


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06.09.2025 09:15

Die 36. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 14 neue Texte mit insgesamt 94.578 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

– Fraktal, generiert mit MandelBrowser von Tomasz Śmigielski

Liebe Leser:innen,

zu Beginn dieser Woche hab ich zufällig ein kurzes Video über Bambus angeschaut. Wusstet ihr, dass einige Arten pro Tag fast einen Meter in die Höhe schießen? Man kann ihnen buchstäblich beim Wachsen zusehen.

Ich bin dann in ein Wurmloch gefallen und hab erfahren, dass Bambus es bei der Zugkraft mit Stahl aufnehmen kann. Dass er weit mehr Sauerstoff freisetzt als Bäume. Und natürlich essen ihn süße Pandabären.

Ein weit weniger erbauliches Bild zeigt die zurückliegende (netz-)politische Woche. Vorratsdatenspeicherung, Daten-Rasterfahndung, biometrische Live-Videoüberwachung – die ungeheuerlichsten Überwachungspläne sprießen gerade so aus dem Boden. Gleichzeitig will die Bundesregierung die Zivilgesellschaft unter Extremismus-Generalverdacht stellen, um ihr die Mittel und Rechte zu beschneiden. Und daneben fällt ihr nichts Besseres ein, als den Druck auf marginalisierte Menschen einmal mehr zu erhöhen – mit weiteren Streichungen und noch härteren Sanktionen.

Mir war klar, dass die Bäume mit Schwarz-Rot nicht in den Himmel wachsen werden. Dass die Regierung aber so rasch und beherzt Richtung Autoritarismus und Überwachungsstaat marschiert – wie auch Lena Rohrbach und Philipp Krüger von Amnesty International mit Blick aufs geplante Bundespolizeigesetz konstatieren –, habe ich dann doch nicht erwartet.

Zurück zum Bambus. Auch wir sind diese Woche ordentlich gewachsen. Drei neue Menschen gehören seit dem 1. September unserem Team an. Timur ist unser erster Volontär und macht nebenher noch Beiträge für KiKA. Bahn-Nerd Ben ist für die nächsten 12 Monate unser Bundesfreiwilliger. Und Fio unterstützt uns ab sofort bei der Social-Media-Arbeit. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit!

Verabschieden mussten wir uns von Lilly, die uns ein Jahr lang tatkräftig als Bundesfreiwillige unterstützt hat. Wie sie auf ihre Zeit bei uns zurückblickt, erzählt sie in der aktuellen Folge unseres Podcasts Off/On. Hört gerne rein. Und vielen Dank für alles, Lilly!

Habt ein schönes Wochenende

Daniel


Verdrängung: Vor dem Schlafzimmerfenster steht ein Kameraturm

Ein Immobilieneigentümer lässt einen Kameraturm im Hof eines Berliner Wohnhauses aufstellen. Der offizielle Anlass: weil ein Bauzaun gestohlen wurde. Doch die Annahme liegt nah, dass die Mieter*innen mit der Technik verdrängt werden sollen. Von Martin Schwarzbeck –
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Österreich: Das Amtsgeheimnis ist weg, es lebe die Informationsfreiheit!

Ab 1. September gilt in Österreich ein Informationsfreiheitsgesetz, endlich. Doch damit öffentliche Stellen die neuen Transparenzvorgaben auch wirklich einhalten, braucht es interessierte Bürger*innen, einen Kulturwandel in der Verwaltung und engagierte Beobachter*innen. Von Anna Biselli –
Artikel lesen

Hikvision: Hersteller der Hamburger KI-Überwachungskameras ist für Menschenrechtsverletzungen bekannt

In Hamburg wird seit gestern eine KI mit den Bildern von Passant*innen trainiert. Sie stammen aus Überwachungskameras des chinesischen Herstellers Hikvision. Diese Kameras können viel mehr als sie dürfen. Produkte des teilstaatlichen Unternehmens werden auch genutzt, um Uigur*innen und Palästinenser*innen zu überwachen. Von Martin Schwarzbeck –
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Bundespolizeigesetz: Harte Zeiten für den demokratischen Rechtsstaat

Die Bundesregierung will ein neues Bundespolizeigesetz schaffen. Die alte Ampel-Regierung hatte dabei zumindest auch progressive Instrumente geplant. Der aktuelle Gesetzentwurf von schwarz-rot ist ein Schritt in Richtung Autoritarismus und Überwachungsstaat. Von Gastbeitrag, Lena Rohrbach, Philipp Krüger –
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Big-Data-Rasterfahndung: Die Palantir-Konkurrenz schläft nicht

Innenminister Dobrindt braucht IT-Dienstleister, wenn er die automatisierte Datenanalyse bei den Polizeien des Bundes wie geplant gesetzlich erlauben will. Dass es Alternativlösungen zum US-Konzern Palantir gibt, ist kein Geheimnis. Von Constanze –
Artikel lesen

Australisches Gutachten: Anbieter von Alterskontrollen horten biometrische Daten

Ein Gutachten im Auftrag der australischen Regierung hat Systeme für Alterskontrollen untersucht. Die zuständige Ministerin sieht sich in ihren Plänen bestätigt. Doch abseits einiger rosiger Formulierungen übt das Gutachten alarmierende Kritik. Ein Kommentar. Von Sebastian Meineck –
Artikel lesen

Trotz Trump: EU-Gericht gibt grünes Licht für transatlantischen Datenverkehr

Unternehmen dürfen weiter ohne besondere Schutzmaßnahmen Daten von Europäer:innen in die USA schicken. Eine Klage gegen das EU-US-Data-Privacy-Framework ist gescheitert. Nun könnte das Problem erneut vor dem EuGH landen. Von Ingo Dachwitz –
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US-Kartellverfahren: Monopolist Google kommt ungeschoren davon

Google sei ein Monopolist, hat ein US-Richter im vergangenen Jahr entschieden. Spürbare Konsequenzen folgen daraus jedoch nicht: Eine von vielen erwartete Zerschlagung des Werbekonzerns bleibt aus. Von Tomas Rudl –
Artikel lesen

Vorratsdatenspeicherung: Sag deine Meinung zur Massenüberwachung

Die EU-Initiative für eine neue Vorratsdatenspeicherung ist auf dem Weg. Die EU-Kommission fragt in einer öffentlichen Konsultation nach eurer Meinung. Wollt ihr verhindern, dass Metadaten aller Menschen ohne Anlass europaweit gespeichert werden? Dann bringt euch ein. Von Constanze –
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Hessisches Psychisch-Kranken-Hilfegesetz: „Aus einem Genesungsschritt wird ein Sicherheitsrisiko gemacht“

Wenn eine Person nach ihrer unfreiwilligen Einweisung in eine psychiatrische Klinik wieder entlassen wird, soll darüber in Hessen künftig in manchen Fällen die Polizei informiert werden. Expert:innen warnen vor Stigmatisierung und Datenschutzproblemen. Von Anna Biselli –
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Berichte über Überwachung in Gaza: Microsoft entlässt Mitarbeitende nach Protesten

Seit Monaten protestieren Microsoft-Mitarbeitende in den USA dagegen, dass ihr Unternehmen Geschäftsbeziehungen zum israelischen Militär und der israelischen Regierung unterhält. Microsoft hat einige demonstrierende Angestellte entlassen. Zugleich will das Unternehmen prüfen, ob israelische Streitkräfte die Azure-Plattform zur Überwachung von Palästinenser:innen nutzen. Von Timur Vorkul –
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Transparenzbericht 2. Quartal 2025: Unsere Einnahmen und Ausgaben und mehr Reichweite

Unser Projekt Reichweite nimmt Form an. Dafür sind auch neue Menschen ins Team gekommen. Wir freuen uns gemeinsam mit ihnen auf das, was kommt. Und zappen häufiger zum Kinderkanal. Von netzpolitik.org –
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Zivilgesellschaft: Familienministerin will Demokratieprojekte mit Verfassungsschutz durchleuchten

Seit langem blasen rechte Akteure zum Angriff auf die Zivilgesellschaft. Nun verspricht Familienministerin Prien in einem Brief an die Union, dass Nichtregierungsorganisationen im Programm „Demokratie leben“ einer „breit angelegten Verfassungsschutzprüfung“ unterzogen würden. Wie viele Organisationen durchleuchtet werden, will das Ministerium nicht verraten. Von Markus Reuter –
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#299 Off The Record: Wie unsere jüngsten Team-Mitglieder auf unsere Arbeit und Soziale Medien blicken

Die Prakti-Ausgabe unseres Podcasts ist wieder da! Diesmal mit unserer Praktikantin Karoline und unserer bisherigen Bundesfreiwilligen Lilly. Wir sprechen über gemeisterte Herausforderungen, die Bedeutung von Social Media und über ihre Erfahrungen in einem alternden Team. Von Ingo Dachwitz –
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06.09.2025 06:00

Die Prakti-Ausgabe unseres Podcasts ist wieder da! Diesmal mit unserer Praktikantin Karoline und unserer bisherigen Bundesfreiwilligen Lilly. Wir sprechen über gemeisterte Herausforderungen, die Bedeutung von Social Media und über ihre Erfahrungen in einem alternden Team.

Drei Menschen mit großen Kopfhörern lächeln in die Kamera
Ingo, Karoline und Lilly bei der Arbeit

Karoline ist seit zwei Monaten Praktikantin bei uns. Lilly war seit September 2024 unsere Bundesfreiwillige im Rahmen eines „Freiwilligenjahres Beteiligung“. In der neuen Ausgabe Off The Record erzählen die beiden, was sie bei uns erlebt haben. Welche Tätigkeiten haben sie übernommen? Was haben sie gelernt? Und wie ist das so als junger Mensch in einem älteren Team?

Außerdem gibt’s eine kleine Meme-Nachhilfestunde. Wir sprechen nämlich auch über ihre Erfahrungen mit unserer Community und über die Rolle Sozialer Medien. Lilly hat im letzten Jahr unseren Instagram-Account betreut, Karoline hat sich im Studium intensiv mit Social Media beschäftigt. Was denken die beiden: Sollten wir den Insta-Account unserer Redaktion dichtmachen?


In dieser Folge: Ingo Dachwitz, Karoline Tanck und Lilly Pursch.
Produktion: Serafin Dinges.
Titelmusik: Trummerschlunk.


Hier ist die MP3 zum Download. Wie gewohnt gibt es den Podcast auch im offenen ogg-Format. Ein maschinell erstelltes Transkript gibt es im txt-Format.


Unseren Podcast könnt ihr auf vielen Wegen hören. Der einfachste: in dem Player hier auf der Seite auf Play drücken. Ihr findet uns aber ebenso bei Apple Podcasts, Spotify und Deezer oder mit dem Podcatcher eures Vertrauens, die URL lautet dann netzpolitik.org/podcast.


Wir freuen uns über Kritik, Lob, Ideen und Fragen entweder hier in den Kommentaren oder per E-Mail an podcast@netzpolitik.org.


Links und Infos

05.09.2025 18:23

Seit langem blasen rechte Akteure zum Angriff auf die Zivilgesellschaft. Nun verspricht Familienministerin Prien in einem Brief an die Union, dass Nichtregierungsorganisationen im Programm „Demokratie leben“ einer „breit angelegten Verfassungsschutzprüfung“ unterzogen würden. Wie viele Organisationen durchleuchtet werden, will das Ministerium nicht verraten.

Karin Prien stützt Gesicht in Hand und schaut kritisch
Möchte zivilgesellschaftliche Projekte „breit angelegt“ überprüfen: Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Jürgen Heinrich

Während die AfD in aktuellen Umfragen neue Höchstwerte verzeichnet, schießt sich die Bundesregierung ausgerechnet auf jenen Teil der Zivilgesellschaft ein, der für demokratische Werte und gegen den Rechtsruck kämpft. In einem Brief an die „Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag“ versichert Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU), dass sich im Programm „Demokratie leben“ nun „Grundlegendes ändern“ werde. Unter anderem sollen NGOs einer „breit angelegten Verfassungsschutzprüfung“ unterzogen werden. Den Brief veröffentlichen wir als PDF-Dokument.

Die Familienministerin stellt sich damit in eine unselige Tradition. Nicht nur die rechtsextreme AfD versucht seit Jahren, die demokratische Zivilgesellschaft unter Generalverdacht zu stellen. Auch Hetzportale wie Nius und rechte Medien wie Cicero, NZZ, Welt oder Focus kolportieren seit Langem, dass Deutschland von linken Nichtregierungsorganisationen quasi unterwandert sei und der Staat diese auch noch alimentiere.

Mit Kulturstaatsminister Wolfram Weimer hat diese Erzählung inzwischen einen Vertreter in der Regierung gefunden. Weimer treibt die Debatte kulturkämpferisch voran und hat bereits erste Maßnahmen gegen vermeintlich linke Medienprojekte ergriffen.

Attacken auf demokratische Zivilgesellschaft

Die Debatte um die Zivilgesellschaft geht inzwischen so weit, dass sich jüngst auch die als liberal geltende Wochenzeitung „Die Zeit“ zu der reißerischen Überschrift „Der Staat päppelt die Linken“ hinreißen ließ – nur um im Artikel Rechtsaußen-Rechtsanwalt Joachim „Natürlich bin ich ein Arschloch“ Steinhöfel zu Wort kommen zu lassen und im Verlauf des Textes die These der Überschrift halbwegs zu revidieren.

Auch die Union selbst hatte bereits zu Jahresbeginn ins gleiche Horn gestoßen. Ende Januar hatten CDU und CSU einen Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik in den Bundestag eingebracht und dabei mindestens billigend eine Mehrheit durch Stimmen der AfD in Kauf genommen. Daraufhin riefen zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen zu Protesten auf.

Offenbar als Reaktion darauf reichte die Union nur wenige Wochen später eine Kleine Anfrage im Bundestag ein. In einem umfangreichen Fragenkatalog erkundigte sie sich unter anderem nach der staatlichen Förderung für gemeinnützige NGOs. Die Anfrage wurde innerhalb der Zivilgesellschaft als Einschüchterungsversuch verstanden. Wissenschaftler:innen und Organisationen zeigten sich zutiefst beunruhigt durch das Vorgehen der Unionsfraktion, mehr als 500.000 Menschen unterzeichneten einen Appell an die Bundesregierung.

Grundlegende Änderungen angekündigt

Die Debatte ist nun wieder erstarkt. Und nachdem das Kabinett Ende August die Gelder für das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ bewilligt hatte, sah sich Familienministerin Karin Prien offenbar genötigt, sich für diese Entscheidung zu rechtfertigen und gleichzeitig anzukündigen, dass sich nun „Grundlegendes ändern“ werde.

In dem Brief von Prien an die CDU/CSU-Fraktion heißt es:

Wir stärken die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden und der wissenschaftlichen Extremismusforschung und berücksichtigen deren Erkenntnisse in der Programmsteuerung besser. Wer Zuwendungen des Bundes zum Schutz unserer Demokratie erhält, muss selbst Vorbild sein! Es gibt mehr als 400 direkte Partner und mehr als 3000 Projekte als Letztempfänger der Bundesmittel. Wir werden durch klare Strukturen und Verfahren sicherstellen, dass das Ziel, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung zu schützen, von allen angestrebt und auch erreicht wird. In einem ersten Schritt – nach wochenlanger Arbeit und mit dem Bundesministerium des Innern abgesprochen – wurde bereits eine breit angelegte Verfassungsschutzprüfung im sogenannten „Haber-Verfahren“ eingeleitet.

„Breit angelegte Verfassungsschutzprüfung“

Das Haber-Verfahren sieht vor, dass die jeweiligen Ressorts zunächst aus ihnen zugänglichen Quellen, wie etwa die jährlichen Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder, jene Organisationen prüfen, die sie mit dem Programm fördern. „Soweit hiernach eine Klärung nicht möglich sein sollte, können die Ressorts ihre Anfragen zu möglichen verfassungsschutzrelevanten Erkenntnissen über Organisationen, Personen und Veranstaltungen, über deren materielle bzw. immaterielle Förderung das Ressort zu entscheiden hat, unmittelbar an das BfV und nachrichtlich an das BMI richten“, heißt es in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages.

Der Wunsch aus der Union, Initiativen der demokratischen Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus unter Generalverdacht zu stellen, ist keineswegs neu. Im Jahr 2011 führte die damalige CDU-Familienministerin Kristina Schröder die sogenannte „Extremismusklausel“ bei Demokratieförderungsprogrammen ein. Diese Klausel sah vor, dass sich Initiativen zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichten mussten. Diese Verpflichtung erschwerte unter anderem eine zivilgesellschaftliche Bündnisarbeit etwa bei Protesten gegen Rechtsextremismus, weil geförderte Organisationen für ihre Bündnispartner in Mithaftung genommen wurden. Anfang 2014 wurde die Klausel wieder abgeschafft.

In Vergangenheit hunderte NGOs vom Verfassungsschutz überprüft

Die Durchleuchtung aber ging weiter. Zwischen den Jahren 2015 und 2018 wurden zahlreiche zivilgesellschaftliche Projekte vom Verfassungsschutz geprüft. Bei insgesamt 51 Projekten leitete das Familienministerium damals Daten an den Inlandsgeheimdienst weiter, dem damals noch Hans-Georg Maaßen als Präsident vorstand. Maaßen wird heute selbst vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Rechtsextremer geführt und beobachtet.

In den Jahren 2018 und 2019 soll der Verfassungsschutz dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zufolge im Rahmen des Haber-Verfahrens ebenfalls „hunderte Nichtregierungsorganisationen“ durchleuchtet haben.

Familienministerium mauert

Wir haben beim Bundesfamilienministerium nachgefragt, was hinter der Ankündigung der Ministerin steckt – und ob dies „eine Änderung der bisherigen Überprüfungspraxis“ darstellt. Außerdem wollten wir wissen, wie viele Überprüfungen durch den Verfassungsschutz im laufenden Jahr sowie in den vergangenen fünf Jahren erfolgt seien.

Nach drei Tagen und mit wiederholter Fristverlängerung schickte uns eine Sprecherin des Ministeriums folgende Antwort, die keine unserer Fragen beantwortet:

Über das allgemein Zugängliche hinaus können keine näheren Informationen zum Prüfverfahren mitgeteilt werden. Die Wirkung des Verfahrens könnte ansonsten beeinträchtigt werden. Im Übrigen wurde und wird keine statistische Erhebung im BMBFSFJ zu Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden geführt.


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05.09.2025 15:37

Unser Projekt Reichweite nimmt Form an. Dafür sind auch neue Menschen ins Team gekommen. Wir freuen uns gemeinsam mit ihnen auf das, was kommt. Und zappen häufiger zum Kinderkanal.

Ein impressionistisches Gemälde, das eine grüne Küstenlandschaft mit Menschen zeigt
In die weite Ferne richtet sich der Blick. – Public Domain William Merritt Chase – Landscape – Shinnecock, Long Island

Wir haben uns ein Ziel gesetzt: mehr Reichweite. Das kann erstmal vieles bedeuten. Beim Auto ist es die Zahl der Kilometer, die mit einer Tankfüllung oder Akkuladung zurückgelegt werden. In der Werbung geht’s um möglichst viele Menschen, die eine Anzeige zu sehen bekommen. Wir aber wollen vor allem neue Leser:innen erreichen. Denn wir sind überzeugt, dass unsere Artikel noch weit mehr Menschen interessieren könnten – vor allem jene, die uns vielleicht bislang gar nicht kennen.

Drei Dinge möchten wir dafür in den kommenden Monaten tun. Erstens frischen wir unsere Website auf. So viel sei verraten: Wir sichten bereits die ersten Entwürfe und sind schon sehr gespannt, wie ihr den neuen Anstrich finden werdet! Zweitens hat vor wenigen Tagen Fio bei uns angefangen. Als Werkstudierender wird er uns dabei unterstützen, unsere Texte, Recherchen und Kampagnen in den sozialen Medien bekannter zu machen. Und drittens hilft uns ab kommenden Jahr eine neue Software dabei, mehr und schnelleren Überblick zu unseren Spendeneinnahmen zu bekommen und die besser auszuwerten. Monat für Monat unterstützen uns viele Tausend Menschen mit durchschnittlich 8 Euro, damit wir unsere Arbeit machen können. Wir freuen uns auf das Upgrade!

Die harten Zahlen

Das Projekt Reichweite erstreckt sich vorerst bis Ende 2027. Aus unseren Rücklagen sind dafür insgesamt 200.000 Euro reserviert. Ungefähr ein Drittel davon geben wir für den Website-Relaunch und für die Implementierung der neuen Spendensoftware aus. Die neu geschaffenen Stellen für die Kampagnenarbeit in den sozialen Medien und für die Spendenverwaltung sind mit diesem Projekt auf bis zu drei Jahre langfristig finanziert. Da wir vorsichtig haushalten, haben wir einen Puffer von 7 Prozent einkalkuliert. Über die weitere Umsetzung und zur Mittelverwendung im Projekt Reichweite halten wir euch in den kommenden Transparenzberichten auf dem Laufenden.

Und damit zu den Zahlen des zweiten Quartals dieses Jahres. In den Monaten April, Mai und Juni erreichen uns bisher die geringsten Spendeneinnahmen im Jahresdurchschnitt. Gespendet habt ihr uns im zweiten Quartal insgesamt 174.320 Euro. Das ist quasi eine Punktlandung zu den von uns geplanten 174.000 Euro.

Unsere Spendeneinnahmen

Es werden Daten an Datawrapper übertragen.

Der Anteil der Einnahmen aus Spenden beträgt im zweiten Quartal 93 Prozent unserer Gesamteinnahmen, die sich auf 190.700 Euro belaufen. Das sind im Durchschnitt pro Monat 63.600 Euro. Um unsere monatlichen Ausgaben zu finanzieren, brauchen wir rund 100.000 Euro an monatlichen Einnahmen. Diese Lücke tut sich jedes Jahr ab Februar auf und schließt sich erst wieder zur Jahresendkampagne ab Mitte November. Wir halten unterjährig eine mittlere sechsstellige Summe aus dem Spendenergebnis der vorangegangenen Jahresendkampagne an Liquidität vor. Damit zahlen wir die Gehälter und Rechnungen in den Monaten, in denen die Einnahmen unter unseren Ausgaben liegen.

Ihr wisst, dass wir von all unseren Unterstützer:innen schwer begeistert sind. Und je mehr Menschen uns regelmäßig unterstützen, desto langfristiger können wir planen. Deshalb bitten wir euch regelmäßig, Dauerspender:in zu werden. Ende August haben wir eine Dauerspendenkampagne abgeschlossen. Wie die gelaufen ist, erzählen wir im nächsten Quartalsbericht.

Es werden Daten an Datawrapper übertragen.

Bei den Ausgaben im zweiten Quartal liegen die Personalkosten bei 217.313 Euro und damit rund 9.600 Euro unter den anvisierten Kosten unseres Stellenplans. Das liegt am Tarifabschluss im öffentlichen Dienst. netzpolitik.org zahlt Einheitslohn und fühlt sich bei der Gehaltshöhe dem TVöD Bund (EG 13, Stufe 1) verpflichtet. Die mit dem Tarifabschluss einhergehende erste Phase der Gehaltserhöhung seit April haben wir bei der Budgetrechnung höher kalkuliert als sie eingetroffen ist.

In den Sachkosten haben wir für das erste Quartal 70.236 Euro ausgegeben, rund 4.500 Euro weniger als gedacht. Hier sind alle Ausgabenbereiche unauffällig oder liegen unter dem Plan, da zum Beispiel Beratungskosten (noch) nicht abgerufen wurden. Im Bereich Spendenverwaltung haben wir für die Datenaufbereitung mehr verausgabt als geplant. Diese Kosten entstehen jährlich vor der Versendung der Zuwendungsbestätigungen. Dieses Jahr haben wir für eine Teilautomatisierung dieser Datenaufbereitung Geld in die Hand genommen.

Insgesamt haben wir für Sach- und Personalkosten im zweiten Quartal 287.549 Euro verausgabt. Hier liegen wir mit rund 14.220 Euro unter unserer Kalkulation für dieses Quartal. Im Verhältnis zu unseren gesamten Ausgaben wenden wir für die Redaktion inklusive der IT-Infrastruktur einen Anteil von 70 Prozent auf.

Im Bereich „Unvorhergesehenes“ – kalkulatorische fünf Prozent der Sachkosten – haben wir mit 6.800 Euro fast doppelt so viel ausgegeben als im Budget vorgesehen. Damit haben wir einen Schaden bereinigt, der uns von der Versicherung erstattet wurde. Daher fallen unsere sonstigen Einnahmen entsprechend höher als geplant aus.

Es werden Daten an Datawrapper übertragen.

Das vorläufige Ergebnis

Wir schließen das zweite Quartal mit einem Ergebnis in Höhe von -96.850 Euro ab. Erwartet hatten wir -123.120 Euro. Somit haben wir dank eures Spenden-Engagements und den zuvor beschriebenen Minderausgaben derzeit 26.270 Euro weniger zu finanzieren als geplant. Wir setzen darauf, dass sich diese Tendenz im Jahresverlauf hält. Danke für euren substanziellen Support!

Wenn ihr uns unterstützen möchtet, findet ihr hier alle Möglichkeiten. Am besten ist eine monatliche Dauerspende. Damit können wir langfristig planen:

Inhaber: netzpolitik.org e.V.
IBAN: DE62430609671149278400
BIC: GENODEM1GLS
Zweck: Spende netzpolitik.org

Wir freuen uns auch über Spenden via Paypal.

Wir sind glücklich, die besten Unterstützer:innen zu haben.

Unseren Transparenzbericht mit den Zahlen für das 1. Quartal 2025 findet ihr hier.

Vielen Dank an euch alle!


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04.09.2025 14:41

Seit Monaten protestieren Microsoft-Mitarbeitende in den USA dagegen, dass ihr Unternehmen Geschäftsbeziehungen zum israelischen Militär und der israelischen Regierung unterhält. Microsoft hat einige demonstrierende Angestellte entlassen. Zugleich will das Unternehmen prüfen, ob israelische Streitkräfte die Azure-Plattform zur Überwachung von Palästinenser:innen nutzen.

Drei Männer sitzen auf einer Bühne vor himmelblauem Hintergrund, auf dem eine große bunte Zahl 50 prangt.
Microsoft-Mitgründer Bill Gates, der ehemalige Microsoft-CEO Steve Ballmer und der amtierende CEO Satya Nadella (von links nach rechts) während der Feierlichkeiten zu Microsofts 50. Geburtstag im April dieses Jahres. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Agencia EFE

Sieben Microsoft-Mitarbeitende besetzten in der vergangenen Woche vorübergehend das Büro von Microsoft-Vizechef Brad Smith auf dem Firmengelände nahe Seattle. Die Aktivist:innen der Gruppe „No Azure for Apartheid“ stellten die Möbel um und klebten pro-palästinensische Banner an die Fenster.

Die Demonstrierenden forderten Microsoft auf, sämtliche Verträge mit dem israelischen Militär und der israelischen Regierung aufzukündigen. Außerdem solle der Konzern sämtliche Verbindungen zur Tech-Industrie in Israel offenlegen.

Konkret kritisieren sie, dass die israelische Armee Microsofts Cloud-Plattform Azure im Krieg in Gaza dazu nutzt, um Überwachungsdaten über die palästinensische Bevölkerung zu speichern. Damit mache sich Microsoft zum Komplizen an den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in dem Küstenstreifen.

Nur einen Tag nach der Protestaktion entließ der Tech-Konzern zwei Mitarbeitende, die sich an der Bürobesetzung beteiligt hatten. Zwei weitere Angestellte, die an einer vorangegangenen Aktion in der Microsoft-Zentrale teilgenommen hatten, müssen das Unternehmen ebenfalls verlassen.

Als Grund dafür gab der Konzern schwerwiegende Verstöße gegen die unternehmensinternen Richtlinien an. Die Demonstrationen auf dem Firmengelände hätten „erhebliche Sicherheitsbedenken aufgeworfen“.

Medienrecherchen als Auslöser der Proteste

Die Proteste hatte eine gemeinsame Recherche der britischen Tageszeitung The Guardian, der israelisch-palästinensischen Publikation +972 Magazine und des hebräischsprachigen Online-Mediums Sikha Mekomit ausgelöst. Die Medien hatten ihre Ergebnisse am 6. August dieses Jahres veröffentlicht.

Demnach nutze die Geheimdienst-Einheit „Unit 8200“ der israelischen Armee seit 2022 Microsofts Cloud-Angebot Azure, um Daten von Telefonanrufen im Westjordanland und im Gazastreifen im großen Stil zu speichern. Die quasi unbegrenzte Speicherkapazität der Cloud macht es der auf Überwachung spezialisierten Einheit möglich, eine riesige Menge an täglichen Anrufen aufzuzeichnen und die entsprechenden Daten über einen längeren Zeitraum zu horten.

Die Recherche basiert auf geleakten Microsoft-Dateien sowie auf Gesprächen mit Mitarbeitenden von Microsoft und des israelischen Militärs, darunter auch der „Unit 8200“. Ein Großteil der Überwachungsdaten wird der Recherche zufolge mutmaßlich in Microsoft-Rechenzentren in den Niederlanden und Irland gespeichert. Die Daten nutze das israelische Militär auch dazu, um Angriffsziele in Gaza auszumachen.

Microsoft will Vorwürfe klären

Gut eine Woche nach den Medienberichten leitete Microsoft eine Untersuchung der Vorwürfe durch eine externe Anwaltskanzlei ein. Die Untersuchung werde auf einer vorangegangenen Prüfung aufbauen, die keine Beweise dafür hervorgebracht habe, „dass Azure- und KI-Technologien von Microsoft dazu genutzt wurden, Menschen im Konflikt in Gaza anzugreifen oder zu schädigen“.

Das Unternehmen betont, die eigenen Nutzungsbedingungen würden eine Speicherung von Massenüberwachungsdaten untersagen. Zugleich schreibt der Konzern, nur begrenzt einsehen zu können, „wie Kunden unsere Software auf ihren eigenen Servern oder anderen Geräten nutzen“.

Die Gruppe „No Azure for Apartheid“ wies die angekündigte Untersuchung als „Verzögerungstaktik“ zurück. Sie kritisiert, dass Microsoft nicht auf ihre Forderung eingehe, Verträge mit der israelischen Armee zu beenden.

Auch Amazon und Google stellen Dienste für das israelische Militär bereit

Die Proteste gegen Microsofts Geschäftsbeziehungen mit Israel dauern bereits seit Monaten an.

Bereits im Mai dieses Jahres hatte Microsoft einen Mitarbeiter entlassen, der eine Rede von CEO Satya Nadella mit Zwischenrufen gestört hatte. Im April kündigte das Unternehmen zwei Mitarbeitenden, nachdem diese eine Feier zum 50-jährigen Firmenjubiläum unterbrochen hatten.

Microsoft ist nicht der einzige Tech-Konzern, dessen Belegschaft gegen die Zusammenarbeit mit dem israelischen Militär protestiert.

Seit Beginn des Krieges in Israel und Gaza am 7. Oktober 2023 nutze die israelische Armee nicht nur zivile Clouddienstleistungen von Microsoft, sondern auch von Amazon und Google, schreibt +972 Magazine. Demnach sei die Zusammenarbeit mit der Armee für die drei Unternehmen ein lukratives Geschäft. Das israelische Verteidigungsministerium gelte zudem als wichtiger strategischer Kunde, dessen Meinung als „Vorreiter“ auch für andere Sicherheitsbehörden großen Wert habe.


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04.09.2025 11:28

Wenn eine Person nach ihrer unfreiwilligen Einweisung in eine psychiatrische Klinik wieder entlassen wird, soll darüber in Hessen künftig in manchen Fällen die Polizei informiert werden. Expert:innen warnen vor Stigmatisierung und Datenschutzproblemen.

Eine offene Tür steht mitten in der Natur, durch die Öffnung sieht man eine Hügellandschaft.
Nach der Entlassung aus einer Klinik sollte der Weg zur Genesung führen, nicht zur Polizei. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Tür: choose your stories, Hügel: Claudio Testa

Rund 100 Seiten Stellungnahmen haben Fachleute dem hessischen Landtag zu einer Anhörung am Mittwoch im Gesundheitsausschuss vorgelegt. Es ging dabei um eine geplante Änderung des dortigen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes, vor allem eine Passage darin alarmiert Ärzt:innen, Kliniken, Betroffene und Angehörige gleichermaßen.

Die CDU-SPD-Landesregierung will psychiatrische Kliniken dazu verpflichten, Patient:innen bei Entlassungen in bestimmten Fällen an Ordnungs- und Polizeibehörden zu melden. Und zwar, wenn bei einer nicht freiwillig aufgenommenen Person „aus medizinischer Sicht die Sorge besteht, dass von der untergebrachten Person ohne weitere ärztliche Behandlung eine Fremdgefährdung ausgehen könnte“. Bislang wird in Hessen der örtliche sozialpsychiatrische Dienst informiert, wenn der Klinikaufenthalt von untergebrachten Menschen endet. Dadurch sollen diese Begleitung und Hilfsangebote nach ihrer stationären Zeit bekommen.

Mehr statt weniger Gefahr durch Stigmatisierung

Eine Übermittlung an die Polizei jedoch steht vor allem im Zeichen einer vermeintlichen Gefahrenabwehr. „Die Entlassung aus einer ärztlichen Behandlung wird somit von einem Schritt in die Autonomie und Genesung zu einem potenziellen Sicherheitsrisiko gemacht, das staatlicher Überwachung bedarf“, kritisiert der Hessische Städtetag, der die Interessen von 83 Städten und Gemeinden im Bundesland vertritt.

Zusätzlich sieht der Städtetag wie viele andere der Fachleute und Verbände das Risiko, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen durch das Gesetz stigmatisiert und als Gefahr dargestellt werden. Das könnte dazu führen, dass weitere Hürden entstehen, Hilfe zu suchen. So schreibt etwa die hessische Landesarbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie: „Die Stigmatisierung, die diese geplante Rechtsregelung mit sich bringen würde, ist ein für die sozialpsychiatrische Arbeit erschwerender Faktor und es werden unnötigerweise Risiken erhöht.“

Das Zentrum für Psychische Gesundheit der Frankfurter Uniklinik warnt dabei vor einer Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen Behandelnden und Patient:innen. Das könnte dazu führen, „dass Betroffene aus Angst vor einer Meldung an die Behörden nicht offen mit den Behandelnden über ihre Gedanken und ihr Erleben sprechen und deshalb keine psychiatrische Behandlung mehr in Anspruch nehmen“.

Psychisch erkrankte Menschen sind nicht gefährlich

Die Motivation für die geplante Gesetzesänderung liegt in mehreren vergangenen Gewalttaten, bei denen im Nachgang über eine psychische Erkrankung der mutmaßlichen Täter:innen berichtet wurde. Ein Beispiel, das explizit im Gesetzentwurf ausgeführt wird, ist ein Messerangriff in Aschaffenburg im Januar 2025, bei dem zwei Personen getötet und weitere schwer verletzt wurden. Der Verdächtige war zuvor mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung.

Ereignisse wie dieses haben immer wieder viel mediale Aufmerksamkeit bekommen. Dadurch kann leicht der Eindruck entstehen, dass von psychisch erkrankten Menschen generell ein Sicherheitsrisiko ausgehe. Das führt in die Irre. „Tatsächlich sind sie statistisch deutlich häufiger Opfer von Gewalt als Täter“, schreibt die Frankfurter Sozialdezernentin Elke Voitl in ihrer Stellungnahme.

Sollte jemand in Zusammenhang mit ihrer Erkrankung in seltenen Fällen fremdgefährdendes Verhalten aufweisen, fordern Expert:innen ganz andere Ansätze. Aguedita Afemann vom Landesverband der Privatkliniken in Hessen schreibt, Gewaltprävention gelinge am wirksamsten „durch eine gute psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung, durch Förderung von Teilhabe und soziale Integration und nicht durch das Führen von Listen oder Meldungen an Sicherheitsbehörden.“

Der hessische Landesverband der Angehörigen und Freunde von Menschen mit psychischen Erkrankungen fordert: Statt „Erfassung und Kontrolle“ plädiert der Verband für „ein ernstzunehmendes Präventionsmanagement und nahtlose und bedarfsgerechte Unterstützungsangebote für psychisch erkrankte Menschen“.

Fehlende Kriterien und Schutzmechanismen

Juristische Sachverständige sehen im Entwurf der Landesregierung auch einen grundlegenden Konflikt mit Datenschutzgesetzen. Der Landesdatenschutzbeauftragte Alexander Roßnagel stellt fest, dass es sich bei der geplanten Datenübermittlung „um einen tiefen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen“ handelt. Er weist darauf hin, dass Gesundheitsinformationen nach der Datenschutzgrundverordnung besonders sensible Daten sind, für die besondere Anforderungen gelten.

Zwar erkennt Roßnagel an, dass der beabsichtigte Zweck der Gefahrenabwehr in erheblichem öffentlichen Interesse sei, aber vieles bleibe in dem Entwurf unklar. Etwa was genau die „notwendigen Informationen für eine Gefährdungseinschätzung“ sind, die gemeldet werden sollen oder wie die entsprechenden Daten genutzt werden sollen. Ihm reicht die aktuelle Fassung nicht in Bezug auf eine verfassungsmäßige Verhältnismäßigkeit.

Die Hessische Krankenhausgesellschaft ergänzt, dass Kriterien fehlen, „wann eine Weitergabe erfolgen darf. Schutzmechanismen wie ein Richtervorbehalt, Transparenzpflichten, Protokollierung oder Einspruchsmöglichkeiten der betroffenen Person fehlen“.

Polizeigewerkschaft zweifelt an Nutzen

Zweifel am Gesetz kommen ebenfalls von denen, die letztlich die Daten der Entlassenen empfangen sollen: der Polizei. Die Gewerkschaft der Polizei begrüßt in ihrer Stellungnahme zwar die Zielrichtung des Gesetzentwurfs. Die Interessenvertretung stellt jedoch die Frage, was die Beamt:innen eigentlich mit den übermittelnden Daten tun sollen – und wie die Meldungen überhaupt technisch und personell bewältigt werden können.

Ein ständiger Mangel bei medizinischem Personal lasse laut Polizeigewerkschaft „erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob die gesetzlich geforderte Einschätzung im Alltag verlässlich erbracht werden kann“. Auch die drohende Stigmatisierung bewerten die Polizeivertreter:innen kritisch und plädieren für einen Ausbau der kommunalen sozialpsychiatrischen Dienste.

Hessen ist nur der Anfang

Nach der Anhörung und der zahlreichen Kritik im Gesundheitsausschuss hat der hessische Landtag nun die Gelegenheit, den Gesetzentwurf zu überarbeiten. Parallel zu der dortigen Entwicklung läuft eine bundesweite Diskussion über den Umgang von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Innenminister:innen der Länder und des Bundes einigten sich bei ihrer Konferenz im Juni darauf, ein „behördenübergreifendes Risikomanagement“ einführen zu wollen. Eine entsprechende Arbeitsgruppe soll bei der nächsten Sitzung dazu berichten, die im Dezember in Bremen stattfinden wird.


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03.09.2025 17:59

Die EU-Initiative für eine neue Vorratsdatenspeicherung ist auf dem Weg. Die EU-Kommission fragt in einer öffentlichen Konsultation nach eurer Meinung. Wollt ihr verhindern, dass Metadaten aller Menschen ohne Anlass europaweit gespeichert werden? Dann bringt euch ein.

Die EU-Kommission mit ihren 27 Mitgliedern.
Die EU-Kommission mit ihren 27 Mitgliedern. CC-BY 4.0 Europäische Kommission

Die EU-Kommission arbeitet an einem Gesetz, das Internet-Unternehmen und Diensteanbietern vorschreiben soll, Metadaten aller Kunden ohne Anlass zu speichern. Es geht darum, Verkehrsdaten für einen noch nicht näher bestimmten Zeitraum zu speichern und an staatliche Behörden herauszugeben. Man mag das Wort fast nicht mehr hören: Es geht wieder um die Vorratsdatenspeicherung.

Die Diskussionen um die Idee begannen in Europa schon kurz nach dem 11. September 2001. In Deutschland war das Thema erstmal abgeräumt, als das Bundesverfassungsgericht die damalige deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig und nichtig erklärte. Mehr als zwanzig Jahre später steht der Zombie wieder auf, in Europa und auch in Deutschland.

Vorratsdatenspeicherung

Wir berichten seit zwanzig Jahren über die politischen Vorhaben rund um die Vorratsdatenspeicherung. Unterstütze unsere Arbeit!

Der Europäische Gerichtshof hatte immer wieder darüber geurteilt und noch letztes Jahr im Grundsatz seine Position beibehalten: Eine allgemeine anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist europarechtswidrig.

Doch die Kommission probiert es erneut. Im Juni kündigte sie an, eine Folgenabschätzung für eine neue Vorratsdatenspeicherung durchzuführen. Denn weil die verdachtsunabhängige Massenüberwachung ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre aller Menschen in Europa wäre, müssen die Folgen erwogen werden.

Öffentliche Konsultation

Daher läuft nun eine Befragung zur „Öffentlichen Konsultation zu einer EU-Initiative zur Vorratsdatenspeicherung durch Diensteanbieter für Strafverfahren“. Die Kommission will in dem Fragebogen wissen, was die Bevölkerung von dem Neuanlauf hält. Sie fragt darin auch nach alternativen Maßnahmen und warum sie vorzuziehen wären.

Dankenswerterweise hat EDRi eine ausführliche Hilfestellung veröffentlicht, die das Ausfüllen erleichtert. Die Digitale Gesellschaft hat sie auf Deutsch angepasst.

Man kann entweder die dortigen Empfehlungen in der Befragung schnell durchklicken oder aber in Ruhe die Argumente wägen und die Begründungen für die Empfehlungen lesen und sich selbst eine Meinung bilden. Einzige Voraussetzung zur Teilnahme ist eine funktionierende E-Mailadresse.

Die EU-Kommission begründet ihren Vorstoß zur Vorratsdatenspeicherung mit der Behauptung, dass schwere Straftaten wie Mord oder Terror mit der anlasslosen Speicherpflicht besser aufgeklärt werden könnten. Unterschiede in den gesetzlichen Regelungen der Mitgliedstaaten erschwerten eine Aufklärung von Straftaten. Generell sollen Strafverfolgungsbehörden in Europa im Rahmen der Strategie für die innere Sicherheit („ProtectEU“) mehr Zugang zu Daten erhalten.

Bisher haben die Deutschen im Vergleich mit den anderen Europäern den Spitzenplatz bei den bisher über 2.300 Konsultationsteilnehmern. Die Befragung läuft noch bis 12. September. Die Rückmeldungen sollen in den Gesetzgebungsprozess und konkret in ein Arbeitspapier einfließen, welches für das erste Quartal 2026 vorgesehen ist.


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03.09.2025 16:48

Google sei ein Monopolist, hat ein US-Richter im vergangenen Jahr entschieden. Spürbare Konsequenzen folgen daraus jedoch nicht: Eine von vielen erwartete Zerschlagung des Werbekonzerns bleibt aus.

Google kann seinen Browser Chrome behalten, der Konzern wird nicht zerschlagen. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ABACAPRESS

Google ist mit einem blauen Auge davongekommen: Obwohl US-Gerichte den Werbekonzern in Kartellrechtsverfahren wiederholt als Monopolisten eingestuft haben, bleiben spürbare Konsequenzen weiter aus. Zum ersten dieser Verfahren entschied gestern ein Bundesgericht in Washington D.C., dass Google lediglich bestimmte Daten aus seinem Suchgeschäft mit „qualifizierten Wettbewerbern“ teilen muss. Auch exklusive Knebelverträge mit beispielsweise Smartphone-Herstellern sollen künftig tabu sein.

Gefordert hatte das klagende US-Justizministerium weitaus mehr. Der marktbeherrschende Anbieter müsse etwa den populären Chrome-Browser verkaufen, verlangten die Wettbewerbshüter. Auch eine Abspaltung des mobilen Betriebssystems Android stand zur Debatte.

Den Forderungen schloss sich der Richter Amit Mehta nicht an. Es sei nicht offenkundig, dass „radikale strukturelle“ Eingriffe wie eine Zerschlagung des Konzerns notwendig seien, um einen funktionierenden Wettbewerb auf dem Markt für Online-Suche herzustellen, heißt es im Urteil.

KI-Chatbots mischen Karten neu

Letztlich waren es Chatbots beziehungsweise sogenannte Generative Künstliche Intelligenz, die Google vorerst vor dem Schlimmsten bewahrt haben. Ihr rasantes Wachstum, seit ChatGPT des Anbieters OpenAI Ende des Jahres 2022 auf den Markt kam, hätte den „Lauf des Verfahrens verändert“, so der Richter. Ihm zufolge sei nicht gesichert, dass Google seine Dominanz in der allgemeinen Online-Suche auf generative KI-Anwendungen übertragen könne.

Tatsächlich sind seitdem viele Menschen von traditionellen Suchmaschinen auf solche Bots umgestiegen, mit denen sie etwa Konversationen führen können, um an die gewünschte Information zu kommen. Google selbst blendet inzwischen mit Hilfe von KI erstellte Zusammenfassungen prominent in seinen Suchergebnissen ein und rollt ebenfalls Chatbots aus.

Langfristig könnte dies den Markt für Online-Suche dramatisch umkrempeln, selbst wenn der Richter eingeräumt hat, kein KI-Experte zu sein und er notwendigerweise „in die Glaskugel“ schauen müsse. Überhaupt sei laut dem Urteil nicht klar, ob etwa ein Verkauf des weit verbreiteten Chrome-Browsers die Vorherrschaft Googles eindämmen würde – auch wenn die „Chrome-Standardeinstellung zweifellos zur Dominanz von Google bei der allgemeinen Online-Suche beiträgt“, wie der Richter ausführt.

Digitalkonzerne unter der Lupe

Eingereicht wurde die Klage bereits im Jahr 2020. Sie spiegelte die zunehmende Meinung wider, dass Digitalkonzerne wie Alphabet, zu dem Google gehört, aber auch Meta, Amazon oder Apple, nicht nur zu groß geworden seien, sondern ihre Dominanz mitunter mit illegalen Methoden erlangt und abgesichert hätten.

Gegen die Unternehmen läuft derzeit eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Kartellverfahren. Zuletzt hatte im Frühjahr ein weiteres Bundesgericht entschieden, dass Google ein illegales Monopol bei bestimmten Online-Werbetechnologien errichtet hat. Daraus folgende Konsequenzen sollen im Laufe des Herbstes verkündet werden.

Im aktuellen Fall halten sich die Folgen für Google in Grenzen. Die Auflage, bestimmte Suchdaten an die Konkurrenz weitergeben zu müssen, sei ein „Nothingburger“, also praktisch wertlos, sagte etwa der Chef der Suchmaschine DuckDuckGo gegenüber der New York Times. Erlaubt bleiben weiterhin Verträge mit Herstellern wie Apple oder Mozilla, Google als voreingestellte Suchmaschine einzurichten. Verboten wird allerdings, dies an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, etwa an die Zwangsinstallation von Google-Diensten. Außerdem muss Google ein „Technisches Komitee“ einrichten, welches die gerichtlichen Auflagen überprüfen soll. Beide Parteien halten sich eine Berufung offen.

Untersuchungen gegen Alphabets Marktdominanz hatte auch die EU eingeleitet. In einem vorläufigen Ergebnis warf die EU-Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera dem Werbekonzern im Frühjahr vor, gegen den Digital Markets Act (DMA) verstoßen und seine marktbeherrschende Stellung missbraucht zu haben. Laut Medienberichten soll die finale Entscheidung für Anfang dieser Woche geplant gewesen sein. Angeblich soll jedoch Druck aus Washington zu einer Verschiebung geführt haben.


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