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17.05.2024 12:19

Wer sogenannte kinderpornografische Inhalte besitzt oder verbreitet, muss künftig nicht mehr angeklagt werden. Das ermöglicht ein niedrigeres Strafmaß. Dabei es geht nicht um die Verharmlosung sexualisierter Gewalt, sondern um diejenigen, die sich ohne kriminelle Absichten strafbar gemacht haben.

Justizminister Buschmann spricht im Bundestag
Das Justizministerium von Marco Buschmann hatte die Änderung auf den Weg gebracht. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / photothek

Am Donnerstag hat der Bundestag beschlossen, die Mindeststrafen beim „Erwerb und Besitz kinderpornografischer Inhalte“ zu senken, dazu wird Paragraf 184b des Strafgesetzbuches angepasst. Bisher beträgt das Mindeststrafmaß mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe. Fortan sollen es bei Besitz und Erwerb mindestens drei Monate, bei Verbreitung mindestens sechs Monaten sein.

Der Begriff Kinderpornografie ist die juristische Bezeichnung aus dem Strafgesetzbuch. Er steht in der Kritik, da es bei den entsprechenden Taten nicht um Pornografie geht, sondern um Gewalt. Treffender für die Straftat wäre daher „Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder“. Wir referenzieren den Begriff aus dem Strafgesetzbuch dennoch weiter dort, wo er für das Verständnis der juristischen Zusammenhänge erforderlich ist.

Bei der Änderung des Straftatbestandes geht es nicht darum, Darstellungen sexualisierter Gewalt als weniger schwerwiegend zu beurteilen. Mit dem bisherigen Mindeststrafmaß, das erst vor drei Jahren erhöht worden war, gab es ein Problem: Verfahren konnten nicht mehr eingestellt werden, auch wenn die vermeintlichen Täter:innen nicht in pädokrimineller Weise handelten und es gerade nicht um die Verbreitung entsprechender Bild- und Videomaterialien ging.

Kinder, Eltern und Lehrkräfte als Angeklagte

Das wurde zum Problem, etwa für Eltern oder Lehrkräfte. In Rheinland-Pfalz kursierte beispielsweise ein Video, das eine 13-Jährige von sich erstellt hatte und das rechtlich unter den Begriff Kinderpornografie fiel. Als eine Lehrerin die Mutter des Mädchens informieren wollte und sich dazu das Video besorgte, machte sie sich strafbar. Auch wenn ihre Absichten offenbar darin lagen zu helfen, musste die Staatsanwaltschaft sie anklagen.

Wie Minderjährige unter Kinderpornografie-Verdacht geraten

Auch Jugendliche, die beim Sexting einvernehmlich Nacktbilder oder -videos verschickten, stehen vor einem Problem und so sind viele der Tatverdächtigen minderjährig. Daher brachte das Justiziminsterium von Marco Buschmann (FDP) die Reform auf den Weg.

Durch die Senkung des Strafmaßes bekommen Staatsanwaltschaften nun die Möglichkeit, Verfahren einzustellen, bei denen es keinen kriminellen Hintergrund gibt. Die Höchststrafen jedoch bleiben bestehen. Aus pädokrimineller Motivation heraus begangene Taten können also auch künftig mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden.


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17.05.2024 10:06

Recherchen für den netzpolitik.org-Podcast „Systemeinstellungen“ zeigen, wie der Staat das Kirchenasyl zunehmend bricht. In den vergangenen zehn Monaten gab es mehr Räumungen aus Kirchengebäuden als in den gesamten zehn Jahren davor. Hochrangige Kirchenvertreter:innen appellieren an die Behörden.

Schild mit der Aufschrift "Kirchenasyl heisst Solidaritaet" in einer evangelischen Kirche, im Hintergrund ein Kreuz
„Kirchenasyl heißt Solidarität“ – Alle Rechte vorbehalten Imago / epd

In Deutschland stößt Kirchenasyl zunehmend auf staatlichen Widerstand. Behörden wollen Menschen abschieben, obwohl sie unter dem Schutz der Kirche stehen. Dass die Polizei zu diesem Zweck Gebäude der Kirche stürmt, galt lange Zeit als kaum denkbar. Nun gab es allein seit dem Sommer 2023 sechs versuchte oder vollzogene Räumungen von Kirchenasyl. Nach Recherchen von netzpolitik.org für den Podcast „Systemeinstellungen“ sind dies innerhalb von zehn Monaten mehr Räumungen als in den gesamten zehn Jahren zuvor.

Die jüngste Räumung erfolgte am vergangenen Sonntag im Kreis Uelzen in Niedersachsen. Eine russische Familie wurde direkt aus dem Kirchenasyl abgeschoben. In dem Bundesland war es die erste Räumung eines Kirchenasyls seit 1998, sagt der Landesflüchtlingsrat. Kurz vor Weihnachten war bei der Räumung eines Kirchenasyls in Schwerin sogar ein Spezialeinsatzkommando im Einsatz.

Laut Zahlen des Bundesinnenministeriums haben Kirchen in Deutschland im vergangenen Jahr in gut 1.500 Fällen Geflüchteten temporären Schutz gewährt. Dieses sogenannte Kirchenasyl basiert nicht auf einer gesetzlichen Grundlage, sondern auf einer Übereinkunft der Katholischen und Evangelischen Kirche mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Mit dem Kirchenasyl wollen Gemeinden verhindern, dass Menschen in teils lebensgefährliche und menschenunwürdige Umstände abgeschoben werden. Stattdessen sollen sie Gelegenheit bekommen, dass Behörden ihren Fall erneut prüfen, oder dass sie nach einer Weile Asyl in Deutschland beantragen können.

Appelle an den Staat

Leitende Kirchenvertreter:innen äußern sich gegenüber netzpolitik.org tief besorgt darüber, dass der Staat nun auch Schutzsuchende aus Kirchenasylen abschiebt. „Wir appellieren an die Ausländerbehörden, das Kirchenasyl zu respektieren“, sagt die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Anna-Nicole Heinrich. Die Auflösung eines Kirchenasyls „unter massivem Polizeiaufgebot und mit zum Teil brachialen Mitteln“ bleibe ein unverhältnismäßiger Eingriff in einen aus guten Gründen gewährten Schutzraum. „Dass es in der jüngsten Vergangenheit gleich mehrfach zu solchen Auflösungen von Kirchenasylen gekommen ist, bereitet uns große Sorge.“

Heinrich fordert: Kirchen und Behörden müssten eng im Gespräch bleiben, damit sie gemeinsam zu einem humanitären Umgang mit Menschen in akuten Notsituationen kommen. Das Kirchenasyl sei ein Schutzraum für besonders schutzbedürftige, oft traumatisierte Menschen. Für die Asylsuchenden sei es häufig die letzte Möglichkeit, um sich vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, die ihnen bei Abschiebung drohen. „Kirchengemeinden leisten damit eine dringend erforderliche Nothilfe.“ Diesen Schritt würden sie nicht leichtfertig gehen.

„Maßnahmen, die auf eine Abschiebung aus einem Kirchenasyl abzielen, widersprechen dem Geist der Vereinbarung zwischen BAMF und Kirchen“, sagt auch der Jesuit Dieter Müller, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche. „Geflüchtete müssen in anderen EU-Mitgliedsstaaten Schläge, Inhaftierung unter katastrophalen hygienischen Bedingungen oder völlige Vernachlässigung bis hin zur Verelendung erdulden.“ Auch laufende Therapien und ärztliche Empfehlungen würden vom Bundesamt ignoriert, wie das jüngste Beispiel der Familie aus Russland zeige, die nach Spanien abgeschoben wurde, obwohl sich die Mutter hier in ärztlicher Behandlung befand.

Berliner Bischof: „Wir werden die Menschen schützen“

Der Berliner Bischof und Beauftragte der EKD für das Thema Flucht, Christian Stäblein, weist auf die Historie des Kirchenasyls in Deutschland hin: „Wir sind in großer Sorge, dass diese Übereinkunft, die wir über viele Jahrzehnte gehabt haben, jetzt aufgebrochen wird.“ Man stelle sich mit dem Kirchenasyl nicht über den Staat, erklärt Stäblein. Aus Sicht der Kirche gehe es vielmehr um eine gute Übereinkunft mit dem Staat. Der Bischof hofft, dass es dabei bleibt: „Wir werden die Menschen schützen“.

Stäblein beteuert zudem, dass viele gerichtliche Entscheidungen den Kirchen Recht gäben. Vor Gericht würden die meisten Menschen nach dem Kirchenasyl doch noch ein Bleiberecht erhalten. Das zeige, dass die Kirchen im richtigen Sinne humanitär eingreifen.

Das Kirchenasyl sei keine Aushebelung des Rechtsstaates, betont auch der leitende Geistliche der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel. „Nur in solchen besonderen Fällen, wo es starke Gründe dafür gibt, dass eine humanitäre Not droht und eine rechtliche Überprüfung geboten ist, werden Kirchenasyle gewährt“, sagt Latzel. Die Fälle würden umgehend den zuständigen Behörden gemeldet; der Aufenthalt der Personen sei ihnen laufend bekannt. „Das alles wird von unseren Gemeinden und Kirchenkreisen sehr verantwortlich gehandhabt.“

Nicht nur für Christ:innen sei der Schutz von Menschen elementar, erklärt Latzel – und verweist auf das Grundgesetz: „Wenn wir in diesem Jahr 75 Jahre Grundgesetz feiern, dann ist das individuelle Recht auf Asyl ein wesentlicher Teil davon.“

Podcast-Recherche zeigt Kirchenasyl unter Druck

Von den staatlichen Widerständen gegen das Kirchenasyl handelt auch die aktuelle Folge des netzpolitik.org-Doku-Podcasts „Systemeinstellungen“. Die Folge „Razzia im Pfarrhaus“ begleitet die Pastorin Sandra Menzel aus Büchenbeuren in Rheinland-Pfalz. Sie hat im Jahr 2018 gemeinsam mit mehreren anderen Gemeinden Geflüchteten aus dem Sudan Kirchenasyl gewährt. Für Sandra Menzel war dies praktische Nächstenliebe – für den Landrat des Rhein-Hunsrück-Kreises dagegen Anlass zu einer Strafanzeige. Er zeigte Menzel und mehrere Kolleg:innen an, mit gravierenden Folgen.

Bei den Pastor:innen kam es zu Hausdurchsuchungen. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte Daten von dienstlichen und privaten Computern und Smartphones – trotz Warnungen, dass darauf auch seelsorgerisch sensible Daten von Gemeindemitgliedern sein könnten. Ein Gericht erklärte die Hausdurchsuchungen später für rechtswidrig. Auch die Verfahren gegen die Pastor:innen wegen Beihilfe zu unerlaubtem Aufenthalt wurden eingestellt.

Die Recherche zeigt: Diese Fälle waren keine Ausnahme. Seitdem der Kurs in der Europäischen Union und in Deutschland erneut auf Verschärfung des Asylrechts ausgerichtet ist, häufen sich auch staatliche Widerstände gegen das Kirchenasyl.

#02 Razzia im Pfarrhaus

Im Frühjahr 2024 haben Sandra Menzel und der Kirchenkreis Simmern-Trarbach erneut einem Geflüchteten Asyl gewährt, dieses Mal einem Mann aus Syrien, der seinen Asylstatus in Dänemark verloren hatte. In der Nacht des 14. Februar rückte die Polizei an, um den verängstigten Mann mitzunehmen. Dieser wehrte sich und verletzte sich in Panik selbst, um die Abschiebung zu verhindern. Er kam kurz in Krankenhaus und wurde dann nach Dänemark abgeschoben.

In einer Stellungnahme gegenüber netzpolitik.org erklärt die zuständige Kreisverwaltung Neuwied, bei der Abschiebung sei alles mit rechten Dingen zugegangen. In einem vierseitigen Dokument schreibt die Behörde von der „rechtssicheren Bewältigung der Flüchtlingsfrage“. Die dänischen Behörden hätten zugesichert, den Mann nicht nach Syrien zu überstellen. Es sei zudem der Kirchenkreis gewesen, der sich nicht an die Abmachung mit den Behörden gehalten habe.

Der Kirchenkreis hingegen sagt, dem Mann, der in Syrien den Kriegsdienst verweigert hatte, drohe aus Dänemark die Abschiebung in sein Heimatland. Dänemark verfolgt seit Jahren einen extrem harten Kurs gegen Geflüchtete und lehnt – anders als Deutschland – regelmäßig Asylanträge von Syrer:innen ab. Dass der Mann das Abschiebelager verlassen habe, um nach Deutschland zu kommen, gelte dort als Straftat. Die Kirche habe in dieser Situation nur das Recht aufrechterhalten, das Dänemark dem Mann nicht gewähren wollte.

Humanitäre Intervention mit Tradition

Das Prinzip hinter dem Kirchenasyl ist schon aus vorchristlichen Zeiten bekannt. Tempel galten seit jeher als heilige Orte, an denen keine Gewalt ausgeübt werden darf und in die verfolgte Menschen flüchten können. Das griechische Wort Asyl bedeutet wörtlich übersetzt „nicht beraubt“ und bezeichnete einen Ort, an dem etwas oder jemand vor Raub sicher war. Schon aus dem vierten Jahrhundert ist bekannt, dass die damals noch junge christliche Kirche Geflüchteten Schutz in ihren Räumen gewährte. Offizielle Anerkennung erhielt das Kirchenasyl durch die römische Gesetzgebung im fünften Jahrhundert. Der Bruch des Asylrechts wurde damals mit der Todesstrafe geahndet.

In Deutschland lebt die Tradition seit den 1980er-Jahren wieder auf. Die Regierung von Helmut Kohl hatte damals das Asylrecht drastisch verschärft, in Reaktion kam es gelegentlich vor, dass einzelne Kirchengemeinden ihre Räume für Geflüchtete öffneten. Mit der wachsenden Zahl der Menschen, die vor Kriegen, Hunger und Verfolgung geflohen sind, wuchs auch die Zahl der Kirchenasyle in Deutschland. Im Jahr 2014 stieg sie von 79 auf 430. Zum Höhepunkt der Fluchtbewegungen 2015 waren es laut Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche 620 Fälle.

Seit diesen Jahren schwelt in Deutschland ein politischer Konflikt um das Kirchenasyl. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) verlangte ein härteres Vorgehen der Behörden und verglich das Kirchenasyl einmal gar mit der islamischen Scharia. Später nahm er diese Aussage zurück. Nach langen Verhandlungen einigten sich die katholische und evangelische Kirche 2015 mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf verbindliche Rahmenbedingungen. Diese sind bis heute gültig und sehen unter anderem vor, dass die Kirchen dem Amt jedes Mal melden, welcher Person sie an welcher Adresse Asyl gewähren.

Meist handelt es sich beim Kirchenasyl um sogenannte Dublin-Fälle von Menschen, die bereits in einem anderen EU-Staat als Asylsuchende registriert wurden und deshalb dorthin abgeschoben werden sollen. Nicht selten würde dies jedoch die Abschiebung in menschenunwürdige Zustände bedeuten. Die katastrophalen Zustände in den Lagern etwa in Griechenland und Italien sind gut dokumentiert, die Menschenrechtsorganisation Medico International bezeichnet die Situation dort als „Schande Europas“.


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17.05.2024 04:30

Hausdurchsuchungen als Abschreckung? Die Polizei durchsucht Kirchencomputer? Folge #2 unseres Doku-Podcasts „Systemeinstellungen“ erzählt die erschreckende Geschichte einer Pfarrerin, die wegen ihres Engagements für Geflüchtete im Visier des Staates landet.

Das Cover der zweiten Folge "Systemeinstellungen". Eine Kirche auf einem grüngelben Hintergrund, die sich langsam aufzulösen scheint. Im linken unteren Eck steht "Eine Produktion von netzpolitik.org"
Razzia im Pfarrhaus CC-BY-NC-SA 4.0 Lea Binsfeld/netzpolitik.org


Sandra Menzel will Menschen in Not helfen. Die Arbeit mit Geflüchteten ist für die Pastorin gelebte Nächstenliebe. Doch als sie und ihre Gemeinde ihre Kirchentüren für zwei Asylsuchende öffnen, ziehen sie offenbar den Zorn eines Landrates auf sich. Seit Jahren schwelt in Deutschland ein Streit um das Kirchenasyl, im beschaulichen Hunsrück eskaliert er. Plötzlich hat Sandra Menzel die Polizei im Haus, eine Staatsanwältin beschlagnahmt Daten vom Kirchencomputer und liest ihre WhatsApp-Nachrichten. Die Pastorin ist sich sicher: Es geht um Einschüchterung.

„Razzia im Pfarrhaus“ ist die zweite Episode unseres neuen Doku-Podcasts Systemeinstellungen – wenn der Staat bei dir einbricht. Es geht um Menschen, die unvermittelt im Visier des Staates landen. Weil sie sich für Umweltschutz engagieren zum Beispiel, weil sie kritische Wissenschaft betreiben oder Asyl suchen. Was macht das mit ihnen, wenn sie plötzlich die Polizei im Haus haben? Wenn ihre Smartphones einkassiert werden? Wenn die Familie monatelang überwacht wird? Das hört ihr ab jetzt wöchentlich, jeden Freitag.


Höre den Podcast wo und wie es Dir gefällt:

Hier findest Du alle Folgen von „Systemeinstellungen“.

Die nächste Episode „Deutschland gegen David“ erscheint am 24. Mai.


Host und Produktion: Serafin Dinges.
Redaktion: Anna Biselli, Chris Köver, Ingo Dachwitz, Sebastian Meineck.
Cover-Design: Lea Binsfeld.
Titelmusik: Daniel Laufer.
Weitere Musik von Blue Dot Sessions.


Links und Infos


Manuskript zum Nachlesen

Prolog

Serafin Dinges:: Es gibt Menschen, die können einfach mit anderen Menschen. Genauso jemand ist die Pfarrerin Sandra Mentzel. Und sie ist eine Person, die gern auf Nummer sicher geht. Als sie mit ihrer Familie gerade frisch ins neue Pfarrhaus gezogen ist, da ruft sie bei den Wasserwerken an, sie will nämlich die Waschmaschine anschließen. Und fragt deshalb lieber mal nach dem Härtegrad des Wassers. Was man halt so tut.

Sandra Menzel: … beim Wasserwerk da angerufen und wir waren da noch ganz neu hier. Dann sagt der Mann Ja, Frau Menzel, Sie wohnen ja im Pfarrhaus in Düsseldorf. Ich sag: Ja.

Serafin Dinges:: Sandra Menzel ist verwirrt. Sie hat am Telefon nur ihren Namen gesagt, nicht wo sie wohnt und ist gerade erst hergezogen.

Sandra Menzel:: Gucken Sie mal aus Ihrem Wohnzimmerfenster, da gucken Sie auf den Idarkopf.

Serafin Dinges: Sie zeigt auf die große Fensterfront, durch die man von ihrem Wohnzimmer aus einen Gipfel in der Ferne sehen kann.

Sandra Menzel: Da kommt ihr Wasser her.

Ingo Dachwitz: Ok wow echt?

Sandra Menzel: Und das ist das Wasser in ganz Deutschland. Und ich dachte nur: Ah, kennen wir uns schon? Er so: Nee, Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie. Ja, so ist das als Landpfarrerin.

Serafin Dinges: Das war also eine Art Willkommen in Ihren ersten Tagen als evangelische Landffarrerin, hier in einem kleinen Dorf im Hunsrück in Rheinland Pfalz. Büchenbeuren heißt das Dorf, eine gute Stunde mit dem Auto von Frankfurt am Main entfernt. Es gibt eine Hauptstraße, die ganz einfach Hauptstraße heißt und eine schöne, schlichte evangelische Kirche. Über 17 Jahre ist Sandra Menzel hier schon Pfarrerin. Ärger mit dem Staat hatte sie dabei nie. Bis dann … Irgendwann … Die Polizei bei ihr im Haus steht.

Sandra Menzel: Und dann hieß es erst mal: Treten Sie ein Stück zurück und verlassen Sie mal den Raum. … Ich denke, so schnell kann das gehen … Ich habe darauf hingewiesen: Auf dem Computer befinden sich sensible seelsorgerliche Daten … Von so einer hoch gelobten Flüchtlingsaktivistin.

Ingo Dachwitz: Ich finde, man kann sich jetzt aber schon, wenn man hier vor Ort ist, auch vorstellen, wie bizarr die Situation eigentlich ist.

Sandra Menzel: In eine angezeigte Straftäterin, gegen die mit einer Hausdurchsuchung ermittelt werden muss.

Ingo Dachwitz: Weite Felder, Windräder, kleine Dörfer. In jedem Dorf eine Kirche.

Sandra Menzel: Dieser Staat ist eigentlich da, um mich zu schützen und nicht um solche Aktionen bei mir durchzuführen.

Ingo Dachwitz: Wenn man sich vorstellt, dass hier irgendwie drei Polizeiautos, drei Streifenwagen vor der Tür stehen.

Serafin Dinges: Ich bin Serafin Dinges und ihr hört „Systemeinstellungen“. Ein Podcast von netzpolitik.org. Heute: „Razzia im Pfarrhaus“.

Die Pfarrerin

Serafin Dinges: Wir sind bei Sandra Menzel zu Hause. An den Wänden in der großen Wohnküche hängen Fotos von ihren vier Kindern. An der Tür klebt ein Sticker, auf dem steht: Liberée, Egalité, fuckAfD. Im Kalender ist ein Konzert von Danger Dan eingetragen. Im Garten vor dem großen Fenster ein kleiner Spielplatz. Sandra Menzel ist um die 50, aber sie sieht jünger aus. Sie ist energiegeladen, lächelt viel und hat eine laute, angenehme Stimme. Man merkt, dass sie oft vor Menschen spricht. Uns begegnet sie mit routinierter Herzlichkeit. Wenn sie nicht Pastorin wäre, könnte man sie sich auch als Sozialarbeiterin vorstellen. Pastorin zu sein ist ihr Traumberuf.

Sandra Menzel: Es gibt natürlich verrückte Tage, da hat man morgens ein Beerdigungsgespräch und abends ein Taufgespräch und vielleicht mittags noch eine Trauung gehabt oder so. Das ganze Leben kommt so zusammen. Aber das. Ja, das gefällt mir. Also Menschen in ihren Lebenslagen zu begleiten.

Ingo Dachwitz: Mit was für Themen kommen die Leute dann zu dir?

Serafin Dinges: Das ist mein Kollege Ingo Dachwitz. Er hat diese Episode mit mir recherchiert.

Sandra Menzel: Ach, unterschiedlich. Das sind jetzt also man stellt sich das jetzt immer vor, so wie im Fernsehen: Da gesteht einer den Mord und darf ich das dann weitersagen oder so? Und solche Sachen sind es natürlich nicht. Es sind eher private Dinge, dass irgendwie Menschen in einer Beziehung sagen: Ich bin irgendwie unschlüssig, ob ich in dieser Beziehung bleiben wil. Oder: Meine Frau ist fremdgegangen oder mein Mann und was mache ich? Und ich möchte eigentlich nicht darüber reden, weil das in einem Dorf sich gleich rumspricht oder so. Also das sind vielleicht mal so Sachen, wo ich sage: Okay, da ist Schweigepflichtnoch mal ein ganz wichtiges Thema.

Serafin Dinges: Die Menschen aus der Gemeinde verlassen sich darauf, dass sie ihrer Pfarrerin alles anvertrauen können und dass es niemand sonst erfährt. Seelsorgegeheimnis nennt sich das. In Deutschland ist das sogar gesetzlich geschützt. Ein bisschen ähnlich wie der Geheimnisschutz bei Anwältinnen oder Journalistinnen.

Sandra Menzel: Und oft sind es aber einfach auch Themen, wo Leute sagen: Hey, ich, Ja, ich bin an einem Punkt in meinem Leben, wo ich noch mal mich orientieren will oder Rat brauche oder mich einfach mal ausweinen will oder mit Trauer noch zu kämpfen habe.

Serafin Dinges: Pfarrerin Sandra Menzel macht ihren Job gern.

Sandra Menzel: Natürlich gibt es so Tage … Ich habe vor kurzem ein Kind beerdigt. So, das sind so Tage, wo ich denke, ich würde vielleicht doch manchmal nicht mehr was anderes machen. Und hinterher denke ich aber es war gut und wichtig, dass ich da war.

Serafin Dinges: Eine kleine Pfarrgemeinde in einem kleinen Dorf im Hunsrück also. Fast alle Einwohner:innen sind in der Kirche, wie es das in Deutschland nur noch auf dem Land gibt. Aber auch hier ziehen immer mehr Menschen in die Stadt. Wer durch den Ort fährt, sieht leerstehende Geschäfte. Die Tankstelle gibt es nicht mehr, auch keine Bankfiliale. Zum Abendessen gehen Ingo und ich in die einzige Pizzeria des Ortes. War aber ganz lecker.

“Wir schaffen das“

Serafin Dinges: Um zu verstehen, warum Sandra Menzel vor ein paar Jahren plötzlich ins Visier des Staates geraten ist, müssen wir erst zehn Jahre zurückgehen. Ins Jahr 2014. Das ist die Zeit, als die sogenannte Flüchtlingskrise beginnt. Also: Was eigentlich passiert, ist, dass Bürgerkrieg in Syrien ist, wegen dem Menschen fliehen müssen. Die Krise ist vielleicht eher der Umgang der Deutschen damit. Obwohl es am Anfang gar nicht nach Krise aussieht, sondern nach beispielloser Solidarität. Ein Satz wird zentral für das gesellschaftliche Klima:

Angela Merkel: Wir haben so vieles geschafft. Wir schaffen das, wir schaffen das. Und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.

Serafin Dinges: In Syrien tobt also seit Jahren ein Bürgerkrieg. Das Land liegt in Schutt und Asche. Diktator Baschar al-Assad lässt Menschen töten, die sich ihm widersetzen. Immer mehr Menschen sind auf der Flucht. Auch aus Afghanistan und dem Irak. Viele von ihnen kommen nach Europa. Im Jahr 2015 fast eine Million Menschen nach Deutschland. Durch die Medien ziehen Bilder von Menschen, die an Bahnhöfen Geflüchtete mit offenen Armen willkommen heißen. Auch kleine Kommunen beherbergen plötzlich viele Geflüchtete. Für Sandra Menzel und ihre Gemeinde ist schnell klar:Auch sie wollen mit anpacken.

Sandra Menzel: Der Ausgangspunkt war, dass wir hier 140 Geflüchtete in einem Dorf mit 1600 Einwohnern hatten. Und irgendwann standen die bei mir an der Tür. Also einmal eben die Syrer im Gottesdienst. Und die nächste Gruppe waren vier Somalis. Und die standen dann bei mir in der Tür, weil sie von den Syrern gehört hatten: da ist jemand, der kann vielleicht weiterhelfen. Und es war Winter, im Januar. Das werde ich nicht vergessen. Die standen mit Flipflops, kurzen Hosen da. So wie sie vom Boot gekommen waren.

Serafin Dinges: Eine SWR Doku aus 2015 zeigt, wie es in Bayern zuging.

SWR-Sprecher: Sandra Menzel ist die Dorfpfarrerin.

Sandra Menzel: Manchmal sagen die auch Mama zu mir. Und dann sage ich manchmal: Hey, so alt bin ich jetzt aber auch nicht.

Serafin Dinges: In der Doku wird die Kirchengemeinde im Hunsrück als Modellbeispiel dafür präsentiert, wie es funktionieren kann. Es gibt gemeinsame feste, internationale Kochabende, einen Chor aus Geflüchteten und Einheimischen. Die pensionierte Bankkauffrau unterrichtet Deutsch, eine Ärztin hilft aus.

SWR-Sprecher: Integration scheint hier zu funktionieren, dank vieler Initiativen.

Serafin Dinges: Die Kirchengemeinde macht aus der Not eine Tugend und nutzt den Leerstand, ruft ein neues Cafe international ins Leben und schafft damit einen Begegnungsort für Menschen aus der Gemeinde von und mit Geflüchteten. Es sieht wirklich so aus, als könnten sie es schaffen.

SWR-Sprecher: Ein kleines Dorf im Hunsrück und eine Pfarrerin, die die Bibel wörtlich nimmt.

Serafin Dinges: Und wenn das alles zu gut klingt, um wahr zu sein: es dauert nicht lange, bis sich die ersten Brüche in der Stimmung zeigen.

Sandra Menzel: Wir sind ja so als kleines Dorf auf dem Hunsrück auch immer so ein Spiegel der Gesellschaft. Und da, wo es eigentlich gesellschaftlich in Deutschland gekippt ist, ist es bei uns auch gekippt. Und das war die Silvesternacht damals in Köln.

Serafin Dinges: In der Nacht vom 31. Dezember 2015 auf den 1. Januar 2016 kam es in Köln zu sexuellen Übergriffen. Als Täter machten die Medien überwiegend junge Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum aus. Wochenlang beherrschten rassistische Deutungen die Schlagzeilen. Die rechtsnationale AfD ist in den Umfragen bundesweit im Aufwind. Flüchtlingsunterkünfte werden angezündet. Und überall die Frage, ob man nicht doch zu weit gegangen ist mit der sogenannten Willkommenskultur. Plötzlich gibt es auch an Kirchengebäuden in Büchenbeuren Schmierereien an den Fenstern.

Sandra Menzel: So was wie „Moslems, go home“ oder so „Das wird hier nie euer zuhause sein“ oder … ähm … Also irgendwelche rassistischen Schmierereien hal. Auch teilweise an den Wohnungstüren von Geflüchteten.

Serafin Dinges: Aber die Pfarrerin und ihre Gemeinde bleiben ihrem Kurs treu, intensivieren ihre Anstrengungen sogar.

Kirchenasyl

Serafin Dinges: 2016 bekommt Sandra Menzel einen Tipp: Ein Syrer, der wegen Suizidgefahr in einer Psychiatrie untergebracht ist, soll abgeschoben werden. Schon am nächsten Morgen, noch ganz in der Früh, soll die Polizei ihn abholen. Die Pfarrerin bespricht sich mit dem Presbyterium, so nennt man hier den ehrenamtlichen Kirchenvorstand. Und gemeinsamen Schließen sie sich: Sie wollen dem jungen Mann helfen. Sandra Menzel holt ihn ab und bringt ihn in die Kirche.

Sandra Menzel: Dann haben wir wirklich abends, das war zehn, halb elf, eine Pritsche in die Sakristei gestellt – es war Winter, Dezember – so kleinen Elektro-Ofen da reingestellt. Und so ging dieses Kirchenasyl los. Und der hat wirklich auch die Kirche nicht verlassen. einmal war er irgendwie mal duschen irgendwo, weil wir nur so ein kleines Bad und Toilette da haben. Aber der hatte so Angst. Und der, der kommt heute noch. Der wohnt in Koblenz, der kommt heute noch immer Weihnachten in die Kirche, in die Christnacht und sagt: Das ist so mein Zuhause hier. Da war ich das erste Mal in meinem Leben sicher.

Serafin Dinges: Was Sandra Menzel und ihre Gemeinde da gemacht haben, das heißt Kirchenasyl. So nennt man es, wenn eine Gemeinde einer geflüchteten Person Unterschlupf bietet. Damit versucht die Kirche in besonderen Härtefällen zu verhindern, dass Menschen in gefährliche Situationen abgeschoben werden.

Sandra Menzel: Also ein Kirchenasyl kommt in der Regel zustande, wenn ein geflüchteter Mensch darum bittet, in der Kirche aufgenommen zu werden, um Zeit zu gewinnen, dass sein Fall nochmal besonders geprüft wird. Das sind meistens Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, oft in sogenannten Dublinfällen.

Serafin Dinges: Okay, dafür brauchen wir einen kurzen Erklärer. Asyl ist ein Menschenrecht. In der EU ist es so geregelt, dass immer genau ein Staat dafür zuständig ist, einen Asylantrag zu prüfen, damit Geflüchtete nicht mehrere Anträge gleichzeitig stellen können und immer klar ist, wer die Entscheidung trifft. Ein häufiges Kriterium für die Zuständigkeit ist, wo jemand zuerst registriert wurde. Wenn also zum Beispiel jemand aus Syrien flüchtet und es über die Türkei nach Griechenland schafft und dort auch registriert wird, muss eigentlich Griechenland seinen Asylantrag bearbeiten und entscheiden. Bei den Ländern an den EU Außengrenzen müssten also eigentlich besonders viele Asylanträge eingehen. Aber viele Geflüchtete wollen weiter in den Norden, zum Beispiel nach Deutschland. Nach dem Dublin-Verfahren könnte Deutschland diese Menschen aber wieder in das Land abschieben, wo sie zuerst registriert wurden. Dafür hat Deutschland sechs Monate Zeit, die sogenannte Dublin-Frist. In Behördendeutsch sagt man dazu „Rücküberstellung“. Klingt neutral und relativ harmlos. Für die Betroffenen ist es das aber nicht. Oft sind die Bedingungen in den EU Staaten an den Außengrenzen menschenunwürdig oder die Staaten weigern sich sowieso, die Geflüchteten wieder aufzunehmen.

Ingo Dachwitz: Was ist so schlimm daran, wenn Sie zurück nach Italien gehen? Das ist ja ein EU-Land.

Sandra Menzel: Genau. Es gibt auch Leute, die sagen es doch ein Urlaubsland. Alles prima. Ja, ich meine, man kennt das in Italien, Griechenland, überall in diesen Grenzregionen sind die Behörden, sSind die Menschen dort überfordert mit den Menschen, die eben in den Flüchtlingslagern sind. Ich meine Stichwort „Moria“. Das ist jetzt nicht Italien, aber die Zustände sind so, dass – und das können wir tatsächlich selber belegen, weil die junge Dame, die bei uns in der Migrationsarbeit arbeitet, selber in Italien gewesen ist und sich ein Bild davon gemacht hat. Die leben da auf der Straße in so kleinen, selbstgebildeten Camps mit kleinen Zelten. Irgendwann kommt die Polizei, brennt die Dinger nieder und dann ziehen sie irgendwie weiter.

Serafin Dinges: Und deshalb entschließt sich manchmal eine Kirchengemeinde, einem Menschen Kirchenasyl zu geben, damit er oder sie nicht in diese Zustände zurück muss. Das Ziel ist meistens, dass die Dublinfrist überschritten wird. Die Person darf dann das Kirchengebäude in dieser Zeit nicht verlassen, lebt oft über Wochen auf engem Raum. Doch wenn alles gut geht, kann sie danach einen Asylantrag in Deutschland stellen.

Sandra Menzel: Aber es ist jetzt nicht so, dass man das am laufenden Band macht.

Ingo Dachwitz: Wie oft habt ihr in den letzten zehn Jahren, also wie vielen Personen habt ihr Kirchenasyl gewährt?

Sandra Menzel: Sechs.

Ingo Dachwitz: Sechs insgesamt. Okay.

Serafin Dinges: Das Kirchenasyl ist also ein Weg für die Kirche, in menschenunwürdige Entscheidungen von Behörden einzugreifen. So eine Art Korrektiv. Und es ist fast so alt wie die Kirche selbst. Den ersten dokumentierten Fall gibt es im vierten Jahrhundert. In Deutschland erlebt die Tradition seit den Achtzigern ein Comeback. Eine rechtliche Grundlage gibt es dafür allerdings nicht. Nur die Gewohnheit, dass die Polizei keine Kirchen stürmt. Sieht irgendwie nicht so gut aus. Aber diese Praxis passt nicht allen. Auf dem Höhepunkt der Migrationsdebatte wird es Innenminister Thomas de Maizière von der CDU – das ist kurz für Christlich Demokratische Union – zu bunt. Der ist zwar selbst evangelischer Christ, 2023 war er sogar Präsident des Evangelischen Kirchentages, aber er findet: Die Kirchen dürfen sich nicht über den Staat hinwegsetzen. Offen droht er damals den Kirchen.

Thomas de Maizière: Das geht eben nicht, dass eine Institution sagt Ich entscheide jetzt mal, mich über das Recht zu setzen. Wie will man etwas anderes Beispiel nehmen: die Scharia ist auch eine Art Gesetz für Muslime. Sie kann aber in keinem Fall über deutschen Gesetzen stehen.

Serafin Dinges: Kirchenasyl ist also auf einer Ebene mit der Scharia. Aber die Kirchen lassen sich davon nicht beeindrucken. Sie betonen immer wieder, dass das Instrument nur in Härtefällen eingesetzt wird. Für ganz Deutschland sprechen wir von 430 Fällen im Jahr 2015. 620 Fälle im Jahr 2016. Im Vergleich zu Hunderttausenden Geflüchteten ist das recht wenig. Die Kirchen handeln mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Deal aus. Solange die Kirchen maßvoll damit umgehen und transparent mit dem Amt kommunizieren, wen sie bei sich unterbringen, respektiert der Staat das Kirchenasyl.

Das Vergehen

Serafin Dinges: Als die Pfarrerin Sandra Menzel und ihre Gemeinde das erste Mal Kirchenasyl geben, läuft alles gut. Die Gemeinde fühlt sich also recht sicher, als sie ein paar Jahre später noch mal Menschen bei sich aufnimmt.

Sandra Menzel: Ja, das war 2018.

Serafin Dinges: Es ist Juni. Menzel erfährt von sieben Männern aus Darfur im Sudan, die Hilfe brauchen. Zu Hause droht ihnen Verfolgung und Folter. Das Land in Nordafrika wird seit Jahrzehnten von brutalen Kämpfen erschüttert. Bis heute. Die Männer sollen nach Italien abgeschoben werden, weil das ihr Ankunftsland in der EU war. In Deutschland können sie nicht bleiben.

Ingo Dachwitz: Sie haben hier Asylantrag gestellt, und die Entscheidung der Ausländerbehörde war?

Sandra Menzel: Wir sind nicht zuständig. Wir sind hier. Wir gucken uns das gar nicht an, interessiert uns nicht. Wir müssen rücküberstellen. Und dann kam das Kirchenasyl ins Spiel.

Serafin Dinges: Die Männer hoffen aber auf ein Asylverfahren in Deutschland unter menschlicheren Bedingungen. Also entscheiden sich Menzel und das Presbyterium in einer anonymen Abstimmung: wir geben zwei der sieben Männer Kirchenasyl. Einige benachbarte Kirchengemeinden nehmen die restlichen Männer auf. Und dort läuft es ähnlich. Die beiden Männer aus dem Sudan ziehen in eine Wohnung über dem Cafe International. Menzel gibt dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Bescheid, dass diese Menschen jetzt bei ihr untergebracht wurden. Und sie ist auch mit der Landeskirche der Evangelischen Kirche im Rheinland in Kontakt. Das heißt, alle wichtigen Stellen wissen Bescheid, was hier passiert. Und dann schon nach ein paar Wochen: gute Nachricht. Im Juli 2018 ist die Dublin-Frist der Männer verstrichen. Das Kirchenasyl hat also funktioniert. Die Männer bekommen Asylverfahren in Deutschland. Die verlaufen, dann so, wie Asylverfahren häufig verlaufen: kompliziert. Vor Gericht scheitern die Geflüchteten. Der Sudan wird als sicheres Herkunftsland bewertet. Ein Mann aus der Gruppe wird später schwer verletzt, als er versucht, unter einem LKW von Frankreich nach England einzureisen. Andere können in der Region bleiben, weil sie eine Ausbildung finden und deshalb geduldet werden. Für Sandra Menzel jedenfalls ist das Kirchenasyl damit im Sommer 2018 erledigt, denkt sie. Aber kurz darauf landet ein Brief im Briefkasten der Pfarrerin, datiert auf den 3. September 2018. Darin heißt es:

Sprecherin: Sehr geehrte Frau Menzel, aufgrund einer Strafanzeige der Kreisverwaltung Rhein-Hunsrück-Kreis habe ich ein Ermittlungsverfahren gegen Sie eingeleitet wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel gemäß der Paragraphen 95, Abschnitt eins Nummer zwei, Aufenthaltsgesetz 27 Strafgesetzbuch.

Sandra Menzel: Genau. Der rechtliche Vorwurf war Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt.

Serafin Dinges: Die Strafanzeige stammt vom Landrat des Rhein Hunsrück Kreises, von Marlon Breuer. Ein CDU-Politiker. Der Pfarrerin wird vorgeworfen, Menschen dabei zu helfen, gegen das Gesetz zu verstoßen. In dem Schreiben heißt es weiter, dass zur Aufklärung die Durchsicht von Unterlagen nötig ist.

Wiebke Otto: Und dann kam ich ins Spiel und habe dann, wie es mein Job ist: Ich sage immer: Mandantin kommt nicht. Mandantin sagt auch nix. Läuft alles über mich.

Serafin Dinges: Das ist Wiebke Otto, die Anwältin von Sandra Menzel.

Wiebke Otto: Da gab es Kommunikation mit dem Staatsanwalt. Und die Staatsanwaltschaft hat dann so gesagt: na ja, wir wollen doch nur ein paar Unterlagen haben, vielleicht von irgendwelchen Sitzungen oder von dem Vorgang an sich. Ob sie das nicht freiwillig herausgeben wollen würden.

Serafin Dinges: Wollen sie nicht. Sagt Wiebke Otto. Denn was die Pfarrerin Menzel mit dem Kirchenasyl macht, das ist nicht illegal. Sie versteckt niemanden vor der Polizei. Sie hat ja sogar die Adresse der Asylsuchenden an das Innenministerium geschickt. Die Polizei hätte also jederzeit abschieben können, zumindest rein rechtlich. Und selbst wenn das Kirchenasyl illegal gewesen wäre, zu beweisen gibt es hier ja gar nichts mehr. Menzel hat ja schon längst zugegeben, dass ihre Gemeinde zwei Männern aus dem Sudan Kirchenasyl gegeben hat. Die Kirchengemeinde gibt also keine Unterlagen an die Polizei weiter und hört fürs erste auch nichts weiteres. Es wird Winter, Weihnachten. Das neue Jahr 2019 startet. Immer noch nichts. Das Thema hat sich wohl erledigt. Und dann … Steht plötzlich … Die Polizei vor der Tür.

Schock

Sandra Menzel: Es war morgens kurz vor zehn. Ich bin gerade fertig gemacht, weil ich los will zu einer goldenen Hochzeit eines Kirchenvorstandsmitglieds und seiner Frau. Und habe ja, hab meine Tasche geschnappt und bin zur Tür.

Serafin Dinges: Wie geht ein paar Schritte von ihrem Büro zur Tür.

Sandra Menzel: Und sehe praktisch schon durch die Scheibe: okay.

Serafin Dinges: In der Auffahrt vor ihrem Haus stehen drei Polizeiautos. Mehrere Polizistinnen in Uniform und in Zivil kommen auf sie zu.

Sandra Menzel: Mein erster Gedanke ist: Oh Gott, hoffentlich ist nichts mit dem Schulbus passiert. Also irgendwas muss doch da passiert sein, wenn hier so ein Aufmarsch ist an Polizei.

Serafin Dinges: Sie denkt erst, meinen Kindern ist irgendwas passiert. Der Schulbus ist verunglückt.

Sandra Menzel: Und mein zweiter Gedanke war: Okay, die wollen mich abholen als Notfall-Seelsorgerin. Und dann dachte ich na ja, was auch ungewöhnlich, dass sie mit so viel Leuten kommen. Normalerweise kommt dann ein Streifenwagen mal vorbei. Also irgendwann dachte ich so okay, irgendwas stimmt nicht, Das ist es alles nicht.

Serafin Dinges: Die Polizei kommt nicht, weil sie Sandra Menzels Hilfe braucht. Sie kommt, weil sie ihr Haus durchsuchen will.

Sandra Menzel: Also, ich sehe, wie die da noch stehen und sich beraten und hab hier gewartet an der Tür und sie kommen auf mich zu. Und dann stand hier die Staatsanwältin und sagte: Frau Menzel, wir machen heute eine Hausdurchsuchung. Bitte treten Sie mal zur Seite, wir müssen in Ihr Haus.

Serafin Dinges: Sandra Menzel ist in dem Moment erst mal verwirrt.

Sandra Menzel: Ich dachte: Hä, Hausdurchsuchung? Warum? Für was? Und dann sagt sie: Ja, Sie haben ja ein Kirchenasyl. Sie haben eine Strafanzeige bekommen und es fehlen Unterlagen. Die wurden nicht eingereicht und wir sind hier, um die abzuholen und zu gucken, was wir finden. Sie hat mir dann den Bescheid in die Hand gedrückt und sagte dann auch gleich gehen Sie mal zur Seite Und in der nächsten Sekunde standen die dann auch schon drin bei mir im Flur.

Serafin Dinges: Die knapp zehn Polizistinnen stehen plötzlich eng gedrängt in ihrem Flur. Im Pfarrhaus, da sind die Übergänge von privat und dienstlich fließend. Wir stehen gerade im großen Eingangsbereich zwischen Schuhen und Jacken. Links geht es ins Büro der Pfarrerin und der Gemeindesekretärin und rechts geht es in die Küche und ins Wohnzimmer. Und von hier geht auch eine Treppe nach oben zu den Schlafzimmern.

Sandra Menzel: Ich habe dann erst so gedacht: Wollen Sie jetzt etwa auch nach oben? Wollen Sie in die Kinderzimmer oder was? Sie sagt: Nein, wir wollen eigentlich nur in die Diensträume. So, das war schon mal so ein erstes Aufatmen, weil ich dachte: Was wollen die auch jetzt da oben suchen? Sind die Kinderzimmer nicht aufgeräumt? Was einem so durch den Kopf geht. Ja, und dann sind wir hier ins Esszimmer und stehen dann da und ähm.

Serafin Dinges: Sandra Menzel denkt, sie kann die Situation entspannen und versucht erst mal rauszufinden, was genau bei ihr im Haus überhaupt gesucht wird.

Sandra Menzel: Und erst auf mehrmaliges Nachfragen von mir, was denn genau sie suchen, war dann so deutlich: Okay, wir wollen wissen, hat die Landeskirche Sie dazu beauftragt, dieses Kirchenasyl zu machen? Also gibt es irgendwie von von oben, von der Chefetage Ihrer Kirche irgendwelche Anfragen oder Anweisungen, die Sie da befolgt haben?

Serafin Dinges: Sie versucht zu erklären, wie das mit dem Kirchenasyl gelaufen ist, dass eine solche Entscheidung immer die Gemeinde vor Ort trifft, dass die Landeskirche ihr überhaupt keine Anweisungen erteilen kann.

Sandra Menzel: Kirchenasyl ist ja nichts, was eine Landeskirche einer Gemeinde auftragen kann, sondern eine Gemeinde entscheidet sich dazu, ein Kirchenasyl durchzuführen, und nimmt vielleicht die Beratung der Landeskirche in Auftrag. Also insofern gibt es sicher E-Mail-Verkehr zu dem Thema. Aber es gibt nie einen Auftrag einer Landeskirche.

Serafin Dinges: Die Staatsanwältin will nichts davon wissen. Sie ist hier, um herauszufinden, wer das Kirchenasyl beauftragt hat. Sie gehen alle gemeinsam in das Büro der Pfarrerin. Das sieht aus, wie ein Büro aussieht: Schreibtisch, darauf ein iMac, in den Regalen eine Menge Aktenordner, recht säuberlich beschriftet. „Presbyterium“ steht auf einem, auf einem anderen „Kirchenasyl“.

Sandra Menzel: Sie haben dann sich einen Ordner angeguckt, den ich zur Verfügung gestellt habe, wo ich alle Protokollauszüge der Presbyteriumssitzungen drin hatte, wo aller Schriftverkehr mit dem Bundesamt drin war. Habe das vorgelegt, habe gesagt: Hier, schauen Sie rein, fehlt Ihnen noch irgendwas? Und dann sagt sie: Da sind die Namen der Presbyter ja nicht drin. Sage ich: Ja, die kriegen Sie von mir auch nicht, die können sie sich anders beschaffen. Also ich merkte auch, wie ich langsam immer mehr sauer wurde. Ich dachte, das ist ja so ungeheuerlich, was hier passiert, dass ich wirklich Adrenalin hier bis bis zur Nasenspitze hatte.

Handy aus der Hand

Serafin Dinges: Also noch mal kurz zusammengefasst: Das Kirchenasyl aus dem Sommer davor ist jetzt im Januar 2019 schon längst vorbei. Aber die Justiz legt erst jetzt richtig los.

Sandra Menzel: Ja, und dann hieß es irgendwann: Was ist mit dem Computer? Wo haben Sie Ihre Emails? Dann habe ich meinen Computer angeschmissen und hab das E-Mail-Programm geöffnet. Und habe dann ein paar Ordner zum Thema Kirchenasyl aufgemacht und gezeigt, wo die einzelnen Pfade sind, wo man die Dateien findet. Und irgendwann sagte die Staatsanwältin: Jetzt treten Sie mal hier zurück. Das ist nicht Ihre Aufgabe, das hier alles zu suchen. Das machen wir selber.

Serafin Dinges: Hilfsbereit, wie sie nun mal ist, bietet Sandra Menzel den Experten der Polizei Hilfe an, aber die Staatsanwältin denkt, sie wolle sie auf eine falsche Fährte locken.

Sandra Menzel: Dann hieß es erst mal: Treten Sie ein Stück zurück und verlassen Sie mal den Raum. Ich habe dann irgendwie so hier gestanden. Also ich war nicht so ganz weit weg. Hab mehrfach darauf hingewiesen: Auf dem Computer befinden sich sensible seelsorgerliche Daten und ich bin nicht befugt, die herauszurücken und sie wären nicht befugt, diese zu sichten. Und dann sagte sie immer: Ja, das machen wir auch nicht. Wir gucken nur gezielt nach Kirchenasyl. Aber ich konnte es ja nicht mehr überprüfen in dem Fall.

Serafin Dinges: Auf unsere Nachfrage hin bestreitet die Staatsanwaltschaft, dass Menzel klar gemacht hätte, dass es sich hier um seelsorgerische Inhalte handelt. Außerdem falle sowieso nicht alles, was eine Pfarrerin macht, automatisch unter das Seelsorgegeheimnis, sondern nur das, was man ihr explizit in der Funktion als Seelsorgerin anvertraut. Wie auch immer man das bei einem Handy, das privat und dienstlich genutzt wird, auseinanderhalten will. Gut fühlt sich das nicht an.

Sandra Menzel: Ja, völlig, völlig verrückt. Unangenehm. Also ich hatte das Ganze die ganze Zeit so das Gefühl, mir geschieht total unrecht. Also ich habe nichts gemacht. Im Gegenteil, ich habe mich engagiert für Menschen oder: Wir als Kirchengemeinde haben uns engagiert und jetzt wird hier so ein Szenarium irgendwie abgespult. Das also ich habe mich bedroht gefühlt, unter Druck gesetzt gefühlt und, ähm, unrechtmäßig behandelt. Ich habe sofort gedacht, das kann nicht rechtmäßig sein.

Serafin Dinges: Sandra Menzel fühlt sich hilflos und sie wird sauer, als sie der Polizei bei der Arbeit zuschaut. Der IT-Experte der Polizei gibt anscheinend einfach Kirchenasyl in die Suche ein und überträgt mehr oder weniger willkürlich Daten auf einen USB-Stick. Welche? Das kann Menzel nicht genau sehen.

Sandra Menzel: Mir kam es auch immer so vor, als wäre es jetzt nicht so wahnsinnig gewissenhaft. Ich meine wenn ich jetzt irgendwie Mörderin oder Angeklagt wegen Mordes wäre, dann hätte man wahrscheinlich noch ganz anders irgendwie gesucht. Sondern es war eher so: Wir sind hier mal drin, wir machen hier mal ein bisschen Wirbel.

Serafin Dinges: Und nachdem sie mit dem Computer fertig sind, wie die Staatsanwältin auch noch das Smartphone von Pfarrerin Menzel mitnehmen.

Sandra Menzel: Dann habe ich gesagt: Das bekommen Sie nicht, das brauche ich. Dann kann ich nicht arbeiten, wenn ich das nicht habe. Da sind alle meine Kalender drauf. Ich weiß sonst gar nicht, wann ich wo beerdigen muss oder ähnliches. Ich habe alle meine Kontaktdaten da drin.

Serafin Dinges: Reinschauen wie die Staatsanwältin. Trotzdem Sie bittet die Pfarrerin, mal das Handy zu entsperren. Rein rechtlich hätte Sandra Menzel das nicht machen müssen. Aber wer setzt sich in so einer Situation schon durch? Die Pastorin entsperrt ihr Telefon.

Sandra Menzel: Und dann hat sie so ein bisschen gestutzt und gesag: Na ja, dann machen Sie mal auf. Zeigen Sie mal, geben Sie mal in die Suchmaschine ein: Kirchenasyl. Und dann habe ich Kirchenasyl eingegeben.

Serafin Dinges: Es erscheint ein Chat mit einer Freundin.

Sandra Menzel: Und dann hat sie, habe ich dann gezeigt, das ist meine Freundin. Da sagt sie: Ja, das kann auch ich entscheiden, ob das relevant ist oder nicht, hat mir das Handy aus der Hand genommen und hat dann den Chat durchgeguckt, den ich zum Beispiel mit meiner Freundin hatte, wo sie gefragt hat: Wie läuft es denn bei eurem Kirchenasyl? Und schon erscheint natürlich dieser Chat, wenn man das sucht.

Ingo Dachwitz: Ein privat Chat mit einer Freundin?

Sandra Menzel: Ja genau, privater Chat, der dann noch mal nachgeschaut. Dann hat sie aber relativ schnell gesehen: Okay, da ist nichts drin. Und so gab es halt verschiedene Chats, die dann zum Thema Kirchenasyl irgendwas gepostet hatten oder wo ich mal meinem Unmut gegenüber dem Landrat irgendwie Luft gemacht hatte oder so. Das war dann eher witzig, als die das lasen. Ja, also es war ja nichts dienstlich relevantes zum Thema Kirchenasyl auf diesem Handy drauf.

Serafin Dinges: Eine gute halbe Stunde durchsucht die Polizei Computer und Smartphone, wobei es am Smartphone bei WhatsApp bleibt. Threema, eine verschlüsselte Nachrichtenapp, schaut sich die Staatsanwältin nicht an, auch keine privaten Fotos, die natürlich auch auf dem Handy sind. Eine ziemlich chaotische Situation. Und dann passiert noch was. Die Geschichte mit dem Schredder. Während das alles hier passiert, sitzt nämlich im Nebenzimmer die Sekretärin der Kirchengemeinde. Die weiß nicht so recht, wie sie in das ganze Spektakel reinpasst und würde nach einer Weile gerne wieder zu arbeiten beginnen, während die Polizei noch im Haus ist.

Sandra Menzel: Genau. Sie hat dann gefragt, sagt, sie hätte noch was zu arbeiten, ob sie denn jetzt weiterarbeiten könnte. Und das durfte sie dann auch. Wir haben hier am Computer gestanden, und irgendwann höre ich, wie drüben der Schredder läuft.

Serafin Dinges: Dazu muss man wissen Die Gemeinde Sekretärin ist an diesem Vormittag damit beschäftigt, alte Taufformulare zu vernichten. Das macht sie immer am Anfang des Jahres.

Sandra Menzel: Das war im Januar. Man macht die Eintragungen ins Kirchenbuch, damit das Kirchenbuch für das letzte Jahr abgeschlossen werden kann. Und wenn die Daten eingetragen sind, dann kann man eben diese Datenblätter, wo Adressen, Geburtsdaten und so drauf sind, vernichten. Und das muss über einen Schredder ein Aktenvernichter passieren. Kann man nicht einfach in den Müll werfen. Und sie war halt munter dabei, diese Papiere zu schreddern.

Serafin Dinges: Die Staatsanwältin findet das gar nicht lustig.

Sandra Menzel: Und irgendwann schrie die Staatsanwältin auf und rannte rum. Was machen Sie da? Schalten Sie das Ding ab! Das kann ja wohl nicht wahr sein. Hier wird nichts vernichtet. Es bleibt alles so, wie es ist. Und ich bin rübergegangen. Und meine Sekretärin. Andrea stand da wie vom Donner gerührt und hat nur gesagt. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass ich das nicht machen darf. Ich habe nur hier. Sie können das alles. Wir sind alle Staubblätter. Das hat überhaupt nichts mit Kirchenasyl zu tun. War total erschrocken. Und dann hieß es nur Ja, jetzt wird der ganze Müll auch noch mitgenommen und das ganze geschredderte Zeug noch mitgenommen. Ich glaube, das haben sie dann auch tatsächlich eingesteckt.

Serafin Dinges: Nach eineinhalb Stunden ist die Hausdurchsuchung vorbei. Die Polizei zieht ab. Mit dabei haben sie eine Festplatte mit Daten vom Computer der Pfarrerin. Welche genau, wissen wir nicht. Und einen Aktenordner mit Informationen zum Kirchenasyl. Und eine Ladung Papierschnipsel. Die geschredderten Taufblätter. Aber das ist nicht alles, was an dem Tag passiert. Während die Polizei bei Menzel nach Informationen zum Kirchenasyl sucht, versucht die Pfarrerin immer wieder, die Anwältin der Landeskirche zu erreichen. Wiebke Otto. Aber sie kriegt sie einfach nicht dran. Immer wieder versucht sie es. Und dann hebt sie ab.

Sandra Menzel: Und irgendwann habe ich sie erreicht. Und dann sagt sie Ich bin gerade im Gespräch mit dem Kollegen in Kirchberg, da sind sie auch so, und dann merken wir irgendwo nach und nach sind zeitgleich in allen Gemeinden, die damals ein Kirchenasyl in unserem Kirchenkreis hatten, dann aufgetaucht.

Ingo Dachwitz: Fünf Gemeinden?

Sandra Menzel: Ja fünf Gemeinden und haben dann dort eben diese Durchsuchungen durchgeführt.

Währenddessen anderswo

Serafin Dinges: Die Hausdurchsuchung bei Menzel war also nur eine von vielen. Wenn ich mir diesen Morgen vorstelle, dann denke ich immer an seinen typischen Polizeifilm. Es ist der 31. Januar 2019, kurz nach neun. Es ist kalt, ein wenig trüb. Im Bild sind mehrere Polizeiautos. Von einem zum anderen. Schnitt in Position. Schnitt. In Position. Schnitt. Check. Check. Auf mein Kommando. Los. An fünf Orten mitten im idyllischen Hunsrück, vor Privathäusern oder vor Büroräumen stehen etliche Polizeiautos. Koordiniert und bereit zum Einsatz. Aber hinter den Türen stecken keine Schwerkriminellen, sondern Pfarrer:innen. Die Anwältin Wiebke Otto ist an diesem Tag parallel mit einer Handvoll Pfarrer:innen in Kontakt, während bei denen überall die Polizei im Haus steht. Und Sie sind wahrscheinlich mit der ersten Person am Telefon und dann geht die Kollegin von den anderen.

Wiebke Otto: Genau, währenddessen merke ich an meinem Handy: es klopft an, es klopft. Es klopft an.

Jochen Wagner: Ja, da steht. Ich sehe dann ein, zwei Beamte und sehe dann im nächsten Blick, dass es sieben oder acht sind und die dann mit dem Durchsuchungsbeschluss den vorlegen und fragen, ob sie reinkommen können.

Serafin Dinges: Das ist Jochen Wagner. Er ist der Pfarrer einer kleinen freien evangelischen Gemeinde. Ein paar Dörfer weiter.

Jochen Wagner: Und soweit ich mich recht erinnere, hab ich noch gefragt Was ist, wenn ich Nein sage? Und da haben sie gesagt Dann kommen wir trotzdem rein. Und damit war das Thema dann irgendwie auch erledigt. Und dann war klar Ja, da muss ich jetzt eben dem nachgeben, was die sagen.

Serafin Dinges: Er ist mit seiner Frau alleine zu Hause, seine Kinder sind gerade los zur Schule.

Jochen Wagner: Also mein mit Der erste Gedanke war natürlich auch, aber ich bin froh, dass die Kinder in der Schule sind.

Serafin Dinges: Auch seine Kirchengemeinde hatte Geflüchteten Kirchenasyl gegeben. Zur gleichen Zeit wie Sandra Menzel. Sie waren zwar nur für ein paar Wochen da, aber eine Anzeige gab es trotzdem. Also steht am 31. Januar 2019 auch bei ihm plötzlich die Polizei und ein Staatsanwalt in der Wohnung und wollen Zugang zu seinem Handy und seinem Computer.

Jochen Wagner: Und man denkt natürlich auch, weil die dadurch, dass ich ja auch mein Büro daheim habe und man quasi immer alles ganz strikt privat und dienstlich getrennt hat, fragt man natürlich Was ist da so sind auch im Privaten, was sind dann privaten Sachen drauf auf dem Computer usw und natürlich auch, wenn man in die Ecke gedrängt wird. Frag mich, was könnten da für Unterlagen sein, die mich jetzt belasten? Also keine Ahnung.

Serafin Dinges: Jochen Wagner ist ein großer Mann, aber er scheint sich immer ein wenig nach vorne zu beugen. Wir treffen ihn an seiner Kirche, einem schlichten Gebäude am Rande von Kirchberg, gleich neben einer Tankstelle. Er trägt ein T Shirt mit einer Referenz zu Game of Thrones. Drauf steht ein Zitat von Hodor, einem Charakter, der die ganze Zeit nur Hodor sagt. Ein Witz. Finanzwagner spricht sanft und so gibt er sich auch mit der Polizei, bietet ihnen erst mal was zu trinken an und sucht dann alle Daten und Akten, die relevant sein könnten. Er gibt sogar seinen Laptop her.

Jochen Wagner: Und das war dann quasi das nächste. Und zum Schluss dann, wenn ich dann noch mal am Handy gefragt und was dann genau gebe ich dann mit ab und dann die Antwort auf die Frage und das wieder bekommen ist. Dann könnte ich dann in Koblenz abholen.

Serafin Dinges: Wann genau er sein Handy wieder bekommt. Das sagen die Beamten ihm nicht. Er bekäme dann Bescheid auf dem Festnetztelefon, denn Wagner hat nur dieses eine Handy. Auch bei diesem Pastor fließen privat und dienstlich zusammen.

Ingo Dachwitz: Kannst du den irgendwie begreiflich machen, dass da private, also nicht nur private, sondern eben auch sozusagen möglicherweise Seelsorgegeheimnisse von Gemeindemitgliedern drauf sind auf dem Telefon, dass sie da von der einsammeln?

Jochen Wagner: Ja, ich habe das versucht deutlich zu machen. Und ich erkläre so wie das gehandhabt wird, das ist das eine. Bei uns in den Kirchengemeinden gibt und und die Antwort ist dann das Sie. Sie schauen sich nur die Sachen an, die den Fall betreffen. Da muss ich mich streiten. Was soll ich dagegen machen? Da muss ich mich darauf verlassen oder eben auch nicht, weil ich kann es ja dann in dem Moment sowieso nicht ändern.

Serafin Dinges: Die Polizistinnen fragen nach den Passwörtern seiner Geräte. Wagner schreibt sie auf. Er ist sich in dem Moment nicht sicher, ob er das überhaupt machen muss. Aber er macht es trotzdem.

Jochen Wagner: Genau. Es wird natürlich da auch mit Druck gearbeitet, so nach dem Motto also wir kommen auch so an den Computer rein und machen es uns halt nur schwerer. So, und dann denkt man ja, hm, dann mache ich es ihnen lieber leicht, weil ich ja weiß, was in dem Ganzen in den nächsten Wochen noch alles kommt. Ja.

Serafin Dinges: Es sind solche Momente, Grauzonen, die uns während dieser ganzen Recherche immer wieder begegnen. In denen sich die Wahrnehmungen spalten. Die Polizei zwingt Jochen Wagner in diesem Moment nicht dazu, seine Passwörter herauszugeben. Das darf sie nicht. Aber für Wagner, gerade von zehn Polizistinnen überrumpelt, fühlt es sich in der Situation nicht so an, als habe er eine Wahl. Als Pastor einer freien Gemeinde, die nicht zur Landeskirche gehört, hat er nicht sofort eine Anwältin parat. Wiebke Otto wird ihn später mit vertreten. Aber in dem Moment ist der Pfarrer dem Gefühl der Ohnmacht vor der Polizei komplett ausgeliefert. Und dann, nach einer knappen Stunde, geht die Polizei wieder. Jochen Wagner und seine Frau bleiben zurück. Ohne Laptop, ohne Handy.

Werbepause

Ingo Dachwitz: Hallo Serafin.

Serafin Dinges: Hallo Ingo und als Autor dieser Folge Willkommen zur Werbepause. Hi. Hast du gerade Zeit?

Ingo Dachwitz: Ja. Constanze steht gerade bei mir. Und wir unterhalten uns – aber klar.

Serafin Dinges: Also, ich erwische euch gerade beim Gespräch über den Podcast.

Ingo Dachwitz: Es geht um einen anderen Podcast, aber.

Serafin Dinges: Es geht um die Konkurrenz! Okay. Ich würde dir trotzdem gerne kurz für die Werbepause eine Frage stellen.

Ingo Dachwitz: Ja, schieß los.

Serafin Dinges: Wir hören natürlich gerade den Podcast, aber was machst du eigentlich gerade?

Ingo Dachwitz: Ich mache gerade was ganz anderes. Wenn ich nicht an Systemeinstellungen arbeite, mache ich ja viel zum Thema Onlinewerbung, Datenhandel und kommerzieller Überwachung. Und damit beschäftige ich mich gerade. Ich versuche nämlich gerade herauszufinden, warum eigentlich zahlreiche deutsche Medien in einer Datei online darüber informieren, dass sie mit Yandex zusammenarbeiten. Bei der Werbevermarktung, einem russischen Konzern, der immer stärker unter die Kontrolle des Kreml gerät.

Serafin Dinges: Und was bedeutet das für dich? Dass du diese Arbeit, diese kleinteiligen, komplizierte Arbeiten nur machen kannst, weil die vor allem durch Spenden finanziert ist?

Ingo Dachwitz: Für mich bedeutet die Spendenfinanzierung, dass ich überhaupt so ausführlich mich dem Thema Onlinewerbung und Tracking und Datenhandel widmen kann. Viele andere Medien haben ja das Geschäftsmodell der Onlinewerbung und sind deshalb ja abhängig davon, dass die Online Werbung nutzen. Ich kann bei netzpolitik.org zu diesem Thema sehr viel frei und unabhängig recherchieren. Auch dank der Unterstützung unserer Spenderinnen.

Serafin Dinges: Was glaubst du, wäre für dich denn im Arbeitsalltag anders? Vielleicht für dein eigenes Gefühl, wenn du plötzlich wieder bei einem traditionellen Verlag arbeiten würdest?

Ingo Dachwitz: Das kann ich gar nicht so genau sagen, weil ich noch nie bei einem traditionellen Medium gearbeitet habe. Und ja, ich habe schon mal drüber nachgedacht. Es gäbe da jetzt wirklich nicht viele Alternativen, die ich für attraktiv halte, weil netzpolitik.org eben so besonders ist. Weil wir dranbleiben können, weil wir langfristig an Themen recherchieren können. Weil wir nicht davon abhängig sind, dass Themen irgendwie besonders gut klicken oder dass wir irgendwelchen Gremien gefallen müssen, sondern wir können dank der Unterstützung unserer Leser eben vollkommen unabhängig, langfristig und mit politischem Biss an Themen dranbleiben. Das finde ich sehr schön.

Serafin Dinges: Wenn ihr diese einzigartige und kann man glaube ich nicht oft genug sagen werbefreie Arbeit unterstützen wollt, dann findet ihr alle Infos auf netzpolitik.org/spenden. okay und wir machen weiter mit der Folge und ich lass dich weiter recherchieren. Vielen Dank, Ingo.

Ingo Dachwitz: Danke. Ciao.

Serafin Dinges: Nachdem die Polizei Jochen Wagner und Sandra Menzel: wieder verlässt, müssen sich die beiden erst mal sammeln. Wie in jeder Schocksituation dauert es ein bisschen, bis man realisiert, was da gerade passiert ist.

Sandra Menzel: Ja, habe immer gedacht, jetzt kommen gleich noch meine Kinder nach Hause, Hoffentlich sind die weg. Bis dahin mal wie sieht das denn aus, wenn jemand in dein Privathaus kommt, wo eine Familie mit vier Kindern noch ist, die das alles noch hautnah miterleben und die natürlich auch hinterher fahren. Aber euch, weil die Polizei Na, was hat denn deine Mutter gemacht?

Jochen Wagner: Meine damalige Frau ist erst mal auf den Boden gesunken und war total fertig mit allem, weil dann wie gesagt, vorher hat man so ach wollen sie was zu trinken und so und dann nachher merkt man, dann kommt das erst an und dann war sie echt total aufgrund dieses dieses ausgeliefert seins, so dass das ich glaube dann bei ihr auch sich äußerlich gezeigt hat, was so in uns beiden vorging.

Sandra Menzel: Und irgendwann später kam das eigentlich, dass ich vor Wut richtig geheult haben soll. Das kann einfach nicht wahr sein. Das ist so unfassbar. Und dann haben wir natürlich mit den Kollegen Kontakt gehabt und die fanden das auch alle unfassbar. Und dann haben wir uns so ein bisschen auch so gemeinschaftlich zusammengetan und geschimpft. Was? Also in der Situation selber habe ich auch gedacht, das ist lächerlich, das ist so lächerlich.

Dürfen die das?

Serafin Dinges: Die Pastorinnen wollen die Sache nicht auf sich sitzen lassen. Sie haben die Landeskirche im Rücken, die ihnen Unterstützung zusichert. Und sie haben Anwältin Wiebke Otto.

Wiebke Otto: Wenn ich jetzt sage, der Kampf gegen das System das hört sich so pathetisch an, ja, so pathetisch soll es gar nicht sein. Aber das, was sich Menschen, welchen Maßnahmen sie sich manchmal unterziehen müssen und was sie über sich erdulden lassen müssen, das ist schon das Streiten, das treibt einem manchmal die Haare zu Berge.

Serafin Dinges: Wiebke Otte vertritt die Kirchengemeinden bei den Hausdurchsuchungen. Noch am selben Tag legt sie Widerspruch gegen die Durchsuchungen ein und erreicht, dass die mitgenommenen Dokumente und Geräte nicht gesichtet werden, bis über die Rechtmäßigkeit der Durchsuchungen entschieden ist.

Wiebke Otto: Und dann wurde letztendlich von vom Landgericht dann entschieden, dass die Durchsuchung rechtswidrig war, weil es keinen Anfangsverdacht gegeben hat, dass eine Straftat begangen wurde.

Serafin Dinges: Das Landgericht entscheidet. Die Hausdurchsuchungen waren rechtswidrig. Was die Pfarrer innen da getan haben, sei nicht als strafbare Beihilfe zu einem Vergehen des unerlaubten Aufenthaltes zu bewerten. Die beschlagnahmten Dokumente und Dateien werden also gar nicht gesichtet. Und ein paar Monate später stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ganz ein. Nach mehreren Hausdurchsuchungen ein paar Monaten Angst, ob man nun Verbrecher in ist oder nicht, löst sich der Fall einfach auf. Die Pfarrer innen sind natürlich erleichtert, aber sie sind auch sauer. Wozu das Ganze? Wozu all der Ärger? Um nichts.

Anzeige als Wahlkampfmanöver?

Serafin Dinges:Wir haben die Anwältin Wiebke Otte gefragt. Was wäre ein denkbarer Grund für dieses große Aufgebot mit genau zeitgleich und…

Wiebke Otto Politikmache Abschreckung? Ich kann mir nichts anderes vorstellen. Es gibt keinen anderen Grund. Und weil die Befürchtung bestand, dass die Gewährung von Kirchenasyl Ausmaße annimmt, die der Staat nicht mehr tolerieren wollte.

Serafin Dinges: Diese Wahrnehmung, diese Auffassung, dass es in dem Verfahren eigentlich gar nicht um die Sache selbst gegangen ist. Die hören, wenn ich zum Ersten Mal. Dafür müssen wir noch mal an den Kontext zurückdenken. Es ist ein paar Jahre nach Wir schaffen das. Die Stimmung kippt in Deutschland. Das Kirchenasyl ist einigen in der CDU und noch weiter rechts ein Dorn im Auge. Einige Politikerinnen wollen sich mit harter Hand gegen Asylsuchende profilieren. So auch der Landrat des Rhein Hunsrück Kreises, der CDU Politiker Marlon Breuer, Pfarrer Jochen Wagner.

Jochen Wagner: Er wollte ja dann quasi auch als kandidieren als Ministerpräsident und ist dann in die Ausscheidung oder in das Rennen der CDU gegangen. Für mich sah das alles so aus, als wäre das so so ein Anfahrtsweg, wo er dann noch mal in der Presse ist und das deutlich das deutlich macht. Deswegen fand ich das schon, ich sag mal in Kollateralschaden, dass er das in Kauf nimmt, um die eigene politische Karriere zu pushen, dass da andere unter die Räder kommen.

Serafin Dinges: Eine Anzeige gegen das Kirchenasyl als Wahlkampfmanöver. Hausdurchsuchungen als Abschreckung? Das sind natürlich schwere Vorwürfe. Gerne hätten wir darüber mit Marlon Berger selbst gesprochen, um zu verstehen, was damals seine Motivation war. Aber nach mehreren Anfragen ließ sein Büro mitteilen, dass er kein Interesse daran hat, mit uns über das Thema zu sprechen. Deshalb können wir hier nur die öffentlich bekannten Fakten aufzählen. Mal ein Bruder ist ein Späteinsteiger in. Die Politik war ursprünglich Zahnarzt. Als Landrat des Rhein Hunsrück Kreises macht er sich mit Kompromisslosigkeit in Asylfragen einen Namen. Und während der Corona Pandemie klagte gegen Ausgangsbeschränkungen der Landesregierung, die er als Landrat selbst durchsetzen muss, scheitert damit aber vor Gericht. Auch aus seiner Anzeige gegen die Pfarrer innen macht er kein Geheimnis. Zeitungsberichten zufolge wollte er sogar zuerst das Kirchenasyl polizeilich beenden lassen. Daran wurde er aber durch eine Anweisung des Landes innenministeriums gehindert. Und Gesprächsangebote der Kirchengemeinden hat Breuer nach Aussage der Pfarrer innen abgelehnt. Klar ist auch eure Karriere machen, daraus macht er nie einen Hehl. Ende 2019, kein Jahr nach den Hausdurchsuchungen, gibt er bekannt, dass er Ministerpräsident von Rheinland Pfalz und Vorsitzender der LandesCDU werden will. Mit der Parteispitze sind diese Ambitionen aber nicht abgeklärt. Es kommt zu einer Kampfkandidatur gegen den Parteivorsitzenden, die krachend scheitert. Karriere hat er aber trotzdem noch gemacht. Heute ist er Bundestagsabgeordneter für die CDU direkt gewählt. Wir würden das alles gern ein bisschen besser verstehen. Aber wie gesagt mal ein Bruder möchte sich nicht äußern. Auch sein Nachfolger als Landrat des Rhein Hunsrück Kreises möchte nicht mit uns sprechen. Wir haben versucht, wenigstens offizielle Dokumente anzufragen, aber unsere Anfrage nach dem Landes Transparenzgesetz bleibt unbeantwortet. Nur die Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach antwortet uns, das Ziel der Hausdurchsuchung sei gewesen, Beweismittel für mögliche strafbare Beihilfe Handlungen zum unerlaubten Aufenthalt zu finden. Mit der Kreisverwaltung und dem Landrat Marlon Breuer habe man nur formal kommuniziert, sagt die Staatsanwaltschaft. Sie haben zum Beispiel Akten von der Ausländerbehörde angefordert oder Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Um das also einmal klar zu sagen Wir können nur spekulieren, was den Landrat zu seiner Anzeige bewogen hat und das ist dann Hausdurchsuchungen mit einem Großaufgebot der Polizei gegeben hat. Das war eine eigenständige Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die von einem Richter dann noch abgesegnet werden musste. Und die Staatsanwaltschaft ist bis heute noch überzeugt, dass das Vorgehen gegen die Pfarrer innen nicht unverhältnismäßig war. Auch wenn das Verfahren letztlich ohne großen Kommentar eingestellt wurde. Und das mit der Verhältnismäßigkeit, das sehen die Pfarrer innen ganz anders.

Erschüttertes Vertrauen

Serafin Dinges:Das alles ist jetzt fast sechs Jahre her, aber Sandra Menzel und Joachim Wagner beschäftigt das Thema noch immer. Sie sind beide Menschen mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit. Und für beide ist klar, was da passiert ist. Das war nicht in Ordnung.

Jochen Wagner: Es lässt mich zumindest nicht mehr so leicht glauben, dass das alles neutral ist, was da passiert und nur quasi den neutralen Richtlinien des Gesetzes folgt. Also das würde ich sagen, ist schon erschüttert, weil ich gesehen habe, wie viele Rädchen da ineinandergreifen und was da alles mit reinspielt, so dass ich dann den Eindruck habe, dass das immer neutral ist und dann ist das schon eine Erschütterung, würde ich schon sagen.

Sandra Menzel: Ja, dass man wegen so was wie einem Kirchenasyl als Pfarrer in einer Gemeinde angezeigt werden kann, das fand ich schon ungeheuerlich. Und dass es dann doch noch zu einer Hausdurchsuchung kommt und dass ich das Gefühl gehabt habe, dieser Staat ist eigentlich da, um mich zu schützen und nicht, um solche Aktionen bei mir durchzuführen. Das war eher, glaube ich so das Gefühl, so ein Verlust von von Sicherheit und von Vertrauen in die Justiz. Das war das glaube ich, was mich so erschüttert hat, dass es so was möglich ist, eigentlich aus einem politisch motivierten Akt das so umzusetzen, dass es dann eine rechtliche Relevanz kriegt. Das fand ich ungeheuerlich.

Serafin Dinges: Und am Ende wurde das Ziel vielleicht sogar erreicht Weniger Kirchenasyl durch Abschreckung.

Jochen Wagner Der Zweck wurde insofern erreicht, dass sich jede Kirchengemeinde es sich zwei, dreimal überlegt, ob man so was macht glaubt.

Sandra Menzel: Die Situation 2018 hat schon dazu beigetragen, dass viele Waren, Pfarrer und viele Kirchengemeinden und Presbyter zurückhaltender geworden sind. Und das ist das Ärgerliche, weil das war ja eigentlich genau das Ziel. Ich glaube, es war nie das Ziel, dass es wirklich ein Urteil gab, sondern es war das Ziel, Menschen zu verunsichern. Und das ist ein Stück gelungen.

Serafin Dinges: Die Zahlen jedenfalls gingen deutlich nach unten. Von 1325 Fällen in 2018 auf 855 Fälle. Im nächsten Jahr 2020 sind es sogar nur noch 407 Fälle von Kirchenasyl.

Böse Überraschung zum Ende

Serafin Dinges:Hier sollte diese Podcastfolge eigentlich enden. Aber als wir vor kurzem noch mal mit Sandra Menze telefonieren, erfahren wir Es ist wieder passiert. Sie haben wieder Kirchenasyl gewährt. Und wieder war die Polizei da. Diesmal aber nicht, um sich Daten von Sandra Menzel zu schnappen, sondern den Asylsuchenden selbst. Im Februar hat die Polizei mitten in der Nacht ein Kirchenasyl in wischen Behören gestürmt, um einen Mann abzuschieben. Mohamad, ein 30-jähriger Kurde aus Syrien, der vor zehn Jahren geflohen ist, um dem Wehrdienst in der Armee von Diktator Baschar al Assad zu entgehen.

Sandra Menzel: Also ein syrischer Mann, der schon mehrere Jahre in Dänemark gelebt hat, dort auch Asyl hatte. Und seit letztem Jahr ist es ja so, dass in Dänemark die Anerkennung der syrischen Geflüchteten nicht mehr verlängert wird, weil Dänemark sagt, Syrien ist inzwischen wieder sicher und die Leute können nach Syrien ausreisen.

Serafin Dinges: Dänemark verfolgt seit Jahren einen extrem harten Kurs gegenüber Geflüchteten. Null Asylsuchende lautet das selbst gesteckte Ziel der Regierung. Syrerinnen werden zwar noch nicht aus Dänemark abgeschoben, aber wenn sie nicht freiwillig ausreisen, müssen sie in Gefängnissen ähnlichen Lagern leben. Arbeiten dürfen sie dort nicht. Und wer die Lager längere Zeit verlässt, begeht eine Straftat. Mohamad lebte eigentlich schon seit einigen Jahren in Dänemark, hatte einen Job in einer Fabrik. Auch seine Schwester lebt dort. Aber dann verliert man plötzlich seinen Status und muss in eines der erwähnten Lager.

Sandra Menzel: Und dann, als er nicht freiwillig ausgereist ist, ist er inhaftiert worden. So kann man es sagen, in ein Ausreisecamp. Das darf man zwar so eins zwei Stunden am Tag verlassen, aber man muss halt immer abends wieder kehren. Und dort ist er längere Zeit gewesen, natürlich ohne jegliche Perspektive, weil die Alternative für dieses Camp ist Ausreise nach Syrien und was ihm als Kurde dann ausgereist in so ein Land irgendwie widerfahren würde ist, kann man sich vorstellen. Also er ist ja praktisch desertiert. Also das heißt, es wäre hochgefährlich für ihn, nach Syrien zurückzukehren.

Serafin Dinges: Deswegen ist Mohamad aus Dänemark nach Deutschland geflohen. Seine Asylanträge in Deutschland wurden aber abgelehnt. Und so hat auch er seinen Weg nach Bayern gefunden. Für Sandra Menzel war es erst das zweite Kirchenasyl seit den Vorfällen, die wir in diesem Podcast erzählt haben. Weder wird das BAMF informiert und das zuständige Ministerium in Rheinland Pfalz. In einem ausführlichen Dossier erklärt der Kirchenkreis die Gründe für das Kirchenasyl. Die Kirche argumentiert, in Syrien erwarten Mohamad Gefängnis, Folter, sogar Tod. Und genau wegen solcher Gefahren schiebt auch Deutschland gerade keine Menschen nach Syrien ab. Aber Deutschland schiebt Menschen nach Dänemark ab. Und Dänemark wiederum. Dänemark wolle Mohamad nach Syrien abschieben. Deshalb das Kirchenasyl, damit Mohamad nicht in Syrien getötet wird. Das Kirchenasyl geht einige Wochen gut, aber dann, in der Nacht vom 14. Februar, stürmt die Polizei das Haus, in dem Mohamad untergebracht wurde. Mohamad wird abgeschoben.

Sandra Menzel: Und kurz vor Ablauf der Rücküberstellungsfrist ist in der Nacht nachts um 1:30 diese Abschiebung passiert. Auch in einem Zeitraum, wo normalerweise keine Abschiebungen stattfinden dürfen, also zwischen null und 6:00, soll sowas eigentlich nicht passieren.

Serafin Dinges: Verantwortlich ist dieses Mal der Landrat des Nachbarkreises Neuwied, ein CDU Politiker. Das zuständige Landesministerium weiß ebenfalls Bescheid. Und Sandra Menzel? Die erfährt erst am nächsten Morgen von der Aktion.

Sandra Menzel: Und ich habe das morgen alles gelesen, dachte, was kann ich sein und bin dann hin und dann war es so und äh, also die sind nachts dort rein, haben sich Zugang verschafft und haben mit zig Polizeibeamten es müssen wohl mindestens acht gewesen sein und ziemlich viel Gewalt da aus dem Haus geholt, weil er sich auch gewehrt hat, als er sich versucht hat zu entziehen. Er hat seinen Kopf noch gegen einen Spiegel geschlagen und sich verletzt, so dass er noch ins Krankenhaus gebracht werden musste. Also es kam dann noch ein Rettungswagen, hat ihn ins Krankenhaus gebracht, aber es war nicht so schlimm, dass man die da hätte da behalten müssen. Es wurde dann irgendwie genäht und dann wurde er abgeschoben.

Serafin Dinges: Und jetzt ist Mohamad in Dänemark im Gefängnis. Dass er aus Angst um sein Leben aus dem Abschiebezentrum geflohen ist, das geht dort als Straftat. Er ist nun isoliert. Menschen aus der Kirchengemeinde Büren schicken ihm zwar Briefe. Aber die kommen zurück. In einer Stellungnahme erklärt uns die Kreisverwaltung Neuwied. Hier ist alles mit rechten Dingen zugegangen. In einem vierseitigen Dokument schreibt die Behörde von der. Zitat recht sicheren Bewältigung der. Flüchtlingsfrage. Die dänischen Behörden hätten zugesichert, Mohamad nicht nach Syrien zu überstellen. Und überhaupt sei es der Kirchenkreis gewesen, der sich nicht an die Abmachung mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gehalten habe. In dieser Abmachung steht Wenn das BAMF nach Erhaltung des Dossiers sagt Nein, hier liegt keine unverhältnismäßige Härte vor, dann ist das Kirchenasyl zu beenden. Das BAMF hat also laut dieser Abmachung das letzte Wort. Ob ein Kirchenasyl angemessen ist? Und im Fall von Mohamad fand die Behörde Nein. Und weil der Kirchenkreis das Asyl daraufhin nicht beendet hatte, wäre eine Abschiebung angebracht gewesen. Alles nach Vorschrift. Sandra Menzel: ist anderer Meinung. Sie hat Angst, dass Dänemark bald beginnen wird, nach Syrien abzuschieben. Und sie ist sauer. Sie sagt, das BAMF würde es ohnehin fast immer ablehnen, wenn die Kirche Härtefälle meldet. Aber dass darauf Abschiebungen direkt aus dem Kirchenasyl folgen, das ist neu. Wieder spiegelt sich der asylfeindliche Rechtsruck aus der großen Politik im kleinen Dorf auf dem Hunsrück wieder.

Sandra Menzel: Ganz früher hat man gesagt Oh, schlimm, da gibt es Pushbacks und das muss man unbedingt verhindern. Und da kann man rebellieren, und da regen wir uns auf. Und dann hat man noch gesagt Ja, ja, wir bessern uns, Entschuldigung, Entschuldigungen. Und irgendwann hieß es Na ja, gut, das machen wir halt. Aber so what? Und jetzt hat man festgestellt, da wird absolut auf europäisches Recht gebrochen an den Außengrenzen. Und jetzt sagt man okay, dann passen wir halt die Gesetze an, dann schaffen wir praktisch das Asylrecht ab. Also das ist ja auch das, was die CDU jetzt will. Da ist so ein bisschen eine Zeitenwende, finde ich.

Serafin Dinges: Das Motto könnte man sagen, ist immer noch Wir schaffen das. Nur gemeint ist was anderes Nicht wir schaffen das, Menschen aufzunehmen, sondern Menschen abzuschieben. Als Reaktion nehmen auch die Kirchenasyl wieder zu. 20 23 So viele wie noch nie. 1500. Aber was früher undenkbar war, wird immer mehr zum Alltag. Dass die Polizei Kirchenräume stürmt, um Menschen abzuschieben. In den letzten zehn Monaten gab es bundesweit insgesamt sechs versuchte oder vollzogene Räumungen von Kirchenasyl durch die Polizei. Das ist mehr als in den gesamten zehn Jahren zuvor. Bei einer Räumung war sogar das SEK, das SondereinsatzKommando, im Einsatz in Schwerin. Kurz vor Weihnachten. Wir wollten wissen, wie die weitere evangelische Kirche zu den Entwicklungen steht. Darum haben Ingo und ich kurz vor der Veröffentlichung mit Christian Stäblein telefoniert. Er ist Bischof von Berlin Brandenburg und der Beauftragte der Evangelischen Kirche für das Thema Flucht.

Christian Stäblein: Ich habe bisher ein großes Vertrauen an dieser Stelle in das staatliche Handeln und unsere Übereinkunft. Jetzt häufen sich allerdings die Fälle und wir sind in großer Sorge, dass diese Übereinkunft, die wir da über viele Jahre oder Jahrzehnte gehabt haben, jetzt aufgebrochen wird. Und wir werden alles dafür tun, dass das nicht der Fall ist. Und wir werden die Menschen schützen.

Serafin Dinges: Der Druck auf Geflüchtete und auf das Kirchenasyl nimmt drastisch zu. Aus heutiger Sicht kann man wohl sagen Das Vorgehen gegen die Pastorinnen im Hunsrück, das war nur der Anfang.

Sandra Menzel: Sag mal die Grundsätze oder die Richtlinien, nach denen wir Kirchenasyl durchführen oder die christlichen Grundsätze auch der Nächstenliebe und des Eintretens für fremde Menschen. Das hat sich ja nicht verändert. Meine Theologie hat sich nicht verändert und auch nicht. Ja, die Einstellung christliche Einstellung der Menschen, die Kirchenasyl durchführen, die ist damals genau die gleiche wie heute.

Serafin Dinges: Systemeinstellungen ist eine Produktion von netzpolitik.org, dem Medium für digitale Freiheitsrechte. Host und Producer bin ich Serafin Dinges, Redaktion Anna Biselli, Chris Köver, Ingo Dachwitz und Sebastian Meineck. Titelmusik von Daniel Laufer. Zusätzliche Musik von Blue Dot Sessions und mir. Cover Design Lea Binsfeld fällt besonderen Dank an Lara Seemann und Lena Schäfer. Wenn euch der Podcast gefallen hat, dann freuen wir uns sehr über eine gute Bewertung. Und wenn ihr ihn an Freundinnen weiterempfehlt


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16.05.2024 16:29

Nach der Hängepartie um Ulrich Kelber hat die Ampel-Koalition heute eine neue Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit gewählt. Auf Louisa Specht-Riemenschneider warten zahlreiche Herausforderungen, von der Gesundheitsdigitalisierung bis zur staatlichen Überwachung.

Eine junge Frau mit Brille lächelt in die Kamera. Sie trägt ein dunkles Jacket und ein weißes Hemd.
Louisa Specht-Riemenschneider – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / IPON

Der Bundestag hat heute Louisa Specht-Riemenschneider zur neuen Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) gewählt. Die Zeit drängte, denn in spätestens sechs Wochen würde Ulrich Kelber, der das Amt seit Anfang des Jahres nur noch kommissarisch ausübt, endgültig aus dem Amt scheiden. „Bleiben Sie entschlossen“, mit diesen Worten gratulierte Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt der Juristin zur Wahl.

Specht-Riemenschneider war die einzige Kandidatin, die heute zur Wahl vorgeschlagen war. Nach der für alle Beteiligten äußerst peinlichen Hängepartie um eine mögliche zweite Amtszeit Kelbers, ist den Grünen und der FDP mit dieser Personalie ein kleiner Coup gelungen. Die 39-jährige Professorin erhielt deutlich mehr Stimmen, als die Ampel Mandate hat, wurde also auch Abgeordneten anderer Parteien mitgewählt.

Louisa Specht-Riemenschneider gilt gemeinhin als herausragende Juristin, bestens vernetzt und starke Kommunikatorin. Als Leiterin der Forschungsstelle Datenrecht an der Uni Bonn ist sie nicht nur Expertin für Datenschutz, sondern auch für das Teilen von Daten. So hat sie kein Problem damit, das Innovationspotenzial von Daten zu betonen, hat als Vorsitzende des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen aber auch bei vielen Datenschützer:innen einen Stein im Brett.

Wie viel Pragmatismus verträgt das Amt?

Ein Wort fällt in Regierungskreisen in Zusammenhang mit der neuen BfDI besonders häufig: „pragmatisch“. Damit scheint oft der Wunsch der Regierenden verbunden zu sein, endlich weniger vom Datenschutz gestört zu werden. Leiser soll es zugehen. Digitalisierung first – Sie wissen schon.

Doch wer auf eine handzahme Datenschutzbeauftragte hofft, könnte trotzdem bald enttäuscht werden, das Amt erlaubt qua Definition nur ein gewisses Maß an Pragmatismus. Denn die Bundesregierung lieferte sich mit Amtsvorgänger Kelber ja nicht vor allem deshalb zahlreiche Auseinandersetzungen, weil dieser ein besonders streitbarer Typ ist, sondern weil sie selbst so wenig Wert darauf legte, die rechtlichen Rahmenbedingungen in den Bereichen Datenschutz und Informationsfreiheit einzuhalten.

In der Frage, ob etwa Bundesbehörden angesichts eklatanter Datenschutzmängel überhaupt offizielle Seiten auf Social-Media-Plattformen wie Facebook oder TikTok unterhalten dürfen, hatte Specht-Riemenschneider in der Vergangenheit ähnlich argumentiert wie ihr Amtsvorgänger. Dass sie nun – mitten in einem laufenden Gerichtsverfahren ihres Hauses gegen die Bundesregierung – ihre Meinung ändert, ist unwahrscheinlich.

Baustelle Gesundheitsdaten

Spannender wird, wie sich die neue BfDI in Sachen Gesundheitsdigitalisierung positioniert. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat bekanntlich den Stil seines Amtsvorgängers Jens Spahn übernommen und setzt auf Tempo statt auf Sicherheit und Datenschutz. Die elektronische Patientenakte soll im Januar 2025 für alle Bürger:innen kommen. Im selben Jahr ist der Start des Europäischen Gesundheitsdatenraums geplant.

Abgesehen von den Sicherheitsrisiken und der schlecht funktionierender Hardware-Infrastruktur steht das Vorhaben auch deshalb in der Kritik, weil es die Sorgen vieler Menschen und insbesondere die Verletzlichkeit vulnerabler Gruppen kaum adressiert. Wer die eigenen Daten nicht freigeben will, muss sich künftig aktiv dagegen entscheiden. Das ist ein mächtiger Hebel, um mehr Daten für die medizinische Forschung bereitzustellen. Nicht nur netzpolitik.org-Kolumnistin Bianca Kastl kritisiert diesen Ansatz als „Zentralisierung der Daten bei gleichzeitiger Individualisierung der Risiken“.

Auch Ulrich Kelber hatte diesen Paradigmenwechsel vom Opt-in zum Opt-out gerügt und lag deshalb regelmäßig mit dem Gesundheitsminister über Kreuz. Gerüchten zufolge soll dies einer der Gründe gewesen sein, warum die SPD-Fraktion ihren ehemaligen Kollegen nicht erneut für das Amt vorgeschlagen hat.

Wie beides zusammengeht, ist derzeit offen: eine skalierende Digitalisierung im Gesundheitssektor und gleichzeitig der Schutz von sensiblen Daten und Menschengruppen, ohne einer weiteren Ökonomisierung Vorschub zu leisten.

Baustelle staatliche Überwachung

Louisa Specht-Riemenschneider steht darüber hinaus vor der Herausforderung, die Befugnisse strategisch klug einzusetzen, die ihr Haus im Rahmen neuer EU-Verordnungen wie dem Digital Services Act oder der Verordnung über politische Werbung erhält. Die Datenschutzaufsicht über Unternehmen unterliegt in Deutschland bislang nämlich überwiegend den Landesbehörden. Zentrale Aufgabe der BfDI hingegen ist die Kontrolle von Bundesbehörden, auch solcher wie des BKA und in Teilen auch der Geheimdienste. Auf diesem Feld hat sich die Privatrechtlerin Specht-Riemenschneider bisher kaum geäußert.

Eine starke Stimme wird im öffentlichen Diskurs und in der Beratung der Bundesregierung jedenfalls dringend gebraucht. Da ist die Dauerbaustelle Nachrichtendienstrecht. Auch die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes zur Speicherung von Fluggastdaten hat die Ampel bislang nicht umgesetzt. Und natürlich kann die BfDI weder den Streit zwischen dem Justiz- und dem Innenministerium um die Vorratsdatenspeicherung entscheiden noch den um die Nutzung von Big Data und Diensten wie Palantir durch Polizeibehörden. Aber sie kann und muss die Bundesregierung an die Maßgaben der Verfassungsgerichte erinnern – und im Zweifelsfall stärker als ihre Vorgänger:innen mit Anordnungen gegen unrechtmäßige Datenpraktiken staatlicher Stellen vorgehen.

Die demokratische Kontrolle des Sicherheitsapparates kann mit der rasanten Ausweitung der Überwachungsbefugnisse und den technischen Möglichkeiten der Behörden nach wie vor nicht Schritt halten. Auch die Ampel sieht hier ein Problem. Im Koalitionsvertrag verabredete sie, eine Überwachungsgesamtrechnung durchzuführen und eine Freiheitskommission einzusetzen. Beide Vorhaben kommen aber nur schleppend voran. Die BfDI muss hier Druck machen und sich auch dafür einsetzen, dass beide am Ende nicht zu Feigenblättern verkommen.

Baustelle Informationsfreiheit

Eine weitere Großbaustelle ist die Informationsfreiheit. Denn auch dafür ist Louisa Specht-Riemenschneider zuständig. Ulrich Kelber hatte hier eigene Akzente gesetzt – nicht nur, indem er proaktiv Dokumente veröffentlichte und in seiner Behörde das Prinzip „Acces for one – acces for all“ etablierte. Er legte sich auch mit dem notorisch IFG-feindlichen Innenministerium an und erstritt vor Gericht unter anderem, dass das Haus von Innenministerien Nancy Faeser bei IFG-Anfragen nicht standardmäßig Adressen verlangen darf.

Ausgerechnet dieses Ministerium soll nun ein neues Transparenzgesetz verfassen und damit das in die Jahre gekommene Informationsfreiheitsgesetz ablösen. Das ist ein wichtiges Versprechen aus dem Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien. Doch das Innenministerium schiebt das Vorhaben auf die lange Bank. Zivilgesellschaftliche Organisationen befürchten, dass am Ende – wenn überhaupt – ein Transparenzgesetz herauskommt, das diesen Namen nicht verdient.

An wichtigen Aufgaben für die neue Bundesbeauftragte mangelt es also nicht. Ihre größte Herausforderung aber dürfte es sein, dass die Bundesregierung Datenschutz und Informationsfreiheit wieder mit mehr Prirotität behandelt.


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16.05.2024 15:50

Google will die Anrufe seiner Nutzer:innen scannen, um vor Telefonbetrug zu warnen – und sorgt damit für Entsetzen. Fachleute für Datenschutz warnen: Ist die Technologie erst mal auf dem Gerät, werde das weitere Begehrlichkeiten wecken – mit weitreichenden Konsequenzen für die Demokratie.

Handydisplay zeigt eingehenden Anruf von "No Caller ID"
Telefon-Scam ist ein verbreitetes Problem. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO/Zoonar

Eine Ankündigung von Google versetzt gerade Sicherheitsforscher:innen weltweit in Aufregung. Am Montag hatte der Konzern auf seiner jährlichen Entwicklerkonferenz eine Vorschau auf ein neues Feature gegeben, das bald ins Betriebssystem Android integriert werden soll: Mit Hilfe seines Sprachmodells Gemini will Google Anrufe auf verdächtige Muster scannen, um Nutzer:innen vor möglichem Telefonbetrug zu warnen.

Solche Scam-Anrufe, bei denen sich Kriminelle etwa als Bank-Mitarbeitende ausgeben, um an Zugangsdaten zu kommen, verursachen weltweit großen Schaden. Viele Menschen fallen darauf rein. Google will sie nun mit Pop-up-Hinweisen auf dem Bildschirm davor bewahren: „Wahrscheinlicher Betrug“ soll dort stehen und eine Aufforderung, den Anruf zu beenden.

Das klingt nach einer nützlichen Funktion, die laut Google zudem optional werden soll. Zugleich ist das genau die Art von Ankündigung, bei der Fachleute für Datenschutz aufmerksam werden. Es geht um die Technologie hinter den Warnungen, denn auch wenn Google es nicht so nennt: Es geht um Client-Side-Scanning – das automatisierte Scannen und Rastern von Inhalten in der eigenen privaten Kommunikation auf dem eigenen Gerät.

Türöffner für das Scannen privater Kommunikation

Um die neue Technologie wird derzeit auf politischer Ebene so erbittert gerungen wie um wenig anderes in der EU. Laut Wunsch der EU-Kommission könnte sie zum Einsatz kommen, um auf Geräten nach Darstellungen von sexualisierter Gewalt an Kindern (CSAM) zu suchen, sogar die versuchte Anbahnung von Kontakt zu Minderjährigen soll erkannt werden, um Missbrauch zuvorzukommen.

Apple hat 2021 bereits einen Versuch gemacht, solches Client-Side-Scanning einzuführen und die Konsequenzen zu spüren bekommen. Die Ankündigung, private Fotos in der iCloud auf CSAM zu scannen, hat für so große Empörung gesorgt, dass Apple die Pläne wieder aufgegeben hat. Der Druck aus der Politik auf die Tech-Unternehmen ist jedoch weiterhin immens.

Eine geplante Verordnung der EU, von Kritiker:innen nur Chatkontrolle genannt, hängt derzeit fest, weil sich die Staaten im Rat nicht einigen können. Doch die belgische Ratspräsidentschaft macht weiter Druck.

Bei der Chatkontrolle sollen Anbieter von Kommunikations- und Hostingdiensten auf Anordnung die privaten Bilder, Videos und Nachrichten ihrer Nutzer:innen scannen. Dabei sollen sie Hinweise auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder oder Anbahnungsversuche von Erwachsenen an Minderjährige suchen. Client-Side-Scanning ist eine mögliche Technologie, um das umzusetzen.

Fachleute für Kryptografie und Datenschutz warnen seit Beginn der Initiative vor der Konsequenzen: Ist die Technologie einmal auf den Geräten, kann die private Kommunikation von Millionen von Menschen massenhaft nach beliebigen Inhalten durchsucht werden. Selbst die EU-Datenschutzbehörden bezeichnen das als unverhältnismäßig und warnen vor den Gefahren für die Demokratie, wenn Menschen sich permanent beobachtet fühlten.

Gefährliche Mustererkennung: Erst Telefonbetrug, dann Schwangerschaftsabbruch

Nach der Ankündigung von Google werden erneut die bereits bekannten Stimmen in der Debatte laut. Meredith Whittaker, Chefin des verschlüsselten Messengers Signal, bezeichnet die Pläne als „unglaublich gefährlich“ und verweist darauf, wie schnell weitere kriminalisierte Handlungen mit der gleichen Technologie ins Visier geraten könnten. „Von der Erkennung von ‚Betrug‘ ist es nur ein kurzer Schritt zur ‚Erkennung von Mustern, die üblicherweise mit der Suche nach reproduktiver Versorgung verbunden sind‘ oder ‚die üblicherweise mit der Bereitstellung von LGBTQ-Ressourcen verbunden sind‘ oder ‚die üblicherweise mit dem Whistleblowing von Tech-Mitarbeitern verbunden sind‘.“

Die Sicherheitsforscherin Carmela Troncoso, die Krytografie an der EPFL in Lausanne lehrt, äußert sich ebenfalls entsetzt: „Wir haben wiederholt auf die Gefahren des Client-seitigen Scannens hingewiesen. Dabei geht es nicht um die Erkennung von CSAM. Die Erkennung von Betrug bringt das gleiche Problem mit sich: Es gibt keine Garantie, dass die Technologie nicht missbraucht wird. Dass Google die möglichen negativen Folgen dieser Idee vernachlässigt, ist erschreckend.“

Troncoso ist eine von Hunderten Sicherheits- und Datenschutzfachleuten, die vergangene Woche in einem offenen Brief an die Kommission vor den Konsequenzen der Pläne warnten: Die Anordnungen zum Scannen könnten Millionen von Fehlalarmen pro Tag auslösen. Der Vorschlag schaffe zudem „nie dagewesene Möglichkeiten zur Überwachung und Kontrolle von Internetnutzern. Dies untergräbt eine sichere digitale Zukunft für unsere Gesellschaft und kann enorme Folgen für demokratische Prozesse in Europa und darüber hinaus haben.“


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16.05.2024 12:10

In Deutschland haben seit gut drei Jahren alle ein Recht auf Mindestversorgung mit Internet. Doch erst im März hat die Bundesnetzagentur erstmals einen Netzbetreiber dazu verpflichtet, einen Anschluss herzustellen. Nun scheint sich zu erhärten: Es soll sich um den Satellitenanbieter Starlink von Elon Musk handeln.

Der Anbieter von Satelliteninternet Starlink könnte Lücken in der deutschen Breitbandlandschaft schließen. (Symbolbild) – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Bild: NASA. Bearbeitung: netzpolitik.org

Der Frust ist Dieter Melke* anzumerken. Vor inzwischen vier Jahren, im ersten Pandemiejahr, hat er ein Grundstück im niedersächsischen Mittelstenahe gekauft und dort ein Haus gebaut. Strom und Wasser waren kein Problem, Internet aber schon. Das hat Melke allerdings erst gemerkt, als er einen Anschluss bei der Telekom Deutschland bestellen wollte und abgelehnt wurde: Anders als bei seinen Nachbarn führt zu seinem Haus kein Kabel mit einer Internetverbindung. Ein individueller Anschluss ließe sich zwar herstellen, jedoch auf eigene Kosten. Billig ist das nicht, es kann schnell um Beträge von 20.000 Euro oder mehr gehen.

Der internetlose Zustand soll sich nun bald aber ändern. Im März hatte die Bundesnetzagentur erstmals einen Netzbetreiber dazu verpflichtet, einen Haushalt mit angemessenen Internet- und Telefondiensten zu versorgen – eben diesen im Landkreis Cuxhaven. Grundlage dafür ist das „Recht auf Ver­sor­gung mit Te­le­kom­mu­ni­ka­ti­ons­diens­ten“, das seit dem Jahr 2021 gesetzlich verankert ist. Offenkundig wird es nun damit langsam ernst.

Schon seit Jahren versucht Deutschland, seine marode Infrastruktur aufzumöbeln. Netzbetreiber setzen zunehmend auf zukunftsfestes Glasfaser und wollen laut Verbändeangaben in den nächsten Jahren rund 50 Milliarden Euro dafür in die Hand nehmen. Wo sich der privatwirtschaftliche Ausbau nicht rechnet, helfen milliardenschwere Bundes- und Landesförderungen, die weißen Flecken auf den Ausbaukarten zu schließen. Von denen gibt es immer weniger, für mehr als 95 Prozent der Haushalte sind mittlerweile Anschlüsse mit 50 MBit/s verfügbar.

Dennoch schauen einzelne Haushalte immer wieder in die Röhre – in Gebieten, wo es keine brauchbare Festnetz- oder Mobilfunkanbindung gibt. Dabei muss es sich nicht immer um abgelegene Berghütten handeln, wie ein Blick in sogenannte Feststellungen von Unterversorgungen der Bundesnetzagentur zeigt. Neben Orten in Bayern finden sich auch solche in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen. Meist handelt es sich um Neubaugebiete, die „weder aktuell noch in objektiv absehbarer Zeit angemessen, ausreichend oder zu einem erschwinglichen Endnutzerpreis“ ans Internet angeschlossen sind, wie es in den Bescheiden heißt.

Anspruch auf Mindestversorgung

In solchen Fällen soll der Anspruch auf Internet greifen, wenn auch nur auf niedrigem Niveau. Als Mindestversorgung gelten eine Download-Geschwindigkeit von 10 MBit/s, eine Upload-Geschwindigkeit von 1,7 MBit/s sowie eine Latenz von 150 Millisekunden. Als „erschwinglicher Preis“ haben sich 30 Euro pro Monat herauskristallisiert. Anders gesagt: Wer in einem Gebiet lebt, wo zumindest ein Mobilfunkbetreiber nachweisbar LTE- oder 5G-Geschwindigkeiten für 30 Euro monatlich liefert, gilt als entsprechend versorgt und kann sich einen Antrag sparen.

Mit rund 300.000 betroffenen Haushalten hatte die Bundesnetzagentur im Vorfeld gerechnet, bislang liegt die Zahl der Anträge aber deutlich darunter. In ein paar Dutzend Fällen hat die Regulierungsbehörde mittlerweile tatsächlich eine Unterversorgung festgestellt, noch ohne einen Netzbetreiber zum Ausbau verpflichtet zu haben. Rund 130 weitere Anträge prüft sie derzeit. Das ist ein aufwändiges und langwieriges Verfahren: Bei Ortsterminen werden die „tatsächlichen Sachverhalte“ ermittelt, Leitungen oder Funkstrecken ausgemessen, Berichte geschrieben und in der Region tätige Netzbetreiber gefragt, ob sie nicht vielleicht doch noch ein bisschen mehr ausbauen wollen.

Im Neubaugebiet in Mittelstenahe ließ sich kein Betreiber dafür gewinnen – obwohl dort sogar ein Leerrohr bis zum Haus führt, das beim Bau der Straße neu verlegt wurde, so der betroffene Melke. Damit sei die Gemeinde zwar dem DigiNetz-Gesetz nachgekommen, sagt Ralf Bruns von der Agentur für Wirtschaftsförderung Cuxhaven, die den Breitbandausbau im Landkreis koordiniert. Aber ohne darin eingezogene Kabel liegt diese Infrastruktur nutzlos im Boden.

Telekom muss nicht mehr ausbauen

Grundsätzlich wäre es möglich gewesen, darin ein Kupferkabel zu verlegen, sinnvoll oder gar wirtschaftlich wäre dies aber nicht. „Gebiete mit einer sehr geringen Anzahl von Haushalten sind für die Betreiber nicht attraktiv“, sagt Bruns. Auf Anfrage führt die Telekom Deutschland „wirtschaftliche Gründe“ an, wenn sie ein Neubaugebiet nicht ausbaut. Zwar seien individuelle und maßgeschneiderte Lösungen möglich, aber die „kosten dann mehr“, sagt eine Unternehmenssprecherin. Zur Erschließung ist die Ex-Monopolistin „bereits seit einigen Jahren nicht mehr verpflichtet“, betont die Sprecherin.

Dieses Schicksal droht auch dem halben Dutzend der noch unbebauten Grundstücke im Umfeld, die gerade erschlossen und verkauft werden, warnt Ralf Faber, stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Mittelstenahe. Auch dorthin sollen gesetzeskonform Leerrohre hinführen, aber eben ohne Kabel, bestätigt der Breitbandexperte Bruns. Dies erschwere es den Kommunen, denn zum Ausbau zwingen könne man die Netzbetreiber ja nicht – wenn da nicht das Recht auf Internet wäre, das genau diesen Hebel enthält.

Starlink soll deutsche Breitbandlücken schließen

Letztlich verpflichtet hat die Bundesnetzagentur aber schließlich nicht einen der Betreiber vor Ort, sondern den Satellitenabieter Starlink, sagt Dieter Melke. Der zum Firmenimperium des umstrittenen US-Unternehmers Elon Musk gehörende Anbieter hat in den vergangenen Jahren tausende Satelliten in den erdnahen Orbit geschossen. Seit dem Jahr 2021 versorgt er auch weitgehend flächendeckend Deutschland mit Internet. Augenscheinlich ist der Umweg über den Weltraum billiger, als vorhandene Leerrohre mit Leitungen auszustatten und sie an den nächstgelegenen Kabelverzweiger anzuschließen.

In trockenen Tüchern ist die Angelegenheit aber noch lange nicht. Bis heute steht etwa kein Startdatum fest. Auch scheint nicht restlos geklärt zu sein, wer welche Kosten übernimmt und wie diese konkret verrechnet werden. Derzeit kostet ein Starlink-Anschlusspaket für Privathaushalte, das unter anderem die Satellitenschüssel enthält, rund 500 Euro. Hinzu kommen monatliche Kosten von 50 Euro, von denen Melke aber nur rund 30 Euro im Monat bezahlen müsste.

Neben Melke geben zwei Quellen aus der Industrie gegenüber netzpolitik.org an, dass es sich beim verpflichteten Betreiber um Starlink handeln soll. Zudem dementieren zwei in der Region ausbauende Unternehmen, Telekom Deutschland und EWE, zum Legen einer neuen Leitung verpflichtet worden zu sein. Die zwei weiteren im Landkreis tätigen Netzbetreiber, Vodafone und Deutsche Glasfaser, haben in Mittelstenahe keine eigene Infrastruktur und kommen somit nicht in Frage.

Unklar ist bislang zudem, ob die Geschwindigkeit bei bis zu 250 Mbit/s im Downstream liegen oder sie auf die in der entsprechenden Verordnung genannten Mindestwerte gedrosselt wird. Die Geschwindigkeit werde jedenfalls „nicht toll“ sein, habe ihm die Bundesnetzagentur mitgeteilt, sagt Melke.

Die Regulierungsbehörde will sich wiederum nicht zu sehr in die Karten schauen lassen und möchte vorerst nicht bestätigen, tatsächlich Starlink zur Mindestversorgung verpflichtet zu haben. Aber sie lässt durchblicken, welche Baustellen noch offen sind, beispielsweise Details zum Umlageverfahren. Damit sollen sich Netzbetreiber etwaige Ausbaukosten oder sonstige Aufwendungen zurückholen können, die bei einer Ausbauverpflichtung entstanden sind.

Komplexe Rechnung

„Die Finanzierung einer Mindestversorgung wird durch die gesamte Branche sichergestellt“, erklärt ein Sprecher der Bundesnetzagentur. Ein Finanzierungbeitrag der übrigen Anbieter komme allerdings nur dann in Betracht, wenn das verpflichtete Unternehmen einen Antrag auf Erstattung seines Defizits stellt. Dabei muss das verpflichtete Unternehmen nachweisen, dass ihm unzumutbare Nettokosten entstanden sind. „Damit soll unter anderem sichergestellt werden, dass das Erbringen einer Mindestversorgung zu keinen Verzerrungen im Wettbewerb führt“, so der Sprecher. Das Ergebnis dieser schwierigen Rechnung steht jedoch noch aus. Derzeit sei die Bundesnetzagentur dabei, ebenjene „Grundsätze zur Nettokostenberechnung“ zu entwerfen, sagt der Sprecher.

Wie die Pflicht zur Mindestversorgung aus der Perspektive von Starlink aussieht, ließ sich nicht in Erfahrung bringen. Beispielsweise müsste das Unternehmen wohl ein neues, auf solche Fälle zugeschnittenes Produkt anbieten und es in seinen Systemen abbilden: Zum einen, um es betroffenen Kund:innen anbieten zu können und zum anderen, um sich am Ende des Jahres die Differenz aus dem von der Branche finanzierten Fonds erstatten zu lassen. Allerdings unterhält der Anbieter keine Presseabteilung. Mehrfache Anfragen an den Betreiber des Satellitennetzwerks, das US-amerikanische Raumfahrtunternehmen SpaceX, blieben unbeantwortet.

Sollte die Mindestversorgung über Starlink zum Standard werden, „dann haben sich die ganzen Debatten erledigt“, sagt Andreas Neumann vom Institut für das Recht der Netzwirtschaften, Informations- und Kommunikationstechnologie (IRNIK). Solange in einem sonst mager angebundenen Gebiet ein Mobilfunkprodukt zu einem erschwinglichen Preis und mit ausreichenden Datenraten verfügbar ist, gilt dieses nicht als unterversorgt. Hapert es mit dem Mobilfunk, dann würde eben Starlink zum Einsatz kommen. „Das könnte durchaus State of the Art werden“, spekuliert Neumann.

Letztes Auffangnetz statt Instrument für die Gigabit-Gesellschaft

Ohnehin sei das Recht auf Internet „ein reines Auffangnetz, um soziale Teilhabe zu ermöglichen“, sagt der Experte für Telekommunikationsrecht. Es sei „kein Instrument für die Gigabit-Gesellschaft“ und soll es auch nicht sein. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) sieht es ebenfalls als Mittel für die „Daseinsvorsorge“, das auf geringere Download- und Upload-Geschwindigkeiten abziele, und grenzt es von der Gigabitförderung sowie vom neuen Lückenschluss-Pilotprojekt ab. Gesetzlich sei es immer schon konzipiert worden, um „basale Bedürfnisse“ zu befriedigen, mehr aber nicht, sagt Neumann.

Bei dieser Notlösung soll es zumindest im Landkreis Cuxhaven nicht dauerhaft bleiben. Beachtliche 80 Prozent des Gebiets seien heute schon mit Glasfaser versorgt, sagt der Ausbauexperte Ralf Bruns. Die verbliebenen weißen und grauen Flecken soll in den kommenden Jahren unter anderem staatlich geförderter Ausbau erschließen, die entsprechenden Förderbescheide sind bereits bewilligt. „Mit dem Projekt machen wir den Rest, dann sind wir bis 2030 bei 99 Prozent plus“, sagt Bruns.

Der lange Zeitrahmen ergibt sich aus der Größe des Projekts: Es handelt sich um den zweitgrößten Flächenlandkreis in Niedersachsen, fast so groß wie das Saarland. Rund 11.500 Adressen sollen Bruns zufolge über das Wirtschaftlichkeitslückenmodell mit zukunftsfesten Glasfaserleitungen ausgestattet werden. Auch in Mittelstenahe, das derzeit nur über VDSL angebunden ist und wo die letzten Meter noch über Kupferkabel abgewickelt werden – wenn sie denn schon im Boden liegen.

„Beim Tempo noch Luft nach oben“

Doch bis dahin müssen sich Dieter Melke und andere Betroffene im Bundesgebiet mit der Mindestversorgung begnügen. Trotz der teils nachvollziehbaren Anlaufschwierigkeiten sieht etwa Maik Außendorf „beim Tempo noch Luft nach oben“, sagt der digitalpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. „Für diese Gegenden muss nun zeitnah eine verbraucherfreundliche Lösung gefunden werden“, sagt Außendorf.

Zugleich seien Satellitenlösungen aber ein geeignetes Mittel für Sonderfälle und Übergangszeiten, solange sie erschwinglich sind und die Mindestanforderungen erfüllen. Beim Anbieter des erratischen Elon Musk sollte es allerdings nicht bleiben: „Perspektivisch hoffe ich auf einen europäischen Anbieter für Satellitenkommunikation“, sagt Außendorf. Kurzfristig wird es einen solchen aber nicht geben, auch die von der EU geplante IRIS²-Konstellation hat mit Verzögerungen und Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen.

Offen bleibt bis auf Weiteres, als wie rechtssicher sich die gesetzlichen Regelungen erweisen werden. Zur Mindestversorgung verpflichtete Netzbetreiber könnten sich gerichtlich dagegen wehren, meint der Breitbandexperte Neumann. Auch lasse sich noch nicht abschätzen, ob die Entgeltgrundsätze einer etwaigen gerichtlichen Überprüfung standhalten werden, so Neumann.

Noch kein Gerichtsverfahren

In zumindest einem Punkt kann die Regulierungsbehörde gegenwärtig Entwarnung geben: An Gerüchten, der in Niedersachsen verpflichtete Betreiber sei deswegen vor Gericht gezogen, sei nichts dran: „Der Bundesnetzagentur ist nicht bekannt, dass die Verpflichtungsentscheidung aus März 2024 angefochten worden wäre“, teilt der Sprecher mit.

Wann genau der Anschluss von Melke tatsächlich funktionsfähig sein wird, bleibt ebenfalls offen. „Sofern gesetzlichen Fristen vollständig ausgeschöpft werden, ist eine Versorgung in der Regel innerhalb von sechs Monaten nach einer Verpflichtung zu erbringen“, heißt es von der Bundesnetzagentur. Das wäre in dem Fall Mitte September. Indes wirke die Behörde darauf hin, dass „ein Diensteverpflichteter eine Grundversorgung bereits vor Fristablauf erbringt.“

Verhältnismäßig geduldig gibt sich bislang jedenfalls Dieter Melke, trotz allen Frustes. Im Unterschied zur Gemeinde, von der er nur wenig Unterstützung erhalten haben soll, fühlt er sich bei der Bundesnetzagentur gut aufgehoben. „Alle zwei Wochen ruft mich ein Mitarbeiter an und informiert mich über den aktuellen Stand“, sagt Melke. Gut drei Jahre nach dem Stellen des Antrags dürfte es auf die paar Monate nun nicht mehr ankommen.

*Name geändert


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16.05.2024 11:49

Die EU hat in den letzten Jahren eine ganze Liste an großen Digitalgesetzen fertiggestellt. Bei einigen gab es aber bis zum Torschluss kein Ergebnis, etwa zur Chatkontrolle oder zum Digitalen Euro. Bei manchen Gesetzen müssen nun die Mitgliedstaaten nachziehen, bei anderen die Kommission richtig umsetzen.

Ein Baukran vor einer Stadtlandschaft, dahinter ein Sonnenuntergang.
Die (erste) Kommission von der Leyen lässt einige unfertige Projekte zurück. – Public Domain Carlo Martin Alcordo

Wenn im Sommer nach der Wahl die Abgeordneten des neuen Europäischen Parlaments ihre Büros betreten, dann werden dort Papierstapel auf sie warten. Denn anders als in Deutschland setzt eine Wahl die laufenden Gesetzgebungsverfahren nicht auf Null zurück: Wenn ein Gesetz nicht fertig geworden ist, dann laufen die Verhandlungen einfach weiter.

Und es wird noch an einigen Projekten gefeilt. Das Parlament selber zählt 119, es geht aber nur bei einigen davon um digitale Themen. Einige großen Brocken – die Gesetze zu digitalen Diensten und digitalen Märkten oder die KI-Verordnung – haben Kommission, Rat und Parlament über die Ziellinie gebracht, in mehr oder weniger gutem Zustand. Andere Vorhaben sind momentan aber noch wenig mehr als eine Idee oder sie stecken auf absehbare Zeit erst einmal fest.

Ohne Rat keine Chatkontrolle

So etwa bei der allseits beliebten Chatkontrolle. Das Vorhaben, mit dem private Chats durchleuchtet werden sollen, hängt bei den EU-Mitgliedstaaten. Die können sich seit zwei Jahren nicht auf eine gemeinsame Position einigen. Hardliner wollen nah an der Position der Kommission bleiben, doch selbst ihr eigener Juristischer Dienst hält deren Vorschlag für illegal.

Andere Staaten, darunter Deutschland und Österreich, blockieren. Sie wollen zumindest, dass nur irgendwie begrenzte Teile der Bevölkerung überwacht werden dürfen. Das Parlament hat sich schon im November auf einen abgeschwächten Entwurf geeinigt, der umfangreiche Kontrollen für die Chatkontrolle vorsieht. Solange der Rat sich aber nicht einigt, können die abschließenden Trilogverhandlungen nicht starten. Dass das in absehbarer Zeit geschieht, scheint aber momentan eher unwahrscheinlich.

Gesetz für den Digitalen Euro verzögert

Ein anderes Vorhaben steckt weniger fest, als dass es langsam vor sich hindümpelt: der Digitale Euro. Die EU will mit dem Digitalen Euro eine europäische Alternative zu Internet-Zahlungsanbietern wie Paypal, Visa oder Mastercard schaffen. Diese soll, im Gegensatz zu den bestehenden kommerziellen Angeboten, nicht ständig Daten sammeln und verkaufen. Außerdem soll der Digitale Euro im gesamten Euroraum funktionieren, wo es momentan noch oft zwischen nationalen Angeboten hakt.

Soweit der Plan. Die Europäische Zentralbank werkelt an der praktischen Umsetzung, es braucht aber auch ein Gesetz. Die Kommission hat im vergangenen Sommer ihren Entwurf dafür vorgestellt, seitdem ist nicht mehr viel passiert. Rat und Parlament lassen sich Zeit damit, ihre Standpunkte fertigzustellen – wie bei der Chatkontrolle geht es aber ohne sie nicht weiter. Im Parlament hat der Ausschuss für Wirtschaft und Währung in den letzten Monaten vor der Wahl noch einige große Themen abgearbeitet, der Digitale Euro war nicht darunter. Es wird sich zeigen, ob das Projekt nach der Wahl mehr Fahrt aufnimmt. Wirklich als Zahlungsmittel eingeführt wird der Digitale Euro laut aktuellen Plänen sowieso nicht vor 2028.

KI-Haftung und Infrastruktur

Eins der großen digitalen Projekte der letzten fünf Jahre war die europäische Verordnung zu Künstlicher Intelligenz. Die ist inzwischen, nach langem Rumverhandeln, endgültig fertig und regelt grundlegende Fragen beim Umgang mit KI: Was ist verboten, was ist erlaubt? Neben der KI-Verordnung hatte die EU in den letzten Jahren aber noch ein zweites KI-Gesetz in der Mache, das eine viel wichtigere Frage klären soll: Wen kann ich verklagen?

Die Rede ist von der KI-Haftungsrichtlinie. Die soll regeln, wer bei Problemen mit KI-Anwendungen vor Gericht für welche Schäden verantwortlich ist. Gerichte sollen Anbieter etwa dazu zwingen können, mehr Informationen über ihre Anwendungen offenzulegen. Wenn eine Anwendung nicht nach den Regeln der KI-Verordnung entwickelt wurde, dann wird der Anbieter bei einer Klage eher für die Schäden aufkommen müssen. Dieses vor Adrenalin tropfende Gesetz wurde fürs Erste auf Eis gelegt, um das Ergebnis der Verhandlungen zur KI-Verordnung abzuwarten – sinnvollerweise. Nach der Wahl dürfte es hier weitergehen.

Wird die E-Privacy-Verordnung endlich beerdigt?

Noch nicht einmal einen ersten Entwurf gibt es für ein Gesetz, das zumindest Binnenmarktkommissar Thierry Breton im Bereich Telekommunikation plant: das Gesetz zu digitalen Netzwerken. Breton hat hier im März ein Weißbuch vorgelegt, das verbleibende Barrieren für einen europäischen Telekom-Sektor ausräumen will. Ob und wie darauf ein Gesetz folgt, dürfte davon abhängen, wie viel Macht Breton in der nächsten Kommission noch hat.

Wie es aussieht, wenn ein Vorhaben für ein neues Gesetz vollständig verkümmert, zeigt die E-Privacy-Verordnung. Sie soll eigentlich Kommunikation sicherer machen und Cookies und Spam klarer regeln. Das Vorhaben drehte zwischen 2017 und 2021 immer neue Runden im Rat, weil sich die Mitgliedstaaten nicht einig werden konnten. Danach haben Parlament und Rat kurz verhandelt – bis der Rat weiter blockierte. Das tut er bis heute. Die nächste Kommission könnte den Vorschlag zurückziehen und so den Weg für einen neuen Anlauf frei machen.

Umsetzung wird wichtig

Neben all diesen neuen und noch geplanten Gesetzen ist aber auch klar: In den nächsten fünf Jahren wird entscheidend, wie gut die EU ihre Regeln umsetzen kann. Bei der Datenschutz-Grundverordnung gab es dabei einige Probleme, besonders mit der irischen Datenschutzbehörde. Hier bessert die Union gerade nach: In Zukunft soll der Europäische Datenschutzausschuss einspringen können, wenn eine nationale Behörde zu lange untätig bleibt. Vielleicht wird ein solches Nachbessern auch bei anderen Gesetzen in den nächsten Jahren noch einmal nötig.

Bis dahin wird bei der KI-Verordnung wichtig sein, wie gut die Kommission ihr KI-Büro besetzen kann. Das soll Europas Fähigkeiten zu Künstlicher Intelligenz bündeln und überwachen, wie gut das Gesetz eingehalten wird. Die bisherige Arbeit der Teams für digitale Dienste und digitale Märkte gibt dabei Anlass zu Hoffnung.

Bei vielen anderen Gesetzen liegt der Ball nun bei den Mitgliedstaaten. Für die europäische digitale Identität und den Europäischen Gesundheitsdatenraum müssen sie Infrastruktur aufbauen, andere Gesetze noch einmal auf nationaler Ebene selber schreiben. Das ist etwa bei den Gesetzen gegen Einschüchterungsklagen und zu Plattformarbeit der Fall. Hier werden nationale Regierungen in den nächsten Jahren bisherige Versprechen einlösen müssen, für mehr Pressefreiheit und für bessere Arbeitsbedingungen.


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15.05.2024 18:35

Die großen Telekommunikationsanbieter wollen das Online-Verhalten von Millionen Mobilfunknutzer:innen auswerten und so dem Silicon Valley bei der Online-Werbung das Wasser abgraben. Der Verein D64 klärt über die neue Tracking-Methode auf und äußert weitreichende Kritik.

Fotoaufnahme, die einem Menschen über die Schulter auf ein Smartphone schaut, dessen Display in der Sonne reflektiert.
Utiq ist eine neue Methode zum Tracking von Mobilfunknutzer:innen – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Manuel Iallonardi

Telefonanbieter wollen im großen Stil das Surfverhalten von Mobilfunknutzer:innen in Deutschland auswerten. Die Konzerne Deutsche Telekom, Telefónica/o2, Vodafone und Orange haben zu diesem Zweck die Tracking-Firma Utiq als gemeinsames Tochterunternehmen gegründet. Davor warnt der digitalpolitische Verein D64 heute in einer umfassenden Stellungnahme [PDF]. In der begleitenden Pressemitteilung bezeichnet der Verein Utiq als „Big Brother made in Germany“.

Das neue Tracking-Verfahren nutzt das Wissen der Telekommunikationskonzerne darüber, wem welcher Internetanschluss gehört, um Websites und Online-Werbung zu personalisieren. Die Methode wird von den Machern bewusst als europäische und datenschutzfreundliche Alternative in der AdTech-Branche positioniert. „Utiq ist der authentische Einwilligungs-Service, der verantwortungsvolles digitales Marketing ermöglicht.“

D64 ist mit diesem Framing gar nicht einverstanden. In der heute veröffentlichten Stellungnahme nimmt der Verein die Funktionsweise von Utiq genau unter die Lupe und äußert zahlreiche Kritikpunkte. Unter anderem warnt D64 vor der Entstehung eines neuen Überwachungsmonopols, das auch von Kriminellen und Geheimdiensten missbraucht werden könnte.

Telefonanbieter ordnen Nutzer:innen Werbe-IDs zu

Nach Angaben von Utiq ist der Dienst aktuell auf 64 deutschen Websites eingebunden. Darunter große Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, das Handelsblatt, die Hamburger Morgenpost und Medien der Ippen Gruppe.

Die Mobilfunkanbieter haben gegenüber dem herkömmlichen Tracking mit Cookies einen besonderen Vorteil: Während jenes darauf basiert, dass zur Wiedererkennung kleine Dateien auf den Geräten der Nutzer:innen gespeichert werden, die gelöscht werden können, sehen Telekom und Co. genau, wer welche Website besucht und wissen, wem welcher Internetanschluss gehört. Stimmen die Nutzer:innen zu, wird ihr Verhalten getrackt und sie können bei späteren Besuchen der ursprünglichen Webseite oder auch anderer Webseiten, die den Tracking-Service von Utiq nutzen, wiedererkannt werden.

Die genaue Funktionsweise von Utiq beschreibt D64 so:

Als Tochter von vier der größten europäischen Telekommunikationsanbietern greift Utiq auf die Mobilfunk-IDs von potenziell hundert Millionen Kund:innen in ganz Europa zu. Über ein pseudonymisierendes Verfahren wird aus den IDs eine neue Kennung. Über diese neue Kennung können Werbetreibende Webseiten-Besucher:innen identifizieren und auf anderen Webseiten mit personalisierter Werbung ansprechen. Auch ist es über die Utiq-Kennung möglich, Websites zu personalisieren, also bspw. Kund:innen in Webshops bestimmte Artikel anzuzeigen, die zu ihrem bisherigen Surf-Verhalten passen.

Praktisch bedeutet das: Wenn man als Kunde von Vodafone, o2 oder der Telekom mit dem Smartphone eine teilnehmende Website besucht, übermittelt Utiq die IP-Adresse an den Telefonanbieter. Dieser ermittelt anhand der IP-Adresse die Anschlussinhaber:innen und erstellt eine Advertising-ID, also eine gleichbleibende pseudonyme Kennung, die Utiq als „Network Signal“ bezeichnet. Anhand dieser Kennung werden die Nutzer:innen dann wiedererkannt, auch wenn sie zum Beispiel ein anderes Gerät nutzen sollten. Utiq kann so umfassende Profile der Nutzer:innen erstellen, die entweder genutzt werden, um Werbung auf sie zuzuschneiden oder Websites zu personalisieren. Die Werbe-ID bleibt für 24 Stunden gültig, die Kennung für die Personalisierung von Websites 90 Tage.

Auf Anfrage von netzpolitik.org betont Utiq, dass die bgrenzte Lebensdauer der IDs ein „wesentliches Alleinstellungsmerkmal von Utiq“ sei. Dies habe zur Folge, „dass mit unserer Technologie keine umfassenden Aktivitäts- oder Verhaltensprofile von Nutzern über einen längeren Zeitraum erstellt werden können.“ Mit den IDs könnten zudem nur die Surfaktivitäten eines Nutzers auf einer begrenzten Anzahl von Websites gesammelt werden, die von demselben für die Datenverarbeitung Verantwortlichen betrieben werden.

Ergänzung zu herkömmlichem Tracking

„Nutzer:innen von Online-Diensten ist die zentralisierte Sammlung und Verwertung ihrer Daten meist nicht bekannt“, warnt D64. Dabei haben Nutzer:innen bei Utiq eigentlich die Möglichkeit, der Datennutzung durch ein globales Opt-Out zu widersprechen. Hierfür bietet das Unternehmen ein zentrales ConsentHub an. Doch viele Nutzer:innen würden das Einwilligungsbanner von Utiq für ein weiteres, normales Cookie-Banner halten. Dabei hat die Utiq-Einwilligung weitgehende Konsequenzen, ermöglicht sie doch die Auswertung des Online-Verhaltens über Websites und Geräte hinweg.

Von der Funktionalität her stellt Utiq keinen großen Unterschied zum aktuellen Ökosystem der Online-Werbung dar. Erst im vergangenen Jahr hatten wir gemeinsam mit TheMarkup enthüllt, dass die Tracking-Industrie Menschen auf Basis ihres Verhaltens in hunderttausende Kategorien einsortiert. Dahinter steckt ein undurchsichtiges Netzwerk tausender Firmen, die die Daten sammeln, aggregieren und untereinander handeln. Dominiert wird diese Welt von Google und Meta, schon länger arbeiten die großen Tech-Konzerne aus den USA daran, die Zahl der Akteure in der AdTech-Welt zu reduzieren.

Die Identifikationslösung von Utiq sei deshalb keine Alternative, sondern eine Ergänzung zu herkömmlichen Tracking-Mechanismen, stellt D64 klar. Weil gewohnte Methoden zur Verfolgung von Online-Aktivitäten wie Google Analytics oder Werbe-Cookies zunehmende reguliert und durch Nutzer:innen blockiert würden, werde das Tracking von Nutzer:innen immer schwieriger. In diese Lücke stoßen die Telekommunikationsunternehmen nun vor, indem Utiq „das Tracken von hundert Millionen potenziellen Werbekund:innen über deren Mobilfunk-IDs übernimmt und automatisiert das Auktionieren und Verteilen der Werbebanner vornimmt“.

Der Gründung von Utiq war 2022 eine längere Testphase unter dem Namen TrustPid vorausgegangen. Dass Tracking-Verfahren wurde von Kritiker:innen zwar als Super-Cookie bezeichnet, weil es eine umfassende Auswertung des Verhaltens ermöglicht. Doch der Bundesdatenschutzbeauftragte hatte dem Verfahren – wenn auch mit Bauchschmerzen – grünes Licht gegeben. Zu den Kritikppunkte gehörte etwa, dass Utiq sicherstellen muss, dass Internetnutzer:innen nicht anhand ihrer pseudonymen Werbe-IDs reidentifiziert werden können. Das Unternehmen betont, diese Kritikpunkte gelöst zu haben. Am 10. Februar 2023 hatte die Europäische Kommission die Gründung des neuen Ad-Tech-Joint-Ventures genehmigt.

Alles steht und fällt mit der Einwilligung

D64 kommt in der Analyse zu dem Schluss, dass Utiq im Vergleich zum aktuellen Status Quo bei der Online-Werbung zwar tatsächlich einige Verbesserungen mit sich bringe, insgesamt aber trotzdem problematisch sei.

Das fängt mit der zentralen Voraussetzung für das Tracking an: der Einwilligung der Nutzer:innen. D64 begrüßt hier etwa, dass das ConsentHub zur Verwaltung bereits erteilter Zustimmungen verständlich gestaltet wurde und dass Utiq beim Einholen der Einwilligung nicht auf Dark Patterns setzt. „Der Informationstext des Banners verwendet jedoch ein sehr positives Framing, wodurch unerfahrenen Nutzer:innen nicht klar sein könnte, dass Utiq, ebenso wie andere Tracking-Verfahren, der Profilbildung und Nachverfolgung des eigenen Online-Verhaltens dient“, kritisiert die NGO. Gegenwärtig mangele es zudem noch an detaillierteren Darstellungen der gesamten Datenverarbeitung. Das wäre nötig, damit Nutzer:innen die Funktionsweise von Utiq nachvollziehen können. Hierfür fordert D64 ein umfassendes Datenflussdiagramm.

Problematisch findet D64 zudem, dass Nutzer:innen, die Utiq schon einmal eine Absage erteilt haben, trotzdem erneut nach der Einwilligung gefragt werden. Ein zentraler Opt-Out könnte so versehentlich durch einen Opt-In auf einer Website überschrieben werden. Darüber hinaus kritisiert D64, dass eine getätigte Opt-out Entscheidung nach einem Jahr erlischt und dann erneuert werden muss.

Auf Anfrage von netzpolitik.org widerspricht Utiq dieser Darstellung: „Im Gegenteil, zwei der Hauptmerkmale von Utiq sind die Zugänglichkeit der Informationen, die den Nutzern über die Art und Weise der Verwendung ihrer Daten gegeben werden, wenn sie der Aktivierung von Utiq auf einer bestimmten Website zustimmen, sowie die Tatsache, dass diese Informationen umfassend und lesbar sind.“ Unter anderem verpflichte man Websites dazu, standardisierte Infotexte und faire Einwilligungsbanner zu nutzen. „Es ist immer ein Spagat, einerseits so detailliert wie möglich zu beschreiben und andererseits so, dass auch Menschen ohne weitere Kenntnisse verstehen können, wozu sie ihre Zustimmung geben.“

Attraktiv für Kriminelle und Geheimdienste?

Grundsätzliche Bedenken hat D64 auch, weil der Tracking-Mechanismus auf der Infrastruktur der Netzbetreiber beruht. Positiv daran sei zwar, dass es sich hier mit Ausnahme von Vodafone und im Unterschied zu global verteilten Data Brokern um wenige Telekommunikationsunternehmen mit Sitz in der EU handelt und damit die Durchsetzung der DSGVO leichter möglich sei. „Mit der Erweiterung des Geschäftsbereichs großer europäischer Telekommunikationsunternehmen geht jedoch die Problematik einher, dass eine weitere Zentralisierung in der bereits von Monopolen geprägten digitalen Wirtschaft stattfindet.“ Somit finde eine weitere Konzentration der unter der Kontrolle einzelner Akteure statt.

Schlussendlich betont der Verein auch das Missbrauchsrisiko. Die von Utiq erstellt umfassende Sammlung der von den Nutzer:innen in den letzten 90 Tagen besuchten Webseiten sei nicht nur für Werbetreibende, sondern auch für Cyberkriminelle und Strafverfolgungsbehörden interessant. „Kann ein Dritter auf die bei Utiq und dem Telekommunikationsunternehmen gespeicherten Daten zugreifen, sei es durch einen rechtswidrigen Angriff oder auf Basis einer behördlichen Anordnung, ließe sich das pseudonyme Network Signal auf die Anschlussinhaber:innen zurückführen. Die nur für Werbezwecke gedachte und pseudonyme Datensammlung würde so eine umfassende Auskunft über die Internetaktivitäten einer Person ermöglichen, mithilfe derer sich ein umfassendes Persönlichkeitsprofil mit intimen Details erstellen lässt.“

Auf Anfrage von netzpolitik.org betont Utiq, dass der Tracking-Mechanismus auf Dezentralisierung und das Prinzip der Datenminimierung setze. Das bedeute, dass keine Partei alle Daten habe und diese nur nach dem „Need to know“-Prinzip geteilt würden. Utiq habe beispielsweise keinen Zugang zu personenbezogenen Daten der Mobilfunkanbieter, sondern erhalte von diesen lediglich die pseudonymen Kennungen der Nutzer:innen. Auf eine Datenanfrage von Sicherheitsbehörden könne Utiq deshalb gar nicht antworten, „da wir keine detaillierten Browsing-Profile führen und auch keine Personen wieder identifizieren können, da wir in keiner Phase des Prozesses irgendwelche Informationen oder Methoden zur Re-Identifizierung erhalten“.

Alles in allem, so das Fazit von D64, sei trotzdem zweifelhaft, ob das Internet zu einem besseren Ort werde, wenn Nutzer:innen in Zukunft ein weiteres Einwilligungsbanner wegklicken müssen. Für den Schutz der Privatsphäre im Internet wäre es stattdessen erforderlich, so D64, dass sich echte Alternativen zum permanenten Tracking im digitalen Raum durchsetzen, beispielsweise kontextbasierte Werbung.


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15.05.2024 17:40

Die Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft sollte 5000 Mobilfunkmasten errichten und den Funklöchern in Deutschland ein Ende bereiten. Vier Jahre später ist das Projekt selbst am Ende – und kein einziger Mast in Betrieb.

Mann mit Brille und offenem Mund
Andreas Scheuer hatte das Funklochamt ins Leben gerufen. (Archivbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Sven Simon

Von Anfang an stand die vom ehemaligen Verkehrs- und Digitalminister Andreas Scheuer (CSU) ins Leben gerufene Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft (MIG) unter keinem guten Stern. Jetzt beendet die Ampelkoalition das Projekt zum Jahresende aus Wirtschaftlichkeitsgründen. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Unionsparteien hervor, über die Heise Online berichtet hat.

In den knapp vier Jahren seiner Existenz hat das Funklochamt, wie die Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft auch spöttisch genannt wurde, gerade einmal zwei Funkmasten errichten lassen, von denen heute aber noch kein einziger in Betrieb ist. Das Bauen von Funkmasten war aber genau die Idee hinter der Gesellschaft gewesen. Bis zu 5.000 Mobilfunkmasten mit einem Budget von 1,1 Milliarden Euro sollten in sogenannten „weißen Flecken“ mit staatlicher Hilfe errichtet werden. So hieß es zumindest in einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI), die heute nicht mehr verfügbar ist.

Doch nach der Gründung Anfang 2021 lief alles erst einmal ganz langsam. Es dauerte fast ein halbes Jahr bis die Gesellschaft, übrigens eine Tochtergesellschaft der skandalumwitterten Toll Collect, die ersten beiden Stellen besetzt hatte. Bis dahin hatte Andreas Scheuer schon mehr als 200.000 Euro für externe Beratung rund um das Funklochamt ausgegeben. Ein paar Monate später kam dann heraus, dass die Stellenbesetzung drei Mal teurer als geplant war, es hagelte zudem Kritik vom Bundesrechnungshof. Laut dem Bericht bei Heise hat das Funklochamt es bis heute immerhin geschafft, 70 der geplanten 100 Stellen zu besetzen, was allerdings auch nicht dabei half, im größeren Stil den Bau von Mobilfunkmasten umzusetzen.

Kein einziger Mast in Betrieb

Die erste Förderung beschloss das Funklochamt übrigens für einen Funkmasten im Wahlkreis des scheidenden CSU-Ministers. Das hatte damals Benedikt Becker vom Stern entdeckt. Andi Scheuer postete diese Neuigkeit stolz auf Instagram. In einer Pressemitteilung aus dem „Neuigkeitenzimmer“ des Bundesverkehrsministeriums hieß es damals:

Das Gebiet rund um Wegscheid ist förderfähig und hat ein besonders hohes Versorgungspotenzial. Die MIG hat festgestellt, dass dort aktuell mehr als 17 km² und 200 Haushalte unterversorgt sind.

Mit Wegscheid wurde am Nikolaustag 2021 ein erster Standort für das Förderprogramm festgelegt. Der Bundesminister sprach von einer „Deutschlandpremiere bei Mobilfunkförderung“. Man schaffe „mehr Anschluss, mehr Lebensqualität und mehr Digitalisierung für Familien, Unternehmen und Tourismus – kurz: für jeden Einzelnen“. In Andi Scheuers Wahlkreis.

Gebaut wurde aber selbst das Scheuersche Abschiedsgeschenk von der Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft offenbar nie: Die einzigen jemals gebauten Funkmasten stehen bei Cham und im Landkreis Soest. Inzwischen hat sich Scheuer aus der Politik verabschiedet – er wird vermutlich Unternehmensberater.


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15.05.2024 14:41

Ein Online-Dienst reagiert notorisch nicht auf Widerspruch, ist intransparent bei der Werbung oder versucht mit manipulativen Dialogen die Abo-Kündigung zu verhindern? Für solche Fälle gibt es nun eine neue Beschwerdestelle der Bundesnetzagentur, an die sich Menschen wenden können.

Zwei Fußballer best Heeren sich bei Schiedsrichtern.
Verbraucher beschweren sich beim Digital Service Coordinator (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Shutterstock

Die Bundesnetzagentur hat im Rahmen des Digitale-Dienste-Gesetzes eine neue Beschwerdestelle eingerichtet. Die Behörde ist mit Inkrafttreten des Digitale-Dienste-Gesetzes von nun an „zentraler Koordinator für Digitale Dienste in Deutschland“.

Als sogenannter Digital Services Coordinator überwacht die Bundesnetzagentur, dass Online-Dienste die neuen Regeln des Digital Services Act (DSA) einhalten. Bei systematischen und regelmäßigen Verstößen kann sie Zwangs- und Bußgelder gegen Plattformen und Dienste verhängen, bei in Deutschland ansässigen Unternehmen können die Bußgelder eine Höhe von bis zu sechs Prozent des Jahresumsatzes haben.

Im Rahmen dieser Aufgabe gibt es nun auch eine zentrale Beschwerdestelle, bei der Bürger:innen Hinweise auf Verstöße gegen das Digitale-Dienste-Gesetz geben können. Auf der Beschwerdeseite macht die Behörde gleich mehrfach klar, dass sie keine einzelnen Inhaltelöschungen oder ähnliches veranlassen kann und dafür auch nicht zuständig ist. Vielmehr geht es bei den Beschwerden um systematische und regelmäßige Verstöße von Online-Diensten.

Welche Regeln für Online-Dienste jetzt in Kraft treten

Beschwerdegründe sind laut der Behörde beispielsweise, „wenn User illegale Inhalte bei Online-Anbietern nicht leicht melden können, Anbieter ihre Entscheidung über Löschung oder Nicht-Löschung nicht nachvollziehbar begründen oder wenn sie den Usern keine Informationen über die angezeigte Werbung zur Verfügung stellen“.

Im Beschwerdeformular lassen sich die Gründe auswählen, die alle im DSA geregelt sind:

  • Probleme mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte (Melde- und Abhilfeverfahren) bei der Online-Plattform
  • Probleme im Umgang mit Beschränkungen von Accounts/Inhalten/Diensten
  • Probleme mit der Kontaktmöglichkeit oder dem gesetzlichen Vertreter der Online-Plattform
  • Probleme mit den allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB)
  • Probleme bei der außergerichtlichen Streitbeilegung
  • Probleme beim Schutz vor missbräuchlicher Nutzung
  • Probleme beim Online-Schutz Minderjähriger
  • Probleme durch irreführende und manipulative Aufmachung des Dienstes (Dark Pattern)
  • Probleme mit Transparenzberichten
  • Transparenzprobleme bei Online-Werbung
  • Transparenzprobleme bei Empfehlungssystemen

Das Beschwerdeformular selbst ist recht einfach gehalten. Nach der Wahl des Themas wird man aufgefordert, in bis zu 2.500 Zeichen den Sachverhalt darzulegen. Hierbei kann man auch bis zu fünf Screenshots anhängen. Positiv zu bemerken ist außerdem, dass für eine Beschwerde nur eine Mailadresse nötig ist, auch wenn im Formular die vollen Kontaktdaten abgefragt werden. Die Beschwerdestelle behält sich vor, diese Mailadresse für Nachfragen zur weiteren Klärung des Sachverhalts zu nutzen.

Etwas verwirrend ist im Beschwerdedialog die Einwilligung, ob die Daten an den jeweiligen Anbieter, gegen den man sich beschwert, weitergeleitet werden dürfen. Hierbei bleibt unklar, ob damit nur der Sachverhalt gemeint ist oder auch die persönlichen Kontaktdaten.


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15.05.2024 10:35

Münzgroße Tracker wie AirTags sollen dabei helfen, etwa verlorene Geldbörsen wiederzufinden. Sie sind zugleich ein ideales Werkzeug, um andere heimlich zu orten. Mit einem gemeinsamen Standard wollen Apple und Google jetzt vor „unerwünschtem Tracking“ warnen. Die Initiative kommt reichlich spät.

Zwei Finger halten eine runde kleine Scheibe mit Apfel-Symbol drauf
Klein genug, um sie unbemerkt in eine Tasche gleiten zu lassen: Bluetooth-Tracker wie die Apple AirTags. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Onur Binay

Apple und Google wollen ihre Nutzer:innen in Zukunft vor Bluetooth-Ortungsgeräten warnen, auch wenn diese nicht aus ihrem Produkt-Kosmos stammen. Wenn in ihrer Nähe ein unbekannter Bluetooth-Tracker auftaucht und sich mit ihnen bewegt, sollen iPhones oder Android-Geräte einen Hinweis erhalten. Dabei spielt es keine Rolle, von welchem Hersteller der Tracker stammt. Das haben die Tech-Konzerne am Montag bekannt gegeben.

Die Warnungen funktionieren über einen gemeinsamen technischen Standard, an dem die Konzerne seit vergangenem Jahr arbeiten. Apple kündigt an, den Standard mit dem neuen Update iOS 17.5 einzuführen, Google unterstützt ihn auf Android-Geräten ab der Version 6.0.

AirTags: „Ein Geschenk für Stalker“

Bluetooth-Tracker wie die AirTags von Apple werden vermarktet, um damit Schlüssel oder Gepäck im Blick zu behalten. Sie lassen sich allerdings auch leicht in Handtaschen, Kleidung oder Autos verstecken, um Personen heimlich zu verfolgen.

Bereits bei der Vorstellung der AirTags vor drei Jahren hatten Fachleute vor solchen Missbrauchsmöglichkeiten gewarnt. Die AirTags seien ein „Geschenk für Stalker“. Zwar gab es bereits vergleichbare Tracker auf dem Markt, aber mit AirTags konnte man Dinge – und Personen – wesentlich präziser orten. Das liegt an der Funktionsweise.

AirTags kommunizieren mit Apple-Geräten, um sich mit ihnen zu verbinden und dann über die Netzverbindung ihren Standort an ihren Besitzer zu kommunizieren. Bei Milliarden von Apple-Geräten ist dieses Netzwerk wesentlich größer als das von Konkurrenten wie etwa Tile. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eines oder mehrere Apple-Geräte in der Nähe eines AirTags befindet, ist hoch.

Trotzdem hat der Konzern AirTags mit nur wenigen Schutzmaßnahmen auf den Markt gebracht. Für Nutzer:innen seiner iPhones hat Apple damals Warnungen vor möglichem Stalking in das Betriebssystem eingebaut. Wer dagegen ein Android-Gerät nutzte oder gar kein Smartphone hatte, bekam keine Warnung, dass ein AirTag in der Nähe ist. Und bekam im Zweifel nach drei Tagen erst mit, dass ein Tracker in der Nähe war. Dann begannen die Geräte zu piepen.

Expert:innen kritisierten das von Anfang an als unzureichend, auch Medien berichteten damals alarmiert: Ein unbekannter Stalker hätte drei Tage Zeit, um die Privatadresse einer Zielperson herauszufinden. Wer hingegen mit dem Täter zusammenwohnt, würde ohnehin nicht gewarnt, weil dessen Gerät regelmäßig in der Nähe ist. Das ist bedeutsam, weil Untersuchungen gezeigt haben, dass es sich bei Stalking selten um Fremde handelt und häufig um aktuelle oder ehemalige Partner:innen.

Sinnvoll, aber spät

Nach der negativen Berichterstattung hat Apple reagiert: Die Zeit bis zum Warnton wurde heruntergesetzt. Ende 2021 veröffentlichte Apple außerdem eine App, mit der auch Android-Nutzende nach unbekannten Bluetooth-Trackern suchen konnten. Allerdings musste das manuell passieren, automatische Warnungen zeigte die App nicht an.

Forscher:innen der TU Darmstadt entwickelten daraufhin eine eigene App, die nicht nur Android-Nutzer:innen besser vor unerwünschtem Tracking warnte. Auch auf dem iPhone bot die App „AirGuard“ einen besseren Schutz, weil sie nicht nur Apples AirTags, sondern auch Geräte anderer Hersteller wie Samsung und Tile in der Umgebung erkannte.

„Die plattformübergreifenden Warnungen sind ein Fortschritt“, sagt Sonja Peteranderl, „sie kommen aber sehr spät“. Peteranderl hat als Journalistin zum Missbrauch von AirTags und anderen Trackern recherchiert. Sie kritisiert, die Konzerne würden Stalking-Gefahren in der Entwicklung nicht mitdenken und hätten lange Zeit wenig Interesse an einer Lösung gezeigt. „Die Maßnahmen kommen Jahre, nachdem die ersten Warnungen und konkreten Stalking-Fälle bekannt wurden.“

Der neue gemeinsame Standard hätte einen entscheidenden Vorteil: Er wird mit den aktuellen Updates des Betriebssystems automatisch ausgespielt. Es wird sich aber erst zeigen müssen, ob das System auch zuverlässig funktioniert. In Tests hätten Apple-Geräte etwa nicht zuverlässig vor Trackern gewarnt.


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15.05.2024 09:31

Auf UN-Ebene wird derzeit der Global Digital Compact verhandelt. Die internationale Übereinkunft soll Leitlinien für das Internet und dessen Regulierung definieren. Der aktuelle Entwurf sorgt bei zivilgesellschaftlichen Organisationen allerdings für wachsende Kritik – auch an der Bundesregierung.

United Nations Trusteeship Council chamber in New York City
Hier wird heute die Zukunft des Internets verhandelt: die Trusteeship Council Chamber der UN in New York City. CC-BY-NC-SA 4.0 MusikAnimal / Wikimeida

In New York verhandeln derzeit die Vereinten Nationen, wie das Internet von morgen aussieht. Regeln soll dies der sogenannte Global Digital Compact (GDC). Doch das Rahmenwerk wird aktuell fernab der medialen Öffentlichkeit und meist hinter verschlossenen Türen besprochen.

Der GDC wird kein völkerrechtlicher Vertrag sein, aber er soll die Leitlinien formulieren, an denen sich Länder global orientieren. Denn wie das Internet verwaltet wird, welche Grundprinzipien gelten, ist nichts, was eine einzelne Regierung regeln könnte. Und es ist auch nichts, was allein Regierungen festlegen können. Bis heute spielen nichtstaatliche Organisationen bei der Internetverwaltung eine große Rolle. Etwa die technische Community, die selbstverwaltet dafür sorgt, wie das Netz verwaltet wird.

Das ist auch einer der Punkte, den diese Community und zivilgesellschaftliche Organisationen kritisieren: Der aktuelle Entwurf für einen GDC richte die bisherige Verwaltung des Internets neu aus und zentralisiere sie. Außerdem seien Menschenrechte nicht ausreichend berücksichtigt. Zudem weise er noch etliche Leerstellen auf und fiele damit hinter bestehende UN-Regulierungen zurück.

Kein eigenes Statement aus Deutschland

Der GDC geht auf eine Initiative von António Guterres zurück. Im September 2021 veröffentlichte der UN-Generalsekretär den Bericht „Our Commons Agenda“, in dem er unter anderem für den GDC wirbt. Die Übereinkunft soll festlegen, wie digitale Technologien weltweit verantwortungsvoll und im Sinne des Gemeinwohls eingesetzt werden können.

Damit ist der GDC Teil eines umfassenderen UN-Prozesses, dem Summit for the Future. Auf diesem Zukunftsgipfel sollen die UN-Mitglieder im September dieses Jahres einen rechtlich nicht bindenden „Pakt für die Zukunft“ beschließen.

Die Bundesregierung könnte sich, gemäß ihrer internationalen Digitalstrategie, korrigierend in die Verhandlungen einbringen. Allerdings sieht sie sich – zum großen Bedauern der Zivilgesellschaft – vor allem in einer neutralen Vermittlerrolle.

Sie bereitet das Treffen im September gemeinsam mit Namibia vor und moderiert es. Aus diesem Grund hat das federführende Auswärtige Amt kein eigenes Statement für das Verfahren verfasst. Außerdem werde, so ein Sprecher des Ministeriums auf Anfrage von netzpolitik.org, „die Gesamtposition der EU von der EU-Delegation in New York in die Verhandlungen eingebracht. Deswegen hat Deutschland auch kein gesondertes nationales Statement abgegeben. Deutschland hat aber in den Verhandlungen maßgeblich an der EU-Positionierung zum GDC mitgewirkt.“

„Eine offene, freie und sichere Zukunft für alle“

Laut Entwurf strebt der GDC „eine offene, freie und sichere Zukunft für alle“ an. Dafür sieht er unter anderem neue Regeln für die Verwaltung des Internets vor. Er steht damit in einer Reihe mit und zugleich teilweise im Widerspruch zum Net Mundial+10, dem Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS+20) und dem Internet Governance Forum (IGF). Alles Veranstaltungen, die sich mit der Zukunft des Netzes beschäftigen.

Der sogenannte Zero Draft des GDC liegt seit Ende April vor und wird heute in der UN in dritter und zugleich letzter Lesung verhandelt. Er ist das Resultat zwei Jahre andauernder Konsultationen mit Vertreter:innen von Regierungen, der Zivilgesellschaft und anderen Interessensgruppen – die sogenannte Multi-Stakeholder-Gemeinschaft.

So vielfältig wie die Beteiligten, so breit ist auch das Themenspektrum, das sie eingebracht haben: Es ging genauso um digitale Inklusion wie um Datenschutz, Sicherheit und KI. In Vorbereitung der GDC-Verhandlungen gab es, so erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes gegenüber netzpolitik.org, „diverse Beteiligungsgelegenheiten für die Multi-Stakeholder-Gemeinschaft“. Der vorliegende Entwurf bietet aus Sicht des Ministeriums nun „eine solide Grundlage für die weiteren GDC-Verhandlungen“.

GDC droht Multistakeholder-Ansatz zu schwächen

Doch die technische Community ist unzufrieden. Sie hat maßgeblich dafür gesorgt, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten ein interoperables Internet entwickeln konnte, etwa indem sie Protokolle entwickelt und Infrastrukturkomponenten pflegt. Ihre Vertreter:innen hatten bereits im Vorfeld der Beratungen die Befürchtung geäußert, dass der GDC diese offene, interoperable Struktur des Internets gefährde.

Die Kritik an dem GDC-Prozess ist seitdem nicht verstummt, sondern in den vergangenen Monaten noch lauter geworden. So sieht Konstantinos Komaitis das bisherige Multi-Stakeholder-Modell, „auf der Kippe“. Komaitis ist Experte in Fragen der Internetverwaltung und hat im Konsultationsprozess knapp 180 Einreichungen gesichtet und analysiert.

Er befürchtet, dass die UN die Regulierung des Internets übernehme, was die Mitsprache der Zivilgesellschaft, der technischen Community, von Forschenden und Unternehmen beschneiden würde. „Der GDC wirkt wie ein von oben gesteuerter Prozess“, so Komaitis, „ohne die Anforderungen des bestehenden Internets oder die Arbeitsweise der Internetgemeinschaft zu berücksichtigen.“

Technische Community kommt unter die Räder

Die Wikimedia Foundation hatte bereits im vergangenen September zusammen mit zahlreichen Vertreter:innen der deutschen digitalen Zivilgesellschaft kritisiert, dass der Bericht von UN-Generalsekretär Guterres „widersprüchliche Botschaften“ aussende. „Einerseits betont er die generelle Bedeutung des Multi-Stakeholder-Ansatzes in der globalen Digitalpolitik, andererseits spielt die digital-technische Community im Trilog aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Regierungen keine eigenständige Rolle mehr.“

Infolgedessen geraten im GDC-Entwurf bewährte Institutionen unter die Räder, warnen auch superrr.lab, European Center for Not-for-Profit Law (ECNL) und epicenter.works. Statt entsprechend dem Vorschlag von Guterres neue Strukturen wie ein Digital Cooperation Forum zu schaffen, sollte der GDC vielmehr bestehende Körperschaften einbeziehen. Um den Ansprüchen des GDC gerecht zu werden, könnten diese stärker als bisher Menschenrechtsexpert:innen aus der Zivilgesellschaft einbinden.

Auch aus Sicht des Youth Internet Governance Forum Germany hängt die Zukunft des Internet Governance Forum (IGF) „aktuell am seidenen Faden“. Dort diskutieren Interessensvertreter:innen aller Staaten vor allem politische Fragen der Internetverwaltung. „Der GDC bietet die Chance, das IGF substanziell weiterzuentwickeln“, so Sophia Longwe vom Youth Internet Governance Forum Germany gegenüber netzpolitik.org. „Diese Gelegenheit wird in der derzeitigen Entwurfsversion aber nicht genutzt.“

Das offene Internet als Gemeingut

Eine breitere Einbindung der Zivilgesellschaft gewährleiste auch, dass das Internet offen und öffentlich reguliert bleibe, schreibt Komaitis. Doch auch hier greife der GDC-Entwurf zu kurz.

In der Vergangenheit sei viel Wert darauf gelegt worden, das Internet als „offen“, „global“ und „interoperabel“ zu beschreiben. Im Zero Draft fehlen diese Worte im Abschnitt zu „Internet governance“ jedoch, so Komaitis. Stattdessen sei von einem „universellen, freien und sicheren Internet“ die Rede. Das aber seien genau jene Begriffe, die auch das Regime in China verwende.

Um dem Gemeinwohl zu dienen, müsse der GDC die „digital commons“ schützen, wie Wikimedia bereits im Vorfeld der Konsultationen forderte, „also öffentliche Räume, gemeinschaftliche Güter, gemeinwohlorientierte Prozesse und Werte“. Sie würden „grenzenlose Zusammenarbeit, Solidarität und unendlich teilbare Wissensressourcen“ erst ermöglichen.

Die Voraussetzung dafür sei „eine gemeinsame Anstrengung von Regierungen, politischen Entscheidungsträgern und der Zivilgesellschaft zum Schutz von Online-Räumen im öffentlichen Interesse“, betonte Wikimedia in einem offenen Brief vor wenigen Wochen.

Friederike von Franqué, Referentin für EU- & internationale Regelsetzung bei Wikimedia Deutschland, bedauert gegenüber netzpolitik.org, dass solche öffentlichen, gemeinwohlorientierten und von Communitys selbstverwalteten Räume – von Franqué zieht das Bild „digitaler Parks“ heran – beim GDC nicht im Zentrum stehen. „Hier erhoffe ich mir konkrete Maßnahmen, um noch die Kurve zu kriegen“, so von Franqué.

Organisationen warnen vor Ende der politisch neutralen Internetverwaltung

Gegen Überwachung und Ausspähung

Gravierende Leerstellen sehen zivilgesellschaftliche Organisationen im GDC-Entwurf auch beim Thema Überwachung. Tatsächlich kommt der Begriff in dem 13-seitigen Papier bislang nur ein einziges Mal vor.

Privacy International verweist auf Lücken bei der biometrischen Videoüberwachung, dem Handel und Einsatz von Spyware wie Pegasus oder Predator sowie der Ausspähung durch Konzerne.

Die NGO mit Sitz in London fordert, Menschenrechte stärker im GDC-Entwurf zu verankern. Dies würde das Recht auf Privatsphäre im digitalen Raum stärken und zugleich den Risiken neuer Technologien wie der sogenannten künstlichen Intelligenz begegnen.

Auch Helene Hahn, Referentin für Internetfreiheit bei Reporter ohne Grenzen sagt gegenüber netzpolitik.org, dass sich der GDC deutlich zum Recht auf Verschlüsselung und Anonymität bekennen muss. Ebenso sollten das Recht auf Privatsphäre und der Datenschutz eine größere Rolle spielen. „Darüber hinaus sollte ein globales Moratorium für den Verkauf und die Nutzung von Spionagesoftware wie Pegasus und Predator aufgegriffen werden“, so Hahn. „Fließen diese Punkte nicht ein, fällt der Global Digital Compact weit hinter bestehenden UN-Richtlinien zurück.“

Bereits im Mai vergangenen Jahres wiesen mehr als 50 zivilgesellschaftliche Organisationen aus aller Welt – unter ihnen Amnesty International, AfricTivistes und Article 19 – auf die menschenrechtlichen Auswirkungen unrechtmäßiger gezielter Überwachung hin. Sie forderten ebenfalls ein „unverzügliches Moratorium“ für Spyware und eine strengere rechtliche Regulierung privater Überwachungsunternehmen.

Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen

Dass der GDC insbesondere Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen soll, fordert Reporter ohne Grenzen (RoG). Reine Anreizmechanismen, wie sie der Entwurf bislang vorsieht, reichten nicht aus, damit Tech-Konzerne und Plattformanbieter die Menschenrechte achteten.

„Menschenrechte müssen umfassend mit konkreten Maßnahmen und Verpflichtungen von Staaten sowie internationalen Unternehmen adressiert werden“, sagt Helene Hahn. „Die wichtige Rolle unabhängiger Medien für eine informierte Gesellschaft wurde gänzlich vergessen. Und immer mehr Regierungen greifen das freie und offene Internet an, indem sie Nachrichten zensieren, massenhaft Daten abgreifen und digitale Kommunikation überwachen“, so Hahn. „Darauf findet der Global Digital Compact keine klaren Antworten.“

Außerdem sollte der GDC Medien dazu verpflichten, Menschen einen sicheren Zugang zu verlässlichen und pluralistischen Informationen zu geben. „Ohne starke Garantien für das Recht auf Information und Journalismus wird dieses Dokument der demokratischen Herausforderung nicht gerecht werden“, sagt Antoine Bernard, Direktor für Advocacy und Assistance bei RoG.

Nachhaltig auch im Digitalen

Schließlich sei die nachhaltige Gestaltung digitaler Infrastrukturen, Produkte und Ansätze bereits im Bericht von António Guterres zu kurz gekommen, wie Wikimedia schon im September vergangenen Jahres kritisierte. Zwar enthalte der Bericht Referenzen zur 2030 Agenda und damit zu den Nachhaltigkeitszielen der UN. Außerdem hat er ein eigenes Kapitel mit entsprechenden Zielen und Handlungsempfehlungen. Ein roter Faden, der sich durch das gesamte Dokument zieht, sei aber nicht erkennbar.

Auch der vorliegende GDC-Entwurf fiele in dieser Hinsicht dünn aus, kritisieren superrr.lab, ECNL und epicenter.works. Die Organisationen empfehlen, etwa das Recht auf Reparatur in die Übereinkunft aufzunehmen. Dies könnte die Berge an Elektroschrott verkleinern, indem es Nutzer:innen dazu ermutige, Geräte länger zu nutzen. Und auch die Unternehmen erhielten so einen Anreiz, nachhaltigere Produkte anzubieten.

„Eine bisher verpasste Chance“

Friederike von Franqué von Wikimedia Deutschland glaubt, der GDC-Entwurf wäre besser ausgefallen, wenn sich die Bundesregierung energischer in den Verhandlungsprozess eingebracht hätte. Zwar suchten die Bundesministerien aktiver als in Vorjahren die Beteiligung der Zivilgesellschaft, so von Franqué. Unterm Strich habe die Ampel mit ihrer Zurückhaltung aber eine Chance vertan.

Auch Helene Hahn von Reporter ohne Grenzen kritisiert, dass sich die Bundesregierung öffentlich nicht stärker für Menschenrechte im digitalen Raum und gegen Repressionen gegen Medienschaffende positioniert hat. „Gravierend ist vor allem, dass bislang keine zivilgesellschaftliche Beteiligung beim Summit of the Future im September vorgesehen ist“, sagt Hahn. „Das wird zu schlechteren Ergebnissen führen – das zeigt unsere Erfahrung aus anderen internationalen Prozessen.“

Friederike von Franqué zeigt sich noch vorsichtig optimistisch: „Eine gut vorbereitete Delegation – auch mit Repräsentant:innen aus der Zivilgesellschaft – ist auch dieses Jahr noch möglich.“ Auf Anfrage von netzpolitik.org teilte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes immerhin mit, dass „eine Entscheidung der Bundesregierung über das Teilnahme-Level beim Gipfel sowie die Zusammensetzung der Delegation“ derzeit noch ausstehe.


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14.05.2024 16:47

Gemeinwohlorientierte, unkommerzielle Medienprojekte müssen in Deutschland immer wieder um ihre Gemeinnützigkeit bangen, wie der Fall des „Volksverpetzers“ zeigt. Eine Petition fordert jetzt die Ampel auf, endlich ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einzulösen.

Menschen stehen mit verschränkten Armen im Sonnenlicht auf einer Holzterrasse.
Die Redaktion des Volksverpetzers reagiert kämpferisch: „Wir schaffen das. Alle gemeinsam.“ – Alle Rechte vorbehalten Volksverpetzer.de

Das Finanzamt hat dem Volksverpetzer Ende April die Gemeinnützigkeit entzogen. Das etablierte Blog gegen Desinformation schreibt unermüdlich gegen rechtsradikale Verschwörungsmythen an und versucht mit Factchecking demokratiefeindliche Aussagen und Narrative zu widerlegen.

Das mehrfach ausgezeichnete Medium war seit 2019 gemeinnützig und dieser Status wurde 2021 vom Finanzamt bestätigt – bis jetzt. Für die Organisation bedeutet dieser Schritt, dass Spenden an sie nicht mehr steuerlich absetzbar sind und die Organisation nach eigener Aussage vermutlich zehntausende Euros an das Finanzamt zurückzahlen muss. Das Blog finanziert sich fast ausschließlich über Spenden, die Inhalte sind frei und ohne Paywall verfügbar.

In Deutschland ist Journalismus, der dem Gemeinwohl dient, noch nicht als eigener Gemeinnützigkeitszweck anerkannt. Gemeinwohlorientierte Medienprojekte brauchen daher einen anderen Gemeinnützigkeitszweck. Bei Fachmedien sind das beispielsweise Verbraucherschutz, Kunst- und Kulturförderung. Bei anderen ist die Gemeinnützigkeit mit der Förderung von Bildung abgedeckt. Und so besteht für Organisationen wie das Medienhaus Correctiv, das anfangs des Jahres mit einer aufsehenserregenden Recherche Millionen Menschen aufrüttelte und für Demokratie und gegen Faschismus auf die Straße brachte, immer eine gewisse Rechtsunsicherheit.

Wegen dieses Missstands haben sich Organisationen wie Correctiv, netzpolitik.org oder die Kontext:Wochenzeitung zusammen mit Stiftungen und Journalist:innnen-Verbänden zum Forum Gemeinnütziger Journalismus zusammengeschlossen. Sie wollen gemeinwohlorientierten, nicht kommerziellen Journalismus stärken und setzen sich dafür ein, dass diese Form des Journalismus als gemeinnützig anerkannt werden kann.

Ampel wollte gemeinnützigen Journalismus eigentlich absichern

Die Ampel-Koalition hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag noch auf die Fahnen geschrieben, dass sie „Rechtssicherheit für gemeinnützigen Journalismus“ schaffen wolle – doch bislang ist nur wenig passiert. Die Bundesregierung plant offenbar nur eine untergesetzliche Regelung, die laut dem Forum Gemeinnütziger Journalismus keine Rechtssicherheit bringen und die gemeinwohlorientierte Redaktionen weiterhin der Auslegung der Ämter ausliefern würde.

Deswegen hat das Forum Gemeinnütziger Journalismus anlässlich des Volksverpetzer-Falls eine Petition gestartet. In dieser heißt es, dass der Fall des Volksverpetzers zeige: „Wir müssen das Gemeinnützigkeitsrecht dringend reformieren und endlich Rechtssicherheit für gemeinnützigen Journalismus in Deutschland schaffen.“

Weiter heißt es:

Als Forum erhoffen wir uns von der Rechtssicherheit für gemeinnützigen Journalismus einen Schub für demokratierelevanten Journalismus. Es bieten sich neue Chancen für neue Medien, für Medienmacher*innen, Impulse für Demokratie und Öffentlichkeit.

Propagandamedien könnten bei geltender Rechtslage nicht Nutznießer einer Gemeinnützigkeit von Journalismus werden. Die Vorgaben der Abgabenordnung wie Extremismusverbot, Förderung von Toleranz und Völkerverständigung sowie Allgemeinwohl schlössen dies aus. Im Gegenteil geht das Forum davon aus, dass gemeinnütziger Journalismus eine nachhaltige Wirkung für Öffentlichkeit, Diskurs und Demokratie entfalten würde.

Beim Volksverpetzer gibt man sich derweil kämpferisch: „Wir lassen uns nicht von dem Hass, den Drohungen, den vielen SLAPP-Klagen, DDOS-Attacken, Sendungen von „Mein Kampf“ an Privatadressen und was nicht alles einschüchtern. Und der Verlust der Gemeinnützigkeit wird auch daran nichts ändern.“

Offenlegung: netzpolitik.org ist Mitglied des Forums Gemeinnütziger Journalismus.


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14.05.2024 16:23

In Köln wehren sich Aktivist:innen seit Jahren gegen die zunehmend dichte Videoüberwachung in der Stadt. Heute protestierten sie vor dem Verwaltungsgericht und reichten zum siebten Mal Klage ein.

Videokameras, dahinter die Siloutte des Kölner Doms.
Überwachungskameras in der Nähe des Kölner Doms. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Future Image

Heute hat eine Anwohnerin Klage gegen die Videoüberwachung im Kölner Stadtbezirk Kalk und im Stadtteil Humboldt-Gremberg eingereicht. Unterstützt wird sie dabei von der Initiative „Kameras Stoppen“.

Die Initiative hat ebenfalls heute zu einer Protestkundgebung aufgerufen. Sie wehrt sich seit Jahren gegen die Ausweitung der Kameraüberwachung in der Domstadt am Rhein.

Mit der heutigen Klage liegen dem Verwaltungsgericht Köln laut Pressemitteilung der Kampagne nun insgesamt sieben Klagen vor. Die anderen sechs Klagen beziehen sich auf die Bereiche rund um den Kölner Dom und Hauptbahnhof sowie die Kölner Ringe, den Breslauer Platz, den Ebertplatz, den Neumarkt und den Wiener Platz.

Diese sechs Klagen sind laut der Initiative bereits 2018 und 2019 eingereicht worden. Keine der Klagen sei bis heute in der Hauptsache verhandelt worden.

Menschen protestieren mit selbstgebauten Kameras vor dem Gericht.
Die Übergabe der Klage begleitete die Initiative mit einer kleinen Protestaktion. - CC-BY 4.0 Kameras Stoppen Köln

20 Hektar flächendeckend überwacht

In Köln-Kalk hatte die Polizei im März 2022 mehr als 25 Kameras in Betrieb genommen. Kalk ist mittlerweile ein angesagtes Stadtviertel, was zu Gentrifizierung und Verdrängung geführt hat.

Die Polizei begründet die Überwachung mit einem „Kriminalitätsschwerpunkt“. Die Initiative „Kameras Stoppen“ sprach damals gegenüber netzpolitik.org von sozialen Problemen, die im Viertel sichtbar seien und durch hohe Mieten verstärkt würden. Gegen diese Probleme würden Überwachungskameras und polizeiliche Repression nicht helfen.

„Kameras stoppen“ wirft der Polizei zudem vor, keine stichhaltigen Statistiken vorzulegen, die untermauern, dass die Überwachung erforderlich sei. Insgesamt überwacht die Polizei die Stadt mit 106 Kameras, auf die sie direkt und in Echtzeit Zugriff hat.

In Kalk und in Humboldt-Gremberg überwacht die Polizei laut „Kameras Stoppen“ etwa 20 Hektar des Stadtgebiets mit Kameras, die Aufnahmen werden für 14 Tage gespeichert. Teilweise sei die Kameradichte so hoch, dass Häuser von beiden Seiten überwacht würden. Für die Bewohner:innen gäbe es keine Chance, der Videoüberwachung auszuweichen, sobald sie aus dem Haus treten.

Obwohl noch keines der Verfahren in der Hauptsache entschieden wurde, hat es in Eilverfahren Fortschritte gegeben. So untersagte das Oberverwaltungsgericht Münster der Polizei im August 2021, mit Kameras das Innere von Privatwohnungen, Geschäften, Büros, Praxen und Kanzleien aufzuzeichnen. Aufnahmen von Fenstern und Türbereichen müssten verpixelt werden. Auch bei Demonstrationen gibt es Einschränkungen bei der Überwachung, um das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu schützen.


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13.05.2024 13:31

Olaf Scholz sucht mit seinem neuen TikTok-Kanal mehr Social-Media-Reichweite. Aber nicht alles, was funktioniert, ist auch rechtlich zulässig. In einem Gastbeitrag analysieren Tobias Keber und Clarissa Henning, ob die neue Social-Media-Präsenz des Bundeskanzlers ein Verstoß gegen den Datenschutz ist.

Olaf Scholz und seine Aktentasche bei TikTok
Olaf Scholz und seine Aktentasche bei TikTok. (Screenshot des TikTok-Kanals)

Dies ist ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Tobias Keber, seit 2023 Landesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit in Baden-Württemberg, und Dr. Clarissa Henning, der persönlichen Referentin des Landesdatenschutzbeauftragten. Gastbeiträge geben nicht zwangsläufig die Haltung der Redaktion wieder.

Der rechtswissenschaftliche Diskurs hat TikTok für sich entdeckt. Während Stefan Brink als ehemaliger Landesdatenschutzbeauftragter Baden-Württembergs dem TikTok-Kanal des Bundeskanzlers einen Verstoß gegen Datenschutz und politische Neutralität bescheinigt, kontert die Datenschutzblase mit Kristin Benedikt und Rolf Schwartmann mit einer weitreichenden Widerlegung der Argumente.

tobias keber
Tobias Keber - Alle Rechte vorbehalten LfDI BW

Zugegeben, auch dieser Artikel ist Zeugnis davon und reiht sich in die jüngsten Überlegungen zu dem trendigen Dienst von ByteDance ein, der Elemente eines Videoportals und Funktionen eines sozialen Netzwerks nahtlos verschmelzen lässt.

Neu sind die mit dem Dienst verbundenen (nicht nur) datenschutzrechtlichen Fragen dabei nicht. Ventiliert sind sie im Zusammenhang mit Diensten von Meta auf nationaler und europäischer Ebene, instanzgerichtlich ebenso wie höchstrichterlich. Sind die in diesem Rahmen elaborierten Grundsätze zur gemeinsamen datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit für über Social-Media-Präsenzen geführte Kommunikation auf „New Social Media“-Angebote wie TikTok übertragbar?

Clarissa Henning
Clarissa Henning - Alle Rechte vorbehalten Alexander Seibold

Neu ist jedenfalls: Jetzt ist der Bundeskanzler auf TikTok. Und der Gesundheitsminister. Und der Wirtschaftsminister. Sie folgen einem Trend, der sich im politischen Raum schon seit einiger Zeit abzeichnet und nun weiter Fahrt aufnimmt, da es auf die Europawahl und wie hierzuländle (in Baden-Württemberg) vielerorts auch auf die Kommunalwahlen zugeht. Von allen Seiten strömen Parteien, Politiker*innen und Behörden auf TikTok – schließlich will und muss man die Jungwähler*innen, die GenZ, erreichen, um sie nicht einseitig informiert zu sehen. Das ist ein nachvollziehbarer und gewichtiger Grund. Denn man muss Bürger*innen ja dort abholen, wo sie sind – oder nicht?

Diktat der Reichweite?

Nicht alles, was funktioniert, ist rechtlich zulässig. Das klingt trivial, gilt im Besonderen aber, wenn öffentliche Stellen mit Bürgerinnen und Bürgern kommunizieren. Zentrales Element des öffentlich-rechtlichen Äußerungsrechts ist, dass eben nicht jede Form der Kommunikation erlaubt und Grenzen deutlich enger gesteckt sind, als das bei Privaten der Fall ist. Bürger*innen können sich staatlichen Entitäten gegenüber auf die Meinungsfreiheit berufen, umgekehrt geht das nicht. Zur individuellen Meinungs- und Informationsfreiheit im Verhältnis Bürger-Staat gehört die freie Wahl des Kommunikationsmittels, umgekehrt gilt das in dieser Form nicht.

Vor diesem Hintergrund durchläuft das Reichweitenargument mediensystemisch gleich mehrere Déjà-vus. Das erste Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts durchkreuzte 1961 den Plan Konrad Adenauers, ein eigenes Fernsehprogramm zu etablieren. Der durch Medien vermittelte Meinungsbildungsprozess in einer Demokratie müsse staatsfern ausgestaltet sein, so die Karlsruher Richter. Als Angela Merkel dann 2015 dem YouTuber Le Floid reichweitenstark Rede und Antwort stand und mit einem Auge zwinkernd anmerkte, das Internet ermögliche es dem Grunde nach, dass man sich seinen eigenen Sender baue, der nur Unkritisches zu berichten habe, stellte sich die Frage erneut. Diskutiert wurde sie indes schon deutlich leiser, denn mit der Situation in den Sechziger Jahren, wo für die Verbreitung medialer Inhalte nur begrenzte Ressourcen (Funkfrequenzen) bestanden haben, sei die Situation im Internet nun wirklich nicht zu vergleichen, so das Argument.

Auch in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie hat indes noch Gültigkeit, dass hoheitliche Kommunikate auf das für die Öffentlichkeitsarbeit Erforderliche begrenzt sein müssen und dem Sachlichkeits- sowie Neutralitätsgebot verpflichtet sind. Wie weit Neutralität, Sachlichkeit und Seriosität miteinander verknüpft sind und die Aktentasche des Kanzlers als tauglicher Gegenstand der Darlegung der aktuellen und künftigen Politik beziehungsweise Erläuterung der Amtsgeschäfte erscheinen kann, soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden.

Fragen der Datenschützer

Was eigentlich haben denn nun speziell die Datenschützer*innen mit TikTok für ein Problem? Wird hier nicht einfach die nächste Sau notorischer Bedenkenträger durchs Digitalisierungsdorf getrieben? Analysieren wir nüchtern und lesen zunächst, was das Unternehmen selbst im Rahmen seines Hausrechts (Terms of Service) und in der Datenschutzerklärung kundtut.

TikTok macht keinen Hehl daraus, dass Inhalte von Direktnachrichten erhoben werden, ebenso wie die dazugehörigen Meta-Daten (zum Beispiel Zeitpunkt des Versands, des Empfangs und des Lesens der Nachricht und deren Kommunikationsteilnehmer*innen), Standortdaten (auch soweit sie durch den Nutzenden deaktiviert werden) und das Nutzungsverhalten. Außerdem gleicht TikTok beim Synchronisieren des Telefonbuchs alle bei Nutzer*innen gespeicherten Informationen zu Kontakten mit den bestehenden TikTok-Nutzer*innen ab. Diese Vorgaben akzeptieren Nutzende im Rahmen des Registrierungsprozesses. Ob dies aber eine wirksame Einwilligung nach Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) darstellt, kann man zurecht fragen.

Öffentliche Stellen unterstreichen in der die Eröffnung eines TikTok-Kanals begleitenden Kommunikation gerne, man nehme Datenschutz und Datensicherheit ernst und betreibe daher ein eigenes Endgerät für den Betrieb des Kanals. Das erscheint bemüht, adressiert immerhin das in der Datenschutzerklärung beschriebene Problem des Auslesens von Kontaktdaten (Dritter) und erscheint auch datensicherheitsrechtlich (Endgerät außerhalb des internen Kommunikationsnetzes) sinnvoll. Für die Datenverarbeitungsvorgänge der auf die behördlichen TikTok-Inhalte zugreifenden Nutzenden ist diese technisch organisatorische Maßnahme indes ohne Wirkung.

Auf dem TikTok-Kanal des Bundeskanzlers ist zu lesen: „Für den TikTok-Kanal TeamBundeskanzler […] hat das BPA die TikTok-Analytics-Funktion deaktiviert. Das heißt, TikTok stellt dem BPA keine Seitenstatistik, die anonymisiert Aufschluss über Besuchergruppen und Besucheraktivitäten gibt, zur Verfügung. Das sog. ‚TikTok Analytics Joint Controller Addendum‘ gilt daher für diesen Informationsdienst nicht.“

Das liest sich vor dem Hintergrund der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung problembewusst, wirft aber die Frage auf, ob das Deaktivieren der Analyse-Funktion durch den Präsenz-Betreibenden bewirkt, dass diese Daten von TikTok tatsächlich nicht mehr erhoben werden. Oder verzichtet der Kanalbetreibende bloß auf die Einsichtsmöglichkeit in die gleichwohl durch TikTok über seine Präsenz erhobenen Daten? Aus den Augen, aus dem Sinn. Aus der Mitverantwortung?

Was erfasst TikTok über den In-App-Browser?

Wenig offizielle Informationen, namentlich in der Datenschutzerklärung des Unternehmens, findet man zum Verhalten des In-App-Browsers des Dienstes, der gleichsam wenig datensparsam ausgestaltet ist. Klickt man in der TikTok-App auf einen Link, der in TikTok (etwa in der Kanalbeschreibung) gepostet wurde, wird dieser mittels des In-App-Browsers geöffnet, wodurch zahlreiche Daten an TikTok übermittelt werden, die mit dem User oder der Userin verknüpft werden, beispielsweise die vollständige URL, Zeitstempel und den Verlauf der Seiten, die im Browser aufgerufen werden. Das Nutzungsverhalten wird in einer Log-Datei auf dem Endgerät gespeichert und kann vom Dienstanbieter TikTok ausgelesen werden.

Um das Problem veranschaulicht zu benennen: TikTok erfasst bei öffentlichkeitsarbeitenden Kanälen über den In-App-Browser auch, welche politischen Inhalte und Meinungen (besondere Kategorien personenbezogener Daten, Art. 9 DSGVO) der Kanalbesucher konsumiert werden. Im Lichte der Ausführungen im Hausrecht TikToks, wonach auch die Konten von Politiker*innen, Parteien, Regierung etc. als solche kategorisiert werden (die Kriterien hierfür und was daraus folgt, sind nicht transparent), erscheint das radikal konsequent.

Aus dem Bundeskanzleramt Olaf Scholz’ heißt es, dass man auf TikTok unterwegs sei, bedeute nicht, dass man die dort herrschenden Datenschutzpraktiken befürworte. Das ist erfreulich, nimmt man die kognitiven Verzerrungen durch TikTok-Algorithmen in den Blick, die natürlich direkten Einfluss auf die Meinungsbildung haben und damit nichts mit Selbstbestimmung (schon gar nichts mit informationeller) zu tun haben. Aber ist das Haltung, die wir von staatlichen Einrichtungen erwarten? Um es mit Jan Böhmermann zu sagen: „Wer die Leute da abholen will, wo sie sind, muss auch wissen, wo er die Leute hinbringt.“


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13.05.2024 12:32

Die Vorstellung des Bundeslagebilds zur Cyberkriminalität lief ab wie immer: Warnungen vor der Lage, flankiert von Forderungen nach mehr Befugnissen. Doch solange die Verantwortlichen sich nicht für grundlegende IT-Sicherheitsprinzipen einsetzen, ist das Mahnen vor allem eines: unglaubwürdig. Ein Kommentar.

Nancy Faeser und Holger Münch vor einem blauen Hintergrund.
Archivbild: Vorstellung der polizeilichen Kriminalstatistik 2023 – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Chris Emil Janßen

Auf manche Traditionen ist Verlass. Zum 1. Mai berichten Medien verstärkt über Arbeitsbedingungen. Anlässlich des Black Fridays gibt es massenweise Schnäppchentipps, durchbrochen von konsumkritischen Kommentaren. Und die jährliche Vorstellung des Bundeslagebilds Cybercrime – wenn auch kein Feiertagsanlass – flankieren Texte über die Bedrohungen aus dem Internet.

Heute war es wieder Zeit für das alljährliche Ritual zur Cyberkriminalität „im engeren Sinne“. Denn im vorgestellten Lagebild geht es nicht um die Straftaten, bei denen jemand mit einer Online-Landkarte Fahrradparkplätze ausfindig gemacht hat, um dann mit dem Bolzenschneider loszuziehen. Sondern es geht um solche Kriminalität, die sich direkt gegen IT-Systeme richtet.

Das sind beispielweise Ransomware-Infektionen, bei denen dann die Systeme eines Krankenhauses außer Betrieb gesetzt und Unternehmen erpresst werden. Oder wenn jemand bei Banken Daten abgreift, um sie für kriminelle Zwecke zu verkaufen. Oder, nach Verständnis des BKA, auch „Hacktivismus“, im Bericht vor allem in Form von DDoS-Angriffen, die Websites und Dienste lahmlegen.

Die gewohnten Phrasen

Inhaltlich war es, wie beinahe jedes Jahr, wenig aufregend. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat die Übersicht gemeinsam mit BKA-Chef Holger Münch und BSI-Präsidentin Claudia Plattner vorgestellt. Es fielen die gewohnten Phrasen. Faeser verweist auf das große Dunkelfeld mit dem obligatorischen Eisberg-Bild und sagt den Satz, den man immer sagen muss: „Die Bedrohungslage im Bereich der Cybersicherheit bleibt hoch.“ Münch verweist rollengerecht auf Ermittlungserfolge, Plattner auf notwendiges Bewusstsein bei Unternehmen und Bevölkerung.

Der Trend, so das Lagebild, weise sogar ein bisschen nach oben. Ein bisschen wie immer, nur schlimmer also. Vor allem bei den sogenannten Auslandstaten, denn die stiegen laut der Erhebung um 28 Prozent. Wobei das genau genommen nur aussagt, dass man nicht so recht weiß, wo die Täter:innen eigentlich sitzen. Vielleicht sind sie ja auch in Deutschland, aber gut genug getarnt. Dann werden sie statistisch als Auslandstaten erfasst. Eine Kategorie für Taten mit unbekannter Herkunft? Fehlt.

Die Straftaten, von denen man zu wissen glaubt, dass sie aus dem Inland kommen, „stagnieren auf hohem Niveau“. Und da haben sie etwas gemeinsam mit den Vorstellungen der Bundesregierung, wie man das ändern könnte. Denn auch heute kaute besonders Innenministerin Faeser die üblichen alten Ideen wieder und ließ dabei wichtige andere Maßnahmen außer Acht.

Mit Vorratsdatenspeicherung das Thema verfehlt

Eine Vorratsdatenspeicherung, da bleibt sich Faeser treu, fordert sie direkt und vehement ein. Vom neuesten Urteil des Europäischen Gerichtshofs fühlt sie sich in ihrer Meinung gestärkt. Das Problem ist jedoch: Eine Vorratsdatenspeicherung verhindert keinen Cyberangriff. Noch dazu hat sie mit Cyberkriminalität im engeren Sinne – und darum geht es ja im Lagebild – direkt nichts zu tun. Das zeigen auch Faesers eigene Beispiele, etwa Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Hier weicht die Innenministerin zugunsten ihrer Agenda deutlich vom Thema ab.

Wenn es hingegen um Maßnahmen geht, mit denen Cyberkriminalität im engeren Sinne bekämpft werden kann, bleibt Faeser auf der Pressekonferenz teilweise so nebulös wie das beschworene Dunkelfeld bei den den entsprechenden Straftaten.

Zwar will die Innenministerin „weitere Maßnahmen schaffen, die es dem Bund erlauben, bei schweren Cyberangriffen schnell zu handeln“ und sie erfolgreich abwehren. Aber welche sind das? Das verrät Faeser nicht und so kommen Assoziationen an die kontroverse Hackback-Diskussion auf. Momentan fordern zwar vor allem CDU-Politiker das Zurückhacken als Reaktion darauf, dass russischer Hacker jüngst mutmaßlich die Infrastruktur der SPD angegriffen haben. Doch auch Faeser fiel bereits früher durch Sympathien für die Gegenangriffe auf.

Konkret wiederholt sie das auf der Pressekonferenz zwar nicht. Sie will sich jedoch, so verspricht sie, für „die notwendigen Instrumente“ einsetzen.

„Keine Straftat ist uns die liebste Straftat“

Holger Münch spricht wie Claudia Plattner schon mehr darüber, wie man mehr reale IT-Sicherheit bekommen könnte – durch resiliente Systeme und Prävention. (Auch wenn sich Münch den Verweis auf notwendige Gesetzesänderungen nicht nehmen lässt, damit das BKA mehr Gefahrenabwehrbefugnisse ausüben darf.) „Keine Straftat ist uns die liebste Straftat“, so der BKA-Chef. Man könnte auch in Tradition von IT-Sicherheitsforschenden sagen: „Verteidigung ist die beste Verteidigung.“

Doch auch hier bleiben wichtige Schritte, die sich ja sogar schon im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien finden, unerwähnt. Sie scheinen wenig populär zu sein und drohen in der sich dem Ende zuneigenden Regierungszeit unterzugehen. Dabei funktionieren sie ganz ohne Grundrechtseingriffe, ganz ohne IT-Sicherheitskollateralschäden. Es geht vor allem um zwei Dinge: die notwendige Reform der sogenannten Hackerparagrafen und ein konsequentes Schwachstellenmanagement.

Schweigen zu Hackerparagrafen und Schwachstellenmanagement

Bei ersterem steht die Entkriminalisierung von ethischer IT-Sicherheitsforschung im Fokus. Finden ethische Hacker:innen etwa bei Unternehmen Sicherheitslücken und melden diese verantwortungsvoll, sind sie oft vom guten Willen der Betroffenen abhängig. Reagieren die Unternehmen unsouverän, droht ihnen eine Anzeige – letztlich dafür, dass sie die gesamte IT-Welt ein bisschen sicherer machen wollten.

Dieses Problem für Sicherheitsforschende und so auch für die IT-Sicherheit insgesamt wollte die aktuelle Bundesregierung angehen, der Ball liegt beim Justizministerium. Das hat im vergangenen Jahr ein Symposium zum Thema organisiert und will in der ersten Jahreshälfte 2024 immerhin einen Gesetzentwurf vorlegen. Doch die Zeit dafür wird knapp.

Beim Schwachstellenmanagement ist im Gegensatz zu den Hackerparagrafen nicht einmal der Wille der Regierung erkennbar, zu einer konsequenten Lösung zu kommen. Dabei ist das Prinzip einfach und logisch: Wird eine Sicherheitslücke etwa durch eine Behörde entdeckt, sollte sie etwa dem zuständigen Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik gemeldet werden. Damit sie geschlossen werden kann. Damit hat nicht nur der Entdecker der Lücke die Chance, seine Systeme abwehrfähiger zu machen, sondern alle, die von der gleichen Lücke betroffen sind. Und das sind häufig ganz viele verschiedene Unternehmen, staatliche Behörden und Privatpersonen. Was ist das Problem?

Es gibt kein Privileg auf Sicherheitslücken

Zu dieser Konsequenz kann sich vor allem Nancy Faeser offenbar nicht durchringen. Denn Behörden wie die Polizei oder Geheimdienste haben ein Interesse daran, Schwachstellen für ihre eigenen Interessen offenzuhalten und sie beispielsweise für Staatstrojaner zu nutzen. Das aber betrifft am Ende nicht nur die IT-Sicherheit einiger Krimineller, sondern die der gesamten Gesellschaft mit kaum überschaubaren Folgen. Es gibt kein Privileg für staatliche Stellen, Sicherheitslücken nur „für das Gute“ auszunutzen.

Solange sich die Regierung nicht dazu durchringen kann, sich konsequent zum Wohl und für die IT-Sicherheit aller einzusetzen, bleibt das Raunen von der Cyberbedrohung und die Lancierung neuer Befugnisse eine traditionsgeprägte Inszenierung. Jeder kann seinen Teil dazu beitragen, unser aller IT-Sicherheit zu erhöhen. „Nicht klicken, sondern erst mal gucken“, fasst das Holger Münch zusammen.

Bundesinnenministerin Faeser hat indes noch ein paar mehr Möglichkeiten an der Hand. Sie könnte gemeinsam mit anderen dazu beitragen, die Sicherheitsprobleme der digitalen Welt an der Wurzel zu packen. Solange sie das aber nicht tun, bleibt das Rufen nach mehr Befugnissen vor allem eines: unglaubwürdig und bedeutungslos.


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13.05.2024 11:37

Die EU ist im Fediverse mit eigenen Servern auf Mastodon und Peertube präsent und damit fast allen Regierungen der Welt voraus. Am Samstag sollen die Server jedoch abgeschaltet werden, weil keine EU-Institution den Betrieb übernehmen will. Was danach mit den Accounts geschehen soll, ist weiter unklar.

Das Skelett eines Mammuts, leicht in seine Einzelteile zerfallen, liegt in einem Museum.
Die Mastodon-Präsenz der EU zerfällt in ihre Einzelteile. – Public Domain Boris Hamer

Es ist weiter unklar, wie die EU ab kommender Woche im Fediverse vertreten sein wird. Momentan betreibt der Europäische Datenschutzbeauftragte (EDPS) zwei Server für Mastodon und Peertube. Auf denen haben 40 Institutionen Accounts, darunter die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof. Vor einigen Wochen kündigte der Datenschutzbeauftragte aber an, die Server bald dicht machen zu wollen.

Der Grund: Sie waren nur als Pilotprojekt gedacht. Dieses sollte ursprünglich nur für ein Jahr laufen, der EDPS hatte es schon um ein Jahr verlängert. „In dieser Zeit haben wir versucht, einen neuen Betreiber bei den EU-Institutionen mit mehr Kapazitäten und Ressourcen als beim EDPS zu finden“, erklärte ein Sprecher gegenüber netzpolitik.org. „Leider war keine EU-Institution verfügbar, den Betrieb des Projekts zu übernehmen.“ Deshalb wird der EDPS die beiden Server am Samstag abschalten.

Hunderttausende Follower:innen

Was dann mit den Accounts der einzelnen Institutionen passieren wird, ist weiter unklar. Der Account der Kommission hat innerhalb der letzten zwei Jahre immerhin 102.000 Follower:innen angesammelt. Auf Ex-Twitter sind es 1,8 Millionen, dort postet die Kommission aber auch schon seit 2010.

Kurz nach der Ankündigung des EDPS hatte die Kommission ein etwas kryptisches Update auf Mastodon gepostet: „Wir arbeiten an einer Lösung, um unsere kontinuierliche Präsenz auf euren Feeds zu gewährleisten, indem wir Mastodons portable Identitäten voll ausnutzen.“ Das Team hinter der Mastodon-Präsenz soll ausgebaut werden, hieß es dort.

Weiteres Vorgehen weiter unklar

Aber heißt das, dass die Kommission den Betrieb des Mastodon-Servers übernehmen will? Auf Nachfrage von netzpolitik.org hieß es wieder nur, man arbeite an einer technischen Lösung. Der EDPS hat bis heute jedenfalls nichts von Plänen der Kommission gehört, Verantwortung für die Mastodon-Präsenz der EU zu übernehmen. Der letzte Stand dort ist, dass alle Institutionen ab kommenden Samstag selber für ihre eigenen Accounts zuständig sein werden.

Auf Mastodon können Accounts relativ einfach zwischen Servern umgezogen werden. Die Institutionen müssten also keinen eigenen EU-Server betreiben, sondern könnten zum Beispiel auch auf den bei weitem größten Server mastodon.social oder den inoffiziellen EU-Politiknerd-Server eupolicy.social wechseln. Aber was wäre die Signalwirkung, wenn die EU-Institutionen nicht einmal genug digitale Souveränität hinbekommen, um einen gemeinsamen Mastodon-Instanz zu betreiben?


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13.05.2024 07:58

Die israelische Armee soll ein KI-gestütztes System eingesetzt haben, um Ziele in Gaza zu markieren. Die Fehlerraten solcher Technologien seien groß, warnt der Verein „Forum InformatikerInnen für Frieden“ und fordert deren Ächtung. Ein Interview mit Rainer Rehak, der das Papier mitgeschrieben hat.

Zu sehen sind Fragmente einer zerstörten Stadt. Im Vordergrund ist eine menschliche Silhouette zu sehen. Zwischen den angedeuteten Formen fliegen Vögel, bei denen es sich um Tauben handeln könnte.
Welche Daten werden als Grundlage für KI-basierte Zielgenerierung genutzt? CC-BY-NC 4.0 netzpolitik.org

Im „Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung“ (FIfF e.V.) engagieren sich Fachleute aus der Informatik seit über 40 Jahren für Abrüstung in militärischen Anwendungen. Zuletzt forderte das FIfF e.V. gemeinsam mit, „AK gegen bewaffnete Drohnen“ sowie der „Informationsstelle Militarisierung“ in einem Positionspapier, das System „Lavender“ der israelischen Streitkräfte und andere KI-basierte Waffensysteme sollten als Kriegsverbrechen eingestuft werden.

netzpolitik.org: Wieso habt ihr euch dafür entschieden, das Positionspapier zu schreiben?

Rainer Rehak: In der Diskussion um aktuelle Kriege werden sehr viele politische, militärische, soziale, wirtschaftliche und menschenrechtliche Fragen verhandelt. Insbesondere bei den aktuell von Israel ausgehenden Angriffen mit KI-basierten Waffensystemen gibt es aber wenige Stimmen, die kompetent sowohl die Technik verstehen als auch die gesellschaftliche Einbettung nachvollziehen können.

Da wir uns in Arbeitsgruppen schon lange mit bewaffneten Drohnen, automatischen, automatisierten und autonomen Waffensystemen beschäftigen, haben wir gemerkt, dass wir uns dazu äußern müssen. Unser Vereinsmitglied Christian Heck steckt sehr tief in dem Thema drin. Er machte den Anfang und hat uns dann alle reingeholt.

„Wir haben eine ganz klare politische Forderung“

Auf dem Bild ist der Interviewte, Rainer Rehak, zu sehen. Rainer sitzt auf einer Bank und hält sein mit Aufklebern beklebtes Notebook in der Hand. Im Hintergrund sind Hochhäuser zu sehen.
Rainer Rehak ist unter anderem Ko-Vorsitzender des „Forums für InformatikerInnnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung“ (FIfF e.V) - CC-BY 2.0 Weizenbaum-Institut

netzpolitik.org: Wen möchtet ihr mit dem Positionspapier erreichen?

Rainer Rehak: Zum einen die Zielgruppe der interessierten Öffentlichkeit. Wir wollen den Leser:innen einen differenzierteren Blick auf die Diskussion ermöglichen. Wenn von „Targeted Killing“, also gezielter Tötung oder KI gesprochen wird, klingt das oft positiv. Genauso wie die älteren Begriffe „Smart Bombs“ oder „Präzisionswaffen“. Die klingen klinisch sauber und schön. Deshalb wollten wir einordnen, was technisch dahintersteckt. Außerdem versuchen wir, die Entwicklungen in Beziehung zum historischen Kontext zu verstehen.

Zum anderen richten wir uns explizit an die Politik. Wir haben eine ganz klare politische Forderung: Die Nutzung von solchen KI-Systemen muss als Kriegsverbrechen eingestuft werden.

netzpolitik.org: Habt ihr noch weitere Forderungen, explizit an die Bundesregierung?

Rainer Rehak: Der Einsatz autonomer und bewaffneter Drohnen sollte insgesamt politisch geächtet werden. Unser Ziel ist es darauf hinzuarbeiten, dass sie völkerrechtlich genauso behandelt werden wie ABC-Waffen. Uns ist klar, dass bewaffnete Drohnen schon lange in der Welt sind. Das macht sie aber nicht richtiger. Bei autonomen Drohnen haben wir gemerkt, dass das ein besonders schwieriger Prozess ist. Es treten schon bei der Definition Probleme auf, was autonome Drohnen sind und was sie von normalen Drohnen unterscheidet.

netzpolitik.org: Um ein Ziel mit einer herkömmlichen bewaffneten Drohne anzugreifen, braucht es immer noch Menschen. Sie sind im Prozess eingebunden, wenn auch mit großer räumlicher Distanz. Bei autonomen Systemen ist das anders. Warum sollten Menschen die Entscheidungen treffen?

Rainer Rehak: Sobald gehandelt wird, muss auch irgendwer verantwortlich sein. Das trifft sowohl dann zu, wenn es schief läuft, als auch, wenn etwas richtig läuft. Wenn mit Waffen Menschen getötet werden, dann müssen sich Menschen dafür verantworten, dass sie das gemacht oder sich dafür entschieden haben.

„Ein Prozess von Verantwortungsdiffusion bei gleichzeitig zunehmender Technisierung und Komplexität“

netzpolitik.org: Ist das bei Systemen wie „Lavender“ der Fall?

Rainer Rehak: Bei diesen automatisierten Systemen, mit denen wir es jetzt zum Beispiel mit „Lavender“ zu tun haben, findet eine automatische Zielselektion statt. Trotzdem ist jemand verantwortlich. Es sind die, die gesagt haben: Wir benutzen dieses System, wir kennen alle Eigenschaften, wir machen das. Da liegt die Verantwortung nicht mehr allein bei den einzelnen Soldatinnen und Soldaten, die das auf dem Schlachtfeld einsetzen. Auch diejenigen in den Hierarchieebenen weiter oben, die Strategien entwickeln oder die politischen Ziele vorgeben, tragen Verantwortung. Es wird immer leichter, die Verantwortung an viele Stellen zu legen. Dieser Effekt wird leider auch strategisch ausgenutzt. Wir sprechen über einen Prozess von Verantwortungsdiffusion bei gleichzeitig zunehmender Technisierung und Komplexität.

Es gibt noch einen zweiten Aspekt, den finde ich persönlich sehr relevant: Diese automatisierten Systeme sind ja eben keine „Präzisionswaffen“. Das zeigt auch die investigative Recherche des Journalisten Yuval Abraham. Stichproben hätten gezeigt, dass „Lavender“ in zehn Prozent der Fälle gar keine legitimen Ziele markierte. Selbst bei den Zielen, die sogenannte „legitime Ziele“ waren, genehmigte das israelische Militär, dass für jeden mutmaßlichen Hamas-Kämpfer fünf bis 20 Zivilist:innen getötet werden können.

Diese Automatisierung sorgt eben nicht dafür, dass die Waffen genauer werden, sondern dass man sie schneller und breiter einsetzen kann. Außerdem sorgt die Maschinisierung dafür, dass es einen Skalierungs-Effekt gibt, der verheerende Folgen hat.

„Wir drehen mal an ein paar Parametern und machen einfach den Fokus ungenauer.“

netzpolitik.org: Könntest du den Skalierungs-Effekt näher erklären?

Rainer Rehak: Vorher war es so, dass die israelische Führung und dann auch die israelischen Streitkräfte menschlich betriebene Zielgenerierungssysteme einsetzten. Damit konnten sie meines Wissens nach pro Tag „nur“ im einstelligen Bereich Ziele erzeugen. Diese wurden dann angegriffen, entweder vom Boden aus oder sie wurden bombardiert. In jüngerer Zeit hat die IDF angefangen, die informationsbasierten Systeme einzusetzen, um Ziele zu generieren. Jetzt konnten sie pro Tag tausende solcher Ziele errechnen und diese dann auch angreifen.

Bei „Lavender“ war es manchmal sogar so, dass sie alle aktuellen Ziele, die das System ausgespuckt hatte, angegriffen hatten, aber, salopp gesagt, trotzdem noch Bomben für den Tag übrig hatten. Deshalb sollen sie sich dafür entschieden haben, die sowieso schon geringen Genauigkeitsanforderungen noch weiter herunterzusetzen. Sie haben also an ein paar Parametern gedreht und den Fokus ungenauer gemacht, dann produziert das System weitere Ziele. Diese Möglichkeiten sind ein Beispiel für Skalierungs-Effekte.

Als Mensch würde man vielleicht auf die Karte gucken und zufällig auf Häuser zeigen. Das wäre eindeutig Willkür und ganz furchtbare Kriegspraktik. Wenn es aber eine Maschine macht, bekommt das so eine Art „Goldstaub des Gezielten“. Das stimmt aber nicht und das wissen diejenigen, die es einsetzen, auch genau. Trotzdem benutzen sie es so.

netzpolitik.org: Die Armee argumentiert damit, dass es sich um gezielte Tötungen handele. Auf der anderen Seite sind mir keine Zahlen oder Beweise dafür bekannt, dass dadurch tatsächlich Menschenleben gerettet werden konnten. Ist dir in der Debatte schon einmal aufgefallen, dass eine „gezielte Tötung“ mit Fakten belegt werden konnte?

Rainer Rehak: Eine Schwierigkeit besteht darin, an unabhängige Informationen heranzukommen. Drohnenangriffe und Bombardierungen werden in einem Krieg meist von der technologisch stärkeren Partei eingesetzt. Das haben wir gesehen beim „War on Terror“ unter Obama, bei den Drohnenangriffen in Afghanistan oder in Waziristan, einer Region in Pakistan. Erst Whistleblower wie zum Beispiel Daniel Hale oder auch Journalisten wie Julian Assange konnten aufdecken, dass öffentliche Informationen des Militärs nicht richtig sind. Man ist gewissermaßen auf einen Zufall angewiesen, wenn es um Einblicke geht, wie gut oder schlecht diese Art von Waffen funktionieren. Das macht die Evaluation extrem schwer.

Aber nach all dem, was wir bisher wissen, sind diese Waffen wahnsinnig ungenau. Wir sehen riesengroße Fehlerraten und zusätzlich noch sogenannte Kollateralschäden, das heißt getötete Menschen, die aber gar keine Ziele waren. Diese Waffen sind unpräzise und haben verheerende Folgen. Das äußert sich in den entsprechenden Todesraten, die wir bei dieser Art der Kriegsführung Israels sehen. Die Mehrheit der gesamten 35.000 Kriegsopfer sind bislang Frauen und Kinder.

Das liegt auch an einem automatisierten Lavender-Teilsystem, das feststellen soll, wann die Zielpersonen jeweils zu Hause bei ihren Familien angekommen waren, sodass deren Wohnungen und somit auch Familien bombardiert werden konnten. Dieses Zielsystem hat übrigens den internen Namen: „Where’s Daddy?“. Das führt uns dahin zu sagen: Diese Art von Waffen, das sind Kriegsverbrechen.

netzpolitik.org: Staaten setzen solche Systeme bereits länger ein. Was ist an Systemen wie „Lavender“ neu?

Rainer Rehak: Die KI-Systeme, die jetzt zum Einsatz kommen, sind ein Nachfahre der sogenannten „Signature Strikes“. Dabei tötete man mutmaßlich militante Personen basierend auf Kommunikations-Metadaten. Das sind einfach gesagt Informationen dazu, wer, wo mit wem kommuniziert. Solche Daten spielten bei den Kampfeinsätzen des US-Militärs in Afghanistan eine maßgebliche Rolle.

Die Herangehensweise hat sich bis heute im Prinzip nicht geändert: Man toleriert Ungenauigkeiten einfach, vielleicht ist es durch KI sogar noch schlimmer geworden.

„Wenn etwas ans Licht kommt, werden nicht die bestraft, die die Systeme einsetzen“

netzpolitik.org: Automatisierte Systeme markieren die Ziele anhand der vorhandenen Daten. Dabei soll etwa bei „Lavender“ auch maschinelles Lernen zum Einsatz kommen. Gibt es Erkenntnisse dazu, welche Art und welche Menge von Daten benutzt wird?

Rainer Rehak: Soweit wir das wissen, werden etliche Kommunikationsdaten, Bewegungsdaten, Satellitendaten bis hin zu Kartendaten und Zahlungsdaten genutzt, derer man habhaft werden kann. Datenanalyse-Unternehmen wie Palantir Technologies Inc. helfen dabei. Die USA haben mit dieser informationsbasierten Zielanalyse damals nach dem Terrorangriff vom 11. September begonnen.

Gaza ist in der Hinsicht besonders, weil das ganze Umfeld direkt von Israel kontrolliert wird. Das heißt es geht auch um Informationen, wer oder welche Güter wann rein und wieder herausgehen.

Auch der Begriff des „gläsernen Gefechtsfelds“, den die Bundeswehr nutzt, verdeutlicht, wie alles Wissen, alle Daten verwendet werden sollen, um dann die Analysesysteme auf sie anzusetzen und zu sagen: Jetzt wollen wir mal errechnen, wer die Terroristen sind.

netzpolitik.org: Glaubst du, dass bei den Vereinten Nationen in der Diskussionen um autonome Waffensysteme noch etwas zu erreichen ist?

Rainer Rehak: Aktuell gibt es viel Widerstand, insbesondere von den Staaten, die an den Waffen arbeiten oder planen sie einzusetzen. Als China einmal gesagt hat, dass sie dafür seien, autonome Waffensysteme zu verbieten und eine Definition vorlegte, wäre darunter keins der Waffensysteme gefallen, über die wir jetzt reden. Das hilft bei der praktischen Umsetzung eines Verbots natürlich nicht weiter. Mein Eindruck ist daher, dass das länger dauern wird. Vielleicht mehr als zehn Jahre, vielleicht dauert es bis zu 20 oder dreißig Jahre. Das war bei den ABC-Waffen aber auch der Fall. Am Anfang wurde gesagt, das werden wir nie schaffen. Deshalb ist es aus meiner Sicht trotzdem wichtig, dass Deutschland und die EU mit anderen Partnerstaaten zusammen auf eine Ächtung als Kriegsverbrechen hinwirkt.

netzpolitik.org: Was muss passieren, damit der Einsatz von KI-basierten Waffensystemen in die Reihe der Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht aufgenommen wird?

„Was passiert, wenn wir uns dafür entscheiden diesen Weg weiterzugehen?“

Rainer Rehak: Wir brauchen eine viel größere Diskussion über die konkreten Systeme. Wir müssen anfangen die Faktenlage zusammenzutragen, so wie wir es mit unserem Papier versuchen. Erst dann können Leser:innen überhaupt merken, dass es kritikwürdig ist und dass wir noch gar nicht genug wissen. Ernstzunehmender Journalismus, der über diese Thematik auch technisch versiert berichtet, kommt bis heute eher selten vor. Außerdem sollten wir eine gesellschaftliche Debatte führen, die sich damit beschäftigt, wie sich Kriegsführung entwickelt. Eine Frage, die wir uns stellen: Was passiert, wenn wir als Welt uns dafür entscheiden, diesen Weg weiterzugehen?

netzpolitik.org: Gibt es etwas, das du den Leser:innen darüber hinaus noch gerne mitgeben würdest?

Rainer Rehak: Wir müssen uns daran erinnern, dass diese KI-Systeme immer ungenau sind. Wenn mal ein Fehler passiert und ich den falschen Film empfohlen bekomme oder ein Lied, das mir nicht gefällt, dann ist das nicht so problematisch. KI-Systeme für wirklich kritische Infrastruktur oder Waffensysteme einzusetzen, ist aber wahnsinnig.

Wie auch der kritische Informatiker Joseph Weizenbaum immer sagte: Da muss man der Versuchung widerstehen. Wir müssen eine innere Stärke aufbauen und uns die Frage stellen: Worum geht es eigentlich? Wollen wir Milliarden in diese Technik stecken oder lieber in langfristige Friedensbemühungen, in soziale Infrastrukturen.

Wir dürfen uns nicht von den Verheißungen über KI-basierte Systeme verzaubern lassen, insbesondere nicht von denjenigen, die sie gerne verkaufen oder nutzen möchten.


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12.05.2024 08:18

Vor kurzem fand die erste Digitalministerkonferenz statt. Aber was machen die Beteiligten eigentlich thematisch? Eine Textanalyse mit vielen Digitalisierungs-Bläschen. Eine davon: natürlich KI.

Viele bunt schillernde Seifenblasen
– Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Kind and Curious

Üblicherweise kommt eine sonntägliche Ausgabe von Degitalisierung auf etwa 8.000 Zeichen. Diese Ausgabe ist das Destillat aus 13,7 Millionen Zeichen. Keine Sorge, muss keine*r ganz lesen. Der Auslöser dieser immensen Textmenge ist die DMK – die erste Digitalministerkonferenz.

Die Frage, ob es ein Digitalministerium überhaupt braucht, soll diese Kolumne ganz bewusst unbeantwortet lassen. Viel wird dazu meist vor Bundestagswahlen diskutiert, 2021 etwa: FDP braucht unbedingt ein Digitalministerium (März 2021). Nein, es brauche viele Digitalministerien, nicht nur eines, so etwa die Süddeutsche Zeitung (September 2017). Im Handelsblatt war man der Meinung, dass ein Digitalministerium als Übergangsministerium schon sinnvoll sein kann (Oktober 2021). Lilith Wittmann, selbsternannter schwarzer Block der Verwaltungsdigitalisierung, wollte das Digitalministerium im Oktober 2021 [€] gleich wieder abreißen.

Begrüßen, wollen, einladen

Diese Kolumne soll sich aber einer anderen Frage widmen: Was machen eigentlich die Beteiligten der Digitalministerkonferenz so thematisch? Gibt es da Besonderheiten? Gemeinsamkeiten? Oder alles ein heilloses Durcheinander?

In den Beschlüssen zur DMK heißt es etwa oftmals im Sprech politischer Diplomatie: Etwas wird anerkannt, wir laden den Bund ein (deshalb war Volker Wissing auch da), wir wollen, wir begrüßen, oder es wird ausdrücklich begrüßt, wenn es gerade ekstatisch klingen soll. Und am Ende wird vielleicht sogar wer anderes ganz energisch aufgefordert.

Diese gemäßigte und eher passive kommunikative Handlungsweise liegt freilich auch daran, dass es wie so häufig im Föderalismus sehr viele gibt, die mitreden wollen. Um zu wissen, worüber die DMK Teilnehmenden eigentlich so laut Selbstdarstellung reden, wurden für diese Kolumne entsprechend die Webseiten der Beteiligten analysiert. Welche Themen und Schlagworte kommen dort besonders häufig vor? Wie verhält sich das im Vergleich zu den anderen?

Eins vorweg: Die Analyse der Inhalte der für die Digitalisierungsthemen zuständigen Ministerien und anderen Teilen der jeweiligen Regierungen der Bundesländer ist erst einmal rein lexikalisch, also eine Schlagwortanalyse ohne vollständigen äußeren sprachlichen Sinnzusammenhang. Statistisch wahrscheinlich nicht zu 100 Prozent präzise, aber als Tendenz durchaus aussagekräftig.

Die Rohdaten und das Vorgehen zur Analyse gibt es zur Transparenz im Repository bei codeberg.

Föderaler Flickenteppich

Zuständigkeiten im föderalen System sind oftmals ein Flickenteppich. Diese Verantwortungs- und Zuständigkeitsdiffusion macht ein fokussiertes Abarbeiten digitaler Baustellen oft schwierig. Im Digitalen gilt das besonders, wenn wir etwa einmal betrachten, wer für dieses Digitale je Bundesland oder im Bund zuständig sein soll. Der Bundestag schreibt in seinem Sachstand von Ende 2023 über Digitalministerien auf Bundes-, Landes- und internationaler Ebene, dass es eigentlich nur zwei echte Digitalministerien gibt: das in Bayern und seit Anfang 2024 in Hessen.

In den anderen Ländern ist der Themenbereichs Digitalisierung entweder der Staats-/Senatskanzlei oder einem bzw. mehreren Fachministerien zugeordnet.

Das ist natürlich auch auf Bundesebene so. Volker Wissing ist je nach verkehrs- oder digitalpolitischer Stau-Situation mal Digitalminister dem Namen nach, mal dann doch wieder Verkehrsminister.

Arbeit, Wirtschaft und viel Verkehr

In den Ländern werden die fachlichen Überordnungen dann durchaus bunt. Mal ist es das Innenministerium, mal die Landesregierung, mal das Wirtschaftsministerium, das sich für Digitalisierung zuständig fühlt. In Bremen wird die Zuständigkeit auf zwei Fachlichkeiten verteilt (Wirtschaft und Finanzen), Exoten wie Nordrhein-Westfalen weisen das Thema Digitalisierung dem Bauministerium zu und in Rheinland-Pfalz ist Digitalisierung eher Arbeit. In Sachsen-Anhalt ist Digitalisierung dem Namen nach zwar auch Infrastruktur, aber auch wieder eher Verkehr.

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Männlich, Studium der Rechtswissenschaften, SPD, Jahrgang 1970

Die DMK besteht regulär aus 16 Personen, plus eine weitere Person mit Einladung des Verkehrsministers. Digitalisierung wird immer als Querschnittsaufgabe beschrieben, etwas, was nicht mehr aus der Gesellschaft wegzudenken sei. „Digitalisierung betrifft als Querschnittsthema nahezu alle Lebensbereiche“, heißt es auf der Webseite zur DMK etwa.

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In der DMK darüber diskutieren zu können, ist statistisch gesehen aber wesentlich einfacher, wenn man über die folgenden Eigenschaften verfügt:

  • männlich (71 Prozent)
  • Studium der Rechtswissenschaften (44 Prozent)
  • SPD-Mitglied (44 Prozent)
  • Jahrgang 1970 (Mittelwert der Geburtsjahrgänge)

Volker Wissing ist als Verkehrs- und Digitalminister des Bundes mit einem Geburtsjahrgang 1970 und einem Studium der Rechtswissenschaften also so ziemlich der durchschnittliche Teilnehmer der DMK, von der Partei mal abgesehen.

Die dem Studium nach am ehesten zum Digitalen passende Ausbildung in der DMK hatte übrigens Wolfgang Tiefensee (Jahrgang 1955): Facharbeiter Nachrichtentechnik (Ausbildung), Fachingenieur für Informatik im Bauwesen (Studium) / Diplomingenieur Elektrotechnik (Studium). Gefolgt von Dr. Kristina Sinemus, Professorin für Public Affairs.

Danach wird’s sehr juristisch bis politikwissenschaftlich. Judith Gerlach, ehemalige bayerische Digitalministerin, sagte zwar einmal voller Überzeugung, dass sie als Juristin das mit der Digitalisierung ja auch noch irgendwie so einfach hinkriegen würde. Weil es ihr als Juristin ja leicht falle, sich „schnell und kompetent in neue und komplexe Themen einzuarbeiten“. Diese Aussage könnte wohl von vielen Beteiligten der DMK kommen.

Die Themen

Mit welchen Themen beschäftigen sich die Ministerien und weiteren Zuständigkeiten jetzt so überdurchschnittlich?

Es folgen ganz viele Bubble-Visualisierungen der einzelnen Bundesländer und des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr, die jeweils aus den individuellen Text-Korpora gespeist werden.

Es werden jeweils nur die 25 oder 50 wichtigsten Begriffe visualisiert. Entfernt wurden zuvor Stopwörter, Füllwörter und Eigennamen. Für bestimmte Begriffe wie „Künstliche Intelligenz“ wurden entsprechend alle möglichen Ausprägungen, etwa KI, durch eine einheitliche Form ersetzt.

Baden-Württemberg

Visualisierung der Worthäufigkeiten für BW

Das Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg (Minister Thomas Strobl, CDU), spricht auf seinen Themenseiten Digitalisierung überdurchschnittlich häufig über Cybersicherheit.

Es verortet den Strategiedialog Automobilwirtschaft ebenso im Bereich Digitalisierung, weswegen die Wort-Bubble einen gewissen Automobilfokus aufweist.

Wohlgemerkt in einem Innenministerium.

Bayern

Visualisierung der Worthäufigkeiten für BY

Das Bayerische Staatsministerium für Digitales (Minister Dr. Fabian Mehring, Freie Wähler) erwähnt auf seiner eigenen Webseite relativ häufig Bezeichnungen aus dem Cluster KI, aber auch als eines der wenigen Ministerien das Thema Blockchain (ansonsten nur im Kontext der Blockchainzeugnisse im Saarland).

Darüber hinaus gibt es quasi alles mit Bayern im Wording: BayCode, BayFid – Bayerns Frauen in Digitalberufen, byte als Digitalagentur Bayerns (sic!) und so weiter und so fort.

 

Das Scraping beinhaltet die Inhalte von zwei Legislatur-Perioden. Andere Webseiten haben hier eine klarere Trennung.

Berlin

Visualisierung der Worthäufigkeiten für BE

In Berlin finden sind sich die Inhalte zum Thema Digitalisierung in den Bereichen der Senatskanzlei, federführend unter Staatssekretärin für Digitalisierung und Verwaltungsmodernisierung, Martina Klement, eigentlich politisch verortet in der bayerischen CSU (sic!).

Es gibt aber auch Inhalte der Berliner Smart-City-Strategie, die hier miterfasst wurden.

Überdurchschnittlich häufig dadurch vertreten die Themenfelder Open Data und Smart City – was aber bei anderen Stadtstaaten ähnlich ist.

Brandenburg

Visualisierung der Worthäufigkeiten für BB

Im Land Brandenburg liegt das Thema Digitalisierung in der Staatskanzlei Brandenburg – Referat Digitale Gesellschaft unter Dr. Benjamin Grimm (SPD), Staatssekretär in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg, Beauftragter für Medien und Digitalisierung.

Die Themen sind stärker fokussiert auf das Thema Digitale Verwaltung, im Besonderen auf die OZG-Leistungen Ein- und Auswanderung – Brandenburg hat dort die Federführung. Eine Webseite mit den seltsamsten URLs – test-detailseite-2-24 lässt grüßen.

Bremen

Visualisierung der Worthäufigkeiten für BR

In der DMK für Bremen war Dr. Martin Hagen (Grüne), in Bremen beim Senator für Finanzen, die in Bremen für den Senat der Freien Hansestadt Bremen das Thema Digitalisierung mit begleiten (neben der Senatorin für Wirtschaft, Häfen und Transformation).

Verwaltungsschwerpunkt, viel Onlinezugangsgesetz und das eher seltene Thema Vergabe, Beschaffung und e-Rechnung.

Hamburg

Visualisierung der Worthäufigkeiten für HH

Der Stadtstaat Hamburg, vertreten durch die Senatskanzlei Hamburg in Person von Jan Pörksen (SPD, seit 2020), hat eigentlich nur eine Webseite zur Digitalisierung bei der Senatskanzlei selbst.

Hamburg bündelt seine digitalen Themen aber auch auf der Themenseite Hamburg digital. Dort geht es viel um Onlinedienste, Verwaltungsleistungen, Daten, Fachverfahren, aber auch viel um Modul F – Hamburgs Beitrag zur Digitalisierung der Verwaltung als Low-Code-Baukasten.

Hessen

Visualisierung der Worthäufigkeiten für HE

Das zweite echte Digitalministerium ist das Hessische Ministerium für Digitalisierung und Innovation unter Ministerin Prof. Dr. Kristina Sinemus (CDU, seit 2024).

Mischung aus Breitband- und Mobilfunkausbau, viel KI, aber auch digitalen Kompetenzen und Förderung der Digitalisierung des Ehrenamts.

Insgesamt die umfangreichste Webseite mit mehr als 4 Millionen Zeichen.

Mecklenburg-Vorpommern

Visualisierung der Worthäufigkeiten für MV

Das Digitale hängt in Mecklenburg-Vorpommern im Ministerium für Inneres, Bau und Digitalisierung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, geführt von Christian Pegel (SPD, seit 2021).

Besonders im Nordosten: Hier wird noch selbst mittels einer landeseigenen Funkmasteninfrastrukturgesellschaft das Land mit 5G versorgt.

 

 

Niedersachsen

Visualisierung der Worthäufigkeiten für NI

In Niedersachsen liegt die Zuständigkeit für die Digitalthemen beim Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Bauen und Digitalisierung. An der DMK teilgenommen hat Staatssekretär Frank Doods (SPD, seit 2022).

Bemerkenswert in den Texten in Niedersachsen: hohe KI-Dichte (dichter als Digitalisierung).

 

 

Nordrhein-Westfalen

Visualisierung der Worthäufigkeiten für NRW

An der Wortwolke des Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen lässt sich auch an den digitalen Themen ganz klar zeigen: Hier geht es ums Bauen, primär. Building Information Modeling, Digitales Bauen und so weiter.

Darüber hinaus einiges an E-Government und Onlinezugangsgesetz, allerdings generell auch eher wenig Content in Anbetracht auf die Bevölkerungsgröße.

Ministerin ist Ina Scharrenbach (CDU, seit 2022).

Rheinland-Pfalz

Visualisierung der Worthäufigkeiten für RLP

Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung Rheinland-Pfalz unter Führung von Alexander Schweitzer (SPD, seit 2021) ist thematisch eher als eine Mischung aus Verwaltungsdigitalisierung und Breitband- und Mobilfunkausbau zu sehen.

Besonders: relativ viele Themen mit Gigabit. Zumindest gibt es ein eigenes Gigabitkompetenzzentrum und eine Gigabitstrategie.

Saarland

Visualisierung der Worthäufigkeiten für SL

Das Saarland, vertreten durch das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitales und Energie unter Jürgen Barke (SPD, seit 2022), zeigt einen Unternehmens- und Wirtschaftsfokus auch im Themenbereich Digitalisierung – wie von einem Wirtschaftsministerium zu erwarten.

Zusammen mit Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gibt es hier noch am meisten Cybersicherheits-Themen.

 

 

Sachsen

Visualisierung der Worthäufigkeiten für SN

In Sachsen ist formal eigentlich das Sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr für Themen der Digitalisierung zuständig. An der DMK nahm Ines Fröhlich teil, Staatssekretärin für Digitalisierung und Mobilität (SPD, seit 2019).

Sachsen präsentiert die Inhalte zum Thema Digitalisierung auf einer eigenen Microsite – eine Mischung aus Digitalstrategie, Auflistung von Digitalpreisen und Fördermaßnahmen.

Daher zeigt die Bubble auch eher nur blumige Begrifflichkeiten mit diversen Handlungsfeldern.

Sachsen-Anhalt

Visualisierung der Worthäufigkeiten für SA

In Sachsen-Anhalt liegt das Thema Digitalisierung im Ministerium für Infrastruktur und Digitales des Landes Sachsen-Anhalt. Hausleitung dort ist Lydia Hüskens (FDP, seit 2021).

Thematisch geht es dort relativ viel um Netzausbau-Themen, WLAN und Verwaltungsleistungen, aber auch um Schulen ans Netz.

 

 

Schleswig-Holstein

Visualisierung der Worthäufigkeiten für SH

In Schleswig-Holstein ist der Chef der Staatskanzlei zugleich Digitalisierungsminister und damit für Digitalthemen zuständig. Damit hat Schleswig-Holstein mit Dirk Schrödter (CDU, seit 2022) quasi einen Digitalminister ohne Ministerium.

Thematisch ist Schleswig-Holstein eine Mischung aus KI-, Verwaltungs- und Wirtschaftsthemen. Besonders aber: In Schleswig-Holstein gibt es staatlich unterstützte Digitale Knotenpunkte zur Förderung der Verbreitung und Ausbreitung von digitalen Technologien als Bestandteil digitaler Partizipation. So eine Art staatliches Verzeichnis von Maker- oder Hackerspaces (inklusive Chaosspaces wie in Lübeck).

Thüringen

Visualisierung der Worthäufigkeiten für TH

Thüringen geht mit dem Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und digitale Gesellschaft einen zumindest sprachlich etwas abweichenden Weg. Hier geht es viel um digitale Gesellschaft, weniger um bloße Digitalisierung. Minister ist Wolfgang Tiefensee (seit 2021, SPD).

Leider hat das Ministerium nur eine Seite zur Digitalen Gesellschaft online, weswegen noch der Thüringer Digitalmonitor Themen liefern musste. Darunter viel KI, aber auch Kultur und Museen. Auf jeden Fall zumindest inhaltlich etwas mehr gesellschaftlich orientiert.

Bundesministerium für Digitales und Verkehr

Visualisierung der Worthäufigkeiten für das BMDV

Im Hause Dr. Volker Wissings (FDP, seit 2021), dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr, geht es im digitalen Bereich ganz klar um Daten, Daten, Daten und KI. Weit mehr als in allen anderen Digitalabteilungen auf Landesebene – zumindest lexikalisch gesehen. Und Verkehr und Mobilität. Und der Förderung dessen über den mFUND. Etwas 5G ist auch dabei, aber auch etwas Building Information Modeling.

Bemerkenswert: Über Digitalisierung, sonst das Universalwort bei allen anderen, wird weniger geschrieben im BMDV.

Sonstige Themen

  • Open Source: Zumindest ansatzweise zu finden thematisch im Saarland und Schleswig-Holstein. Generell aber kaum genannt.
  • Open Data: Der Themenkomplex kommt auf sehr vielen Seiten vor, wenn auch auf niedrigem Niveau. Besonders häufig in Berlin, dort aber auch wegen Nennung in der Smart-City-Strategie. Gar nicht vorgekommen ist das Thema im Saarland, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz.
  • Digitale Bildung: In Relation selten vorkommend, aber relativ häufig in Brandenburg.
  • Digitale Kompetenzen: Generell politisch wertvoll und wichtig, thematisch aber selten genannt, aber relativ häufig in Sachsen, Brandenburg und Hessen.
  • Autonomes Fahren: Begriffe um den Komplex autonomes Fahren werden in Relation in Baden-Württemberg häufiger genannt als im Bundesverkehrs- und Digitalministerium.
  • KI: Wird auf quasi keiner Seite nicht genannt. Ist auf guten Wege, Digitalisierung als Buzzword abzulösen auf Ebene der Webseiten der Digitalministerien.

Alles zusammen

Hinweis: Durch den immensen Unterschied im Umfang der Webseiten von mehr als 4 Millionen Zeichen aus Hessen bis zu 33.813 in Rheinland-Pfalz ist diese Ansicht nur als grobe Tendenz zu sehen.

Visualisierung der Worthäufigkeiten für alle Länder

Angenommen, 17 Personen auf einer Digitalministerkonferenz bringen alle ihre Themen mit an den Tisch: Worüber würden sie sprechen? Digitalisierung, KI, Daten, Unternehmen, Verwaltung. Technisch vielleicht 5G und Breitbandausbau. Etwas Smart City. Das würde zumindest das Bild aller Inhalte der Teilnehmenden der DMK ergeben.

Am Ende wurde unter anderem gesprochen über:

Alles nicht ganz überraschend, auch ganz ohne sich die Zukunft von einem Chatbot deuten lassen zu müssen.

Ob aus dieser Ansammlung von Personen und Themen jetzt eine wirkliche Beschleunigung der Digitalisierung folgt oder ob es nur eine weitere Sprechen-aber-nicht-Handeln-Runde zur Digitalisierung wird, bleibt zumindest spannend. Texte in Webseiten sind ja erst mal geduldig.


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11.05.2024 08:28

Ein Abschied und drei neue Projekte. Wir stellen euch im Schnelldurchlauf die wichtigsten Neuerungen der letzten Monate vor. Ein Ticker, eine Konferenz und unser neuer Doku-Podcast „Systemeinstellungen“.

Ein Läufer steht im Startblock einer Rennstrecke bereit zum Losrennen
Dieses Jahr sind schon drei große Projekte an den Start gegangen. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Sergey Trofimov

Es war lange still bei unserem Off-the-Record-Podcast, aber das nicht ohne Grund: Seit Anfang des Jahres gab es einen großen Abschied und drei große Startschüsse. Markus Beckedahl hat netzpolitik.org nach fast 20 Jahren verlassen, wir haben einen Ticker gestartet, planen eine große Konferenz und außerdem ist gerade die erste Folge unseres Doku-Podcasts „Systemeinstellungen“ erschienen. Es werden sechs weitere Episoden folgen, jeden Freitag.

Wir nehmen euch mit auf einen kurzen Überblick zu unseren Baustellen, auf denen fleißig gewerkelt wurde und wird. Und da wir zu jeder eigentlich eine eigene Folge machen könnten, hören wir uns bald wieder!


In dieser Folge: Anna Biselli und Sebastian Meineck.
Produktion: Serafin Dinges.
Titelmusik: Trummerschlunk.


Hier ist die MP3 zum Download. Wie gewohnt gibt es den Podcast auch im offenen ogg-Format.


Unseren Podcast könnt ihr auf vielen Wegen hören. Der einfachste: in dem eingebundenen Player hier auf der Seite auf Play drücken. Ihr findet uns aber ebenso bei Apple Podcasts, Spotify und Deezer oder mit dem Podcatcher eures Vertrauens, die URL lautet dann netzpolitik.org/podcast.


Wie immer freuen wir uns über Kritik, Lob und Ideen, entweder hier in den Kommentaren oder per Mail an podcast@netzpolitik.org.


Links und Infos


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10.05.2024 18:14

Der Europäische Gerichtshof hat letzte Woche bei der anlasslosen Speicherung von IP-Adressen dem hohen Druck wieder etwas nachgegeben: Unter bestimmten Bedingungen ist eine anlasslose Speicherung möglich. Er tut seiner eigenen Autorität damit keinen Gefallen. Doch was heißt das Urteil für die deutsche Debatte um die Vorratsdatenspeicherung?

Marco Buschmann und Nancy Faeser in einer hitzigen Debatte
Marco Buschmann und Nancy Faeser im Bundestag (Archivbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Future Image

Als letzte Woche ein weiteres Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Frage der Vorratsdatenspeicherung verkündet wurde, war die Aufregung groß. EU-Staaten dürfen Providern nun eine Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von IP-Adressen auferlegen, wenn diese Speicherung keine genauen Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person erlaubt.

Der Zugriff auf IP-Adressen ist seither auch weniger geschützt. Unter bestimmten Bedingungen ist bereits die Verfolgung von Filesharing über IP-Adressen möglich, um die es in dem französischen Hadopi-Fall ging. Die Behörde Hadopi spricht bei den ersten beiden Verstößen an Filesharer eine Warnung aus. Dafür muss Hadopi sie aber zuvor finden: Die französische Regierung erlaubt daher, die Identitätsdaten der Filesharer über deren IP-Adressen von Providern abzufragen.

Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hat, lohnt sich ein weiteres Nachdenken über die Entscheidung, vor allem mit dem Blickwinkel auf die scheinbar unendliche deutsche Debatte um die anlasslose Massenüberwachung. Die Erosion der Rechtsprechung des EuGH war für viele Beobachter leider absehbar, auch wenn nicht wenige auf die Standfestigkeit in Fragen der Ablehnung einer verdachtslosen Telekommunikationsdatensammlung gehofft hatten.

Das absolut Notwendige

Matthias Bäcker, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Mainz und Prozessbevollmächtigter der SpaceNet AG, die mit einer EuGH-Entscheidung erfolgreich die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland stoppen konnte, bewertet die Entscheidung gelassen: Der EuGH hätte zwar nun „noch eine weitere Schippe draufgelegt“, da jetzt die Begrenzung auf schwere Kriminalität nicht mehr gelte, aber seit dem Jahr 2020 sei bereits ein Prozess des Zurückruderns zu beobachten gewesen.

Das EuGH-Urteil aus dem Jahr 2016 war das radikalste und erklärte eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung für unvereinbar mit dem Unionsrecht. Auch in den beiden EuGH-Urteilen des Jahres 2020 hielt das Gericht an seiner Linie fest, dass weiterhin für Telekommunikationsanbieter im Grundsatz die allgemeine und unterschiedslose Speicherungs- bzw. Weiterleitungspflicht von Verkehrs- und Standortdaten nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Denn ein solcher Eingriff in die entsprechenden Grundrechte beschränke sich eben nicht auf das absolut Notwendige.

Bei der Speicherung von IP-Adressen ließ der EuGH aber bereits 2020 Ausnahmen zu und bewertet sie als weniger intensive Grundrechtsbeeinträchtigung. Denn eine IP-Adresse ließe weniger Aufschluss darüber zu, wer mit einem Betroffenen kommuniziere, und sei als geringere Gefahr für eine umfassende Profilierung von Nutzerinnen und Nutzern anzusehen.

Doch der politische Druck ließ nicht nach, und beim Luxemburger Höchstgericht bröckelte die Abwehrfront. Denn es kamen auch nach dem Urteil weitere Versuche nationaler europäischer Gesetzgeber hinzu, um alle Kommunikationsdaten noch anlasslos festzuhalten, die vielleicht gerade noch möglich erscheinen. Letztlich hat der EuGH bei den IP-Adressen nun dem hohen Druck wieder etwas nachgegeben.

Eigentor für den EuGH

Bäcker beschreibt den nicht nachlassenden politischen Druck, den er auch als Prozessbevollmächtigter in Luxemburg deutlich verspürt habe. Die ergangenen EuGH-Urteile seien in Deutschland breit diskutiert worden, hätten in anderen Staaten der EU jedoch weit weniger Akzeptanz gefunden. Generell sei die Akzeptanz der EuGH-Urteile anderswo in Europa geringer als in Deutschland, das mit dem Bundesverfassungsgericht ein angesehenes Höchstgericht hat, dessen Vorgaben hohen Respekt genießen. Eine solche Institution fehlt in einigen EU-Staaten oder ihr wird in der gesellschaftlichen Debatte weniger Bedeutung eingeräumt. Damit verändert sich auch der politische Umgang mit EuGH-Urteilen. Die Mehrzahl der Regierungen der EU-Staaten wollen zudem mindestens die anlasslose Speicherung der IP-Adressen.

Das neue Urteil versucht, Begrenzungen einzubauen und vor allem einer Profilierung des Surfverhaltens vorzubeugen. Inhaltlich überzeugen können diese Begrenzungen den Juristen Bäcker indes nicht. Die Beschränkungen der Nutzung der IP-Adressen sei vielleicht für die Hadopi-Stufen möglich, aber sonst nur schwer vorstellbar. Etwa beim Zugriff in Strafverfahren wäre nicht klar, wie eine Profilierung der Betroffenen vermieden werden solle.

Doch welches problematische Signal setzt das Hohe Gericht, wenn es seine eigene Rechtsprechung in kleinen Schritten aufweicht? Da wäre einmal die Wirkung nach innen, also eine Botschaft an die EU-Staaten, dass ein jahrelanges Trommelfeuer gegen Grundrechte auch Erfolge nach sich zieht, dass rote Linien des Gerichts nicht wirklich rote Linien sind. Denn ein Zurückrudern hinter eigens festgeschriebene Grenzen ist das neue Urteil in jedem Fall, mögen sie auch weniger signifikant sein als zunächst befürchtet.

Das könnte zum Eigentor für den EuGH werden, der seine Autorität aus seinem kontinuierlichen Eintreten für die Grundrechte zieht. Für das Nicht-EU-Ausland, vor allem in Staaten, deren Menschenrechtslage problematisch ist, erscheint das Zurückweichen vor dem Überwachungsdruck und das schrittweise Zulassen anlassloser massenhafter Datenberge wie ein Menetekel: Wenn auch in der EU der Massenüberwachung immer weniger Einhalt geboten wird, macht das den Kampf anderswo auf der Welt nur noch schwerer.

Diesmal hat das Plenum aller Richter entschieden. Offensichtlich kam keine Einigung in der Großen Kammer zustande, so dass eine Plenarentscheidung her musste. An ihr dürfte nun allerdings eine Weile festgehalten werden, auch weil das aktuelle Urteil das letzte in absehbarer Zeit sein wird. Neue Entscheidungen stehen in Luxemburg erstmal nicht an.

Insofern bleibt ein Grund zur Freude für alle, denen die Grundrechte am Herzen liegen: Die Standortdaten und auch die Metadaten der Kommunikation bleiben vor anlassloser Massenüberwachung fürs Erste geschützt, Kontakt- und Bewegungsprofile aller Menschen anhand von Kommunikationsdaten soll es eigentlich in der EU nicht geben. Denn in der Frage, ob eine anlasslose Massenüberwachung der Kommunikationsdaten der gesamten Bevölkerung mit den Grundrechten vereinbar ist, hat sich nichts geändert, auch wenn einige EU-Staaten versuchen, die bestehenden EuGH-Urteile zu umgehen. Die Antwort auf die Frage lautet weiterhin im Grundsatz nein.

Kein Appetit auf noch eine blutige Nase

Vorratsdatenspeicherung in Deutschland nicht abgeschafft

Das Urteil könnte für die deutsche Debatte dennoch bedenkliche Folgen haben und die Streitigkeiten in der Ampel vertiefen. Wer hierzulande nicht mehr durchblickt: Der aktuelle Stand in der bundesdeutschen Debatte ist eine Art Stellungskrieg – keiner bewegt sich. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte zwar verkündet, dass sich die Bundesregierung auf das Quick-Freeze-Verfahren geeinigt hätte, das grundrechtsschonender ist. Für „Quick Freeze statt anlassloser Vorratsdatenspeicherung“ hätte der Minister „seit vielen Monaten gekämpft“ und sei nun erfolgreich gewesen.

Aber das scheint alles Ansichtssache. Denn auf den Fuß folgte eine Erklärung des SPD-geführten Innenministeriums (BMI), die eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen fordert, als hätte es Buschmanns Ankündigung der Einigung nie gegeben. Das BMI stellte seine Sicht dar: Die Einigung „beinhaltet ausdrücklich keine Vereinbarung darüber, ob und wie IP-Adressen künftig gespeichert werden“. Diese Frage werde explizit ausgeklammert. „Anders als der erste Entwurf des BMJ, der eine Abschaffung dieser Regelung vorsah, soll der künftige Entwurf, so wie wir die Verständigung innerhalb der Koalition verstehen, eine solche Regelung eben nicht beinhalten.“

Buschmanns Haus kündigte zwar an, einen aktualisierten Referentenentwurf zu Quick Freeze bald in die „Ressortabstimmung“ geben zu wollen. Doch seit Wochen herrscht nun wieder Stillstand.

Vorratsdatenspeicherung

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Die derzeitige Fassung der Vorratsdatenspeicherung ist in Deutschland eben nicht abgeschafft und nie aus dem Gesetz gestrichen worden. Der Verband der Internetwirtschaft eco, der die SpaceNet AG beim Gang zum EuGH unterstützt hatte, forderte vor dem aktuellen Urteil im Zusammenhang mit der politischen Einigung auf das Quick-Freeze-Verfahren daher die konsequente Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung.

Die SpaceNet AG hat ihren Fall zwar vor dem EuGH gewonnen, sie muss keine Telekommunikationsdaten ohne Anlass speichern, betont Bäcker. Auch für die Deutsche Telekom besteht keine Speicherpflicht. Es bleibt klargestellt, dass das deutsche Gesetz gegen EU-Recht verstößt.

Aber was ist mit anderen Providern? Könnte die Bundesnetzagentur nun eine Speicherung der IP-Adressen von anderen Providern wie etwa Vodafone verlangen? Dass nach dem aktuellen EuGH-Urteil das deutsche Gesetz anwendbar sein könnte, will Bäcker nicht ausschließen.

Umso dringlicher wird es, dass der Gesetzgeber nun Klarheit schafft. Da könnte der Koalitionsvertrag weiterhelfen, denn darin hat sich die Ampel darauf geeinigt, dass Daten nur „anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss“ gespeichert werden sollen.


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10.05.2024 17:54

Die 19. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 14 neue Texte mit insgesamt 119.887 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

Liebe Leser*innen,

wir sind heute alle etwas aufgeregt. Vor allem Anna, Chris, Ingo, Serafin und ich. Na gut, in Wahrheit sind wir sogar SEHR aufgeregt. Denn heute haben wir etwas veröffentlicht, an dem wir eineinhalb Jahre lang gearbeitet haben. Unseren neuen Doku-Podcast „Systemeinstellungen“.

In dem Podcast erzählen wir die Geschichten von Menschen, die plötzlich ins Visier des Staates geraten: Hausdurchsuchung! Handy her!

Die erste Episode heißt „Link-Extremismus“ und ist – trotz der langen Vorarbeit – brandaktuell. Denn sie handelt von einem Journalisten, der jetzt gerade in Karlsruhe vor Gericht steht. Im drohen bis zu drei Jahre Gefängnis. Der Grund: Er hat in einer Nachrichtenmeldung eine Website verlinkt, die Website von Linksunten Indymedia. Und wenn ihr euch jetzt denkt: Hä bitte, was?! Ja, die Story ist genau so kurios, wie sie auf den ersten Blick scheint.

Der Doku-Podcast ist ein großes Ding für uns bei netzpolitik.org. In der Form haben wir so etwas noch nie zuvor gemacht. Zur Vorbereitung habe ich mir erst mal intensiv andere Doku-Podcasts angehört, weil ich wissen wollte: Wie haben die Geschichten erzählt? Warum gefallen mir einige Podcasts so gut, dass ich sie am liebsten mehrfach hören würde – und wie können wir selbst so etwas hinbekommen?

Ich glaube, das ist ein Grund, warum die Arbeit an „Systemeinstellungen“ so lange gedauert hat. Das war für uns keine Routine. Wir alle haben uns die Zeit genommen, einige Dinge das erste Mal zu machen. Und mehrfach zu überarbeiten, bis wir damit wirklich zufrieden sind.

Immer noch Schauer

In den letzten Wochen hat sich nochmal eine Menge getan. Anna, Chris, Ingo und ich haben im Akkord redigiert und Fakten gecheckt. Serafin hat immer wieder Schnittfassungen zum Probehören rausgehauen. Der ehemalige netzpolitik.org-Redakteur und Musiker Daniel Laufer hat uns eine Titelmusik komponiert. Und von unserer aktuellen Praktikatin und Kommunikations-Designerin Lea Binsfeld kommt das gelbgrüne Cover. Beim Joggen und Kochen und Wäsche-Aufhängen hatte ich immer wieder „Systemeinstellungen“ im Ohr – auf der Suche nach letzten Details, die man optimieren könnte.

Ich hoffe, das Ergebnis gefällt euch! Einige Ereignisse, von denen wir erzählen, sind wirklich krass. Also: Die wühlen einen schon auf. Auch beim zehnten Hören bekomme ich an den entsprechenden Stellen ehrlich gesagt immer noch Schauer. Es ist halt die eine Sache, vor Überwachung und staatlicher Einschüchterung zu warnen und Gesetzentwürfe zu analysieren… aber eine völlig andere Sache, direkt mit betroffenen Menschen darüber zu sprechen und ihre Geschichten zu hören.

Schreibt uns gerne, wie ihr den Podcast findet, an podcast@netzpolitik.org. Und schickt den Podcast bitte auch an interessierte Freund*innen oder Familien-Mitglieder weiter!

Nächsten Freitag kommt dann die zweite von insgesamt sieben Folgen: Razzia im Pfarrhaus. Klingt wie eine Episode von „Die drei ???“, meinte eine Kollege. Ich bin mir sicher, da werden wir wieder aufgeregt sein.

Viel Freude beim Hören und schönes Wochenende
Sebastian


Italienische „Postkarten-Steuer“: Gemeinfreie Werke unter Gebührenzwang

Nach dem italienischen Kulturgüterschutzgesetz ist eine spezielle Verwaltungsabgabe zu zahlen, wenn historische Gebäude und Kunstwerke abgebildet werden. Ein Urteil des Stuttgarter Landgerichts hat den kuriosen Gebührenforderungen nun endlich Grenzen gesetzt. Und das Kulturministerium in Rom ergänzte die Vorschrift immerhin um Ausnahmen für die Wissenschaft. Von Lukas Mezger –
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Neues aus dem Fernsehrat (105): ARD und ZDF präsentieren StreamingOS auf Open-Source-Basis

Die Zusammenführung der Entwicklung ihrer Mediathek-Software unter dem Titel „Streaming OS“ nutzen ARD und ZDF auch dazu, diese Open Source zu machen. Neben den üblichen Vorteilen von Freier und Open-Source-Software sind damit auch spezifische Vorteile für öffentlich-rechtliche Medien verbunden. Von Leonhard Dobusch –
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Jetzt Trailer hören: Podcast „Systemeinstellungen“ erscheint ab 10. Mai

Hausdurchsuchung! Handy her! Was passiert mit Menschen, die unerwartet ins Visier des Staates geraten? In „Systemeinstellungen“ erzählen Betroffene, wie sich ihr Leben schlagartig verändert. Ein Podcast über Ohnmacht und erschüttertes Vertrauen. Von netzpolitik.org –
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Hackbacks: Zurückhacken ist keine Verteidigung

Die Regierung hat sich im Koalitionsvertrag von Hackbacks klar distanziert, doch aus der CDU und von Ex-Geheimdienstlern kommt aktuell die Forderung nach digitaler Eskalation. Dabei verdreht Ex-BND-Chef Schindler die Tatsachen und stellt das Zurückhacken als Abwehr dar. Doch ein Hackback ist ein Gegenangriff und damit eine offensive Angriffsmaßnahme. Ein Kommentar. Von Constanze –
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Biometrische Suchmaschine: Londoner Polizei soll tausendfach PimEyes aufgerufen haben

Auch in London darf die Polizei die umstrittene Gesichter-Suchmaschine PimEyes nicht nutzen. Dennoch sollen Beamt:innen die Seite mehr als 2.000 Mal aufgerufen haben. Jetzt hat die Behörde den Zugriff über Dienstgeräte gesperrt. Von Chris Köver –
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Mobilitätsdatengesetz: Reisebuchung mit verschiedenen Verkehrsmitteln soll leichter werden

Reisen über Länder und Verkehrsmittel hinweg zu planen, ist heute immer noch sehr kompliziert. Das neue Mobilitätsdatengesetz soll Abhilfe schaffen und dazu führen, dass vom Fahrplan des lokalen Busunternehmens über den E-Roller bis zur Ladestation die Daten ausgetauscht und vernetzt werden können. Von Markus Reuter –
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OZG-Vermittlungsausschuss: Länder fordern mehr Einfluss und mehr Geld

Der Bundesrat hat das Onlinezugangsgesetz 2.0 im März abgelehnt. Eine Einigung soll nun der Vermittlungsausschuss bringen. Vor der ersten Sitzung Mitte Mai bekräftigen die Länder ihre Forderungen nach mehr Einfluss sowie nach einer stärkeren finanziellen Beteiligung des Bundes. Von Esther Menhard –
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OpenAI: Neues Werkzeug soll KI-generierte Bilder erkennen

Ein neues Tool von OpenAI soll erkennen können, ob ein Bild echt ist oder mit dem Bildgenerator DALL-E erstellt wurde. Etwas ähnliches hat das gehypte Unternehmen bereits für seine KI-generierten Texte versprochen – und ist daran gescheitert. Von Chris Köver –
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Urteil: EU-Parlament muss Abrechnungen von griechischem Neonazi-Abgeordneten herausgeben

Erstmals muss das Europäische Parlament Abrechnungsdaten eines Abgeordneten herausgeben. Weil Ioannis Lagos wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurde, überwiegt das öffentliche Interesse, urteilte das Gericht der Europäischen Union. Von Markus Reuter –
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Sea-Watch: Italien will Gegenüberwachung über dem Mittelmeer stoppen

2017 hat die EU-Kommission eine Hintertür für Pushbacks nach Libyen geschaffen. Im gleichen Jahr begann Sea-Watch die Beobachtung dieser Menschenrechtsverletzungen aus der Luft. Damit soll nun Schluss sein. Von Matthias Monroy –
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Systemeinstellungen: #01 Link-Extremismus

Aktuell muss sich ein Journalist in Karlsruhe vor Gericht verantworten. Ihm drohen bis zu drei Jahre Gefängnis. Der Grund: Er hat eine Website verlinkt. Episode #1 unseres Doku-Podcasts „Systemeinstellungen“ erzählt die erstaunliche Geschichte hinter dem Strafprozess. Von Serafin Dinges, Sebastian Meineck –
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Informationsfreiheit: „Die Regierung selbst hat kein Interesse an Transparenz“

Wer das Informationsfreiheitsgesetz nutzen will, sollte bei der Plattform „Frag den Staat“ vorbeischauen. Wir sprechen mit Arne Semsrott über Aktivismus, nachhaltige Erfolge, Olaf Scholz’ Haltung zu Transparenz und wie Ministerien Kampagnen für mehr Informationsfreiheit gegen die Wand fahren ließen. Von Constanze –
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Chatkontrolle: Belgien kurz vor Scheitern der Verhandlungen

Die EU-Staaten diskutieren, ob sie die Chatkontrolle auf Bilder und Videos beschränken wollen. Das hat die belgische Ratspräsidentschaft vorgeschlagen. Einige Staaten lehnen das jedoch ab. Die Verhandlungen sind seit Wochen festgefahren. Von Andre Meister –
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Gesichtserkennung: BKA nutzte Fotos aus Fahndungsdatenbank für Software-Tests

Millionen Gesichtsbilder aus der zentralen INPOL-Datenbank stellte das Bundeskriminalamt zur Verfügung, um die Performance von mehreren Gesichtserkennungssystemen zu testen. Rechtsfachleute zweifeln an der Rechtmäßigkeit, ein mutmaßlich Betroffener überlegt zu klagen. Von Anna Biselli –
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10.05.2024 13:48

Millionen Gesichtsbilder aus der zentralen INPOL-Datenbank stellte das Bundeskriminalamt zur Verfügung, um die Performance von mehreren Gesichtserkennungssystemen zu testen. Rechtsfachleute zweifeln an der Rechtmäßigkeit, ein mutmaßlich Betroffener überlegt zu klagen.

In Stein gehauene, verschiedene Gesichter
Tests mit echten Daten: Darf die Polizei das? – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Andrew Seaman

Mit Gesichtserkennungs-Software gleicht das Bundeskriminalamt beispielsweise Bilder von Überwachungskameras mit polizeilich bekannten Gesichtern ab, vor allem der sogenannten INPOL-Datei. 7.697 Suchläufe waren es im Jahr 2022, dabei wurden 2.853 zuvor unbekannte Personen identifziert.

Um verschiedene Software-Produkte zu vergleichen, ließ das BKA bis zum Jahr 2019 vom Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung mehrere Gesichtserkennungssysteme im Projekt EGES vergleichen – kurz für: Ertüchtigung des Gesichtserkennungssystem im BKA.

Recherchen des Bayerischen Rundfunks auf Basis von Informationsfreiheitsanfragen des CCC-Sprechers Matthias Marx haben nun ergeben, dass das BKA dem Institut dafür mehrere Millionen Gesichtsbilder von drei Millionen Personen zur Verfügung stellte. Sie stammten vor allem aus der zentralen INPOL-Datenbank.

Millionen von Gesichtern

Im Abschlussbericht des Projekts heißt es zum Datenbestand etwa:

Kopien von ca. 5 Millionen digitalen Bildern, die in INPOL-Z als frontale Gesichtsbilder von ca. 3 Millionen Personen markiert sind.

Dazu kamen Bilder von Freiwilligen, jedoch in weit geringerem Umfang, etwa „von 147 freiwilligen Testpersonen mindestens zwei digitale frontale Gesichtsbilder, die unter idealen Bedingungen über einen Zeitraum von etwas mehr als neun Jahren aufgenommen wurden“.

Aus einer weiteren Informationsfreiheitsanfrage zur diesbezüglichen Korrespondenz des Bundesdatenschutzbeauftragen mit dem BKA wird klar, dass den Beteiligten bewusst war, dass das Vorgehen rechtlich sensibel war.

Rechtsgrundlage mangelhaft

In einem Schreiben fragt ein Mitarbeiter des Bundesdatenschutzbeauftragten das BKA selbst nach der entsprechenden Rechtsgrundlage. Das wiederum beruft sich darauf, dass es keine Datenweitergabe gegeben habe und verweist auf ein kompliziertes System, bei dem etwa ein Rechner ohne Verbindung zum Internet und ohne externe Schnittstellen zum Einsatz kam. Nach Projektende seien alle Festplatten physisch zerstört worden.

Das BKA berief sich unter anderem auf einen Paragrafen im BKA-Gesetz, der die Nutzung der Daten für Forschungszwecke erlaubt. Ganz überzeugt hat das den Bundesdatenschutzbeauftragten offenbar nicht, er sieht in dem Vergleich von kommerziellen Produkten keine Forschung. „Es mangelt an einer Rechtsgrundlage“, heißt es in einem Schreiben. Beanstanden wollte er das Projekt aber nicht, wegen der komplexen rechtlichen Situation. Nach monatelangem Austausch mit dem BKA heißt es von Seiten des Datenschutzbeauftragten: „Eine Einigung konnte indes nicht erzielt werden.“

Der vom BR befragte Rechtswissenschaftler Mark Zöller ist ebenfalls skeptisch. Die Sicherheitsbehörde müsse sich an das BKA-Gesetz halten. Und das regele nicht, welche Daten für Software-Tests genutzt werden dürfen.

Janik Besendorf, dessen Bild mutmaßlich auch für die Tests genutzt worden waren, hat nun Beschwerde beim Bundesdatenschutzbeauftragen eingereicht. Er war erkennungsdienstlich behandelt worden. Das zugehörige Verfahren wurde zwar eingestellt, er geht aber davon aus, in der Datensammlung gelandet zu sein. Der IT-Sicherheitsexperte überlegt außerdem, in der Sache gegen das BKA zu klagen.


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10.05.2024 12:49

Die EU-Staaten diskutieren, ob sie die Chatkontrolle auf Bilder und Videos beschränken wollen. Das hat die belgische Ratspräsidentschaft vorgeschlagen. Einige Staaten lehnen das jedoch ab. Die Verhandlungen sind seit Wochen festgefahren.

Belgische Innenministerin Annelies Verlinden
Belgische Innenministerin Annelies Verlinden. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Belga

Die EU-Staaten haben am Mittwoch in der Arbeitsgruppe Strafverfolgung wieder über die Chatkontrolle verhandelt. Dort waren die Verhandlungen nach fast zwei Jahren zuletzt festgefahren.

Im Gegensatz zu bisherigen Sitzungen hat die belgische Ratspräsidentschaft vorher keinen neuen Textvorschlag erarbeitet und verschickt. Stattdessen hat die Ratspräsidentschaft mündlich ein neues Konzept vorgestellt.

Laut einem Sprecher des Rats schlägt Belgien vor, die Chatkontrolle auf visuelle Inhalte zu beschränken, also auf Bilder und Videos. Audio- und Textinhalte sollen demnach nicht mehr gescannt werden.

Außerdem schlägt die Präsidentschaft „eine Upload-Moderation mit Zustimmung der Nutzer“ vor, so der Sprecher weiter: „Wenn die Genehmigung erteilt wird, kann Bildmaterial hochgeladen werden, das dann mit einer speziellen, überprüften Software aufgespürt werden kann.“

Keine Einigung in Sicht

Da die EU-Staaten den Vorschlag nicht vorher prüfen konnten und es noch keine schriftliche Version gibt, haben sie unter Vorbehalt diskutiert. Einige Staaten lehnen eine Einschränkung der Chatkontrolle auf Bilder und Videos jedoch ab, sie wollen sämtliche Inhalte scannen.

Andere Staaten lehnen es ab, neben bekannter strafbarer Kinderpornografie auch nach unbekannten Inhalten und Grooming zu suchen. Vor allem die Niederlande kritisieren diesen Punkt in jeder einzelnen Verhandlungsrunde. Einige Staaten fragten, „wie sich die Upload-Moderation mit dem Aspekt Verschlüsselung verhält“.

Zwar fordern die meisten Staaten weiterhin, bald eine Einigung zu finden. Die grundsätzlichen Probleme der Chatkontrolle sind aber weiterhin ungelöst. Daher gibt es unter den Staaten weiterhin keine ausreichende Mehrheit, das Gesetz zu beschließen.

Die belgische Ratspräsidentschaft hat nicht gesagt, wie es weitergehen soll. Laut Kalender finden die nächsten beiden Verhandlungsrunden erst im Juni statt, während und kurz nach der EU-Wahl.

Damit ist es mittlerweile ziemlich unwahrscheinlich, dass Belgien noch eine Einigung der EU-Staaten herbeiführen kann. Anfang Juli übernimmt Ungarn die Ratspräsidentschaft.


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10.05.2024 12:27

Wer das Informationsfreiheitsgesetz nutzen will, sollte bei der Plattform „Frag den Staat“ vorbeischauen. Wir sprechen mit Arne Semsrott über Aktivismus, nachhaltige Erfolge, Olaf Scholz’ Haltung zu Transparenz und wie Ministerien Kampagnen für mehr Informationsfreiheit gegen die Wand fahren ließen.

symbolbild informationsfreiheit
Heute schon interessante Informationen geangelt? CC-BY-SA 2.0 Chris Isherwood

Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es nun das Transparenzportal „Frag den Staat“, und von Anfang an ist Arne Semsrott dabei. Die Website erlaubt es, Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) bequem von der Couch aus loszutreten, sozusagen Klicktivismus für mehr Transparenz – aber mit Anspruch, guter Benutzerführung und zumindest Erfolgsaussicht.

Elisa Lindinger, Elina Eickstädt und Constanze Kurz – das Team des Podcasts „Dicke Bretter“ – sprechen mit Arne Semsrott darüber, was sich in Sachen Transparenz verändert hat, seit Wolfgang Schmidt und Olaf Scholz das Bundeskanzleramt besiedelt haben. Seine Einschätzungen stellen der Ampel-Regierung kein gutes Zeugnis aus. Was ist die Bilanz bei den Verwaltungsgerichten, die in vielen Fällen angerufen werden müssen? Und wie wird es mit „Frag den Staat“ weitergehen?


Arne Semsrott ist Politikwissenschaftler und Aktivist für mehr Transparenz und arbeitet seit zehn Jahren bei der Informationsfreiheitsplattform Frag den Staat. Er engagiert sich auch beim Freiheitsfonds, einem Projekt, bei dem Menschen aus dem Gefängnis freigekauft werden und politisch für eine Entkriminalisierung des Fahrens ohne Ticket geworben wird. Mehrere Jahre hat er auch bei netzpolitik.org über Informationsfreiheit und Transparenz geschrieben.

Sein neues Buch heißt Machtübernahme – Was passiert, wenn Rechtsextremisten regieren. Eine Anleitung zum Widerstand und wird am 3. Juni erscheinen.

Zwischen allen Stühlen

Arne Semsrott
Arne Semsrott.

Elina Eickstädt: Lieber Arne, was ist Informationsfreiheit?

Arne Semsrott: Informationsfreiheit ist das Recht auf Zugang zu Information. Es ist ein Grundrecht, ein Menschenrecht, das wir alle haben. Das ist in Deutschland und in anderen Ländern über Gesetze geregelt, die uns die Möglichkeit bieten, alle möglichen Informationen vom Staat zu holen. Es geht also um alles, was in Aktenschränken liegt und dort teilweise verkümmert. Das können wir besorgen oder wir können zumindest versuchen, es zu besorgen. Und das ist häufig ein ganz schöner Kampf.

Elina Eickstädt: Wo würdest du das Konzept von „Frag den Staat“ als Plattform für Personen, die aktivistisch tätig werden wollen, einordnen? Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz als Aktivismusmittel einzusetzen, ist ja eine neue Idee gewesen.

Arne Semsrott: Ich sehe „Frag den Staat“ als Organisation zwischen allen Stühlen: Sie ist ein mögliches Mittel für Aktivistinnen und für Organisationen, um Druck zu machen, sich Infos zu holen, sich bemerkbar zu machen und Kampagnen oder Vorhaben, die sie haben, zu verstärken.

Es gibt ja diese Informationsfreiheitsgesetze. Über die haben wir die Möglichkeit, Infos vom Staat zu bekommen. Dann ist aber die Frage: Wie kann man das in politischer Arbeit so einsetzen, dass es tatsächlich einen Unterschied macht?

Das offensichtlichste Beispiel: Ich hole mir eine Information, da steht irgendwas Krasses drin. Ein Referat im Innenministerium streitet sich zum Beispiel mit einem Referat im Justizministerium. Ich kriege das mit, weil ich alle E-Mails zwischen den beiden Häusern abfrage. Wenn ich das an die Öffentlichkeit gebe, kann ich vielleicht in einem Gesetzgebungsprozess Druck machen.

Aber es funktioniert auch ein bisschen subtiler. Wenn ich eine spezifische Anfrage stelle, gerade in laufenden Prozessen, dann merken die Behörden das und werden vielleicht achtgeben, was überhaupt in eine Akte reingeschrieben wird. Das heißt, das kann Prozesse ändern durch das Wissen, dass da jemand draufschaut.

Es gibt zudem zahlreiche Ausnahmetatbestände in Informationsfreiheitsgesetzen, sie sind überhaupt verbesserungswürdig. Aber auch wenn ich eine Ablehnung einer Anfrage bekommen, kann ich das für Kampagnen gut nutzen, denn ich kann dann sagen: Seht mal, die haben diesen Gesetzgebungsprozess, aber die geben die Infos nicht raus. Offensichtlich haben die was zu verbergen. Und man kann natürlich auch mit geschwärzten Akten gutes Campaigning machen. Es ist teilweise so, dass Infos, die sie nicht rausrücken, interessanter sind als Infos, die sie rausrücken.

Datenbestände freikriegen

Elisa Lindinger: Ich erinnere mich noch an meine erste IFG-Anfrage über „Frag den Staat“: Das war in der Kampagne „Topf Secret“. Das wäre ein drittes Beispiel, wie die Plattform wirkt: Da geht es weniger darum, eine parteipolitische Agenda zu haben oder quasi hoch aufgehängte Themen zu besetzen, sondern stärker darum, einen Datenbestand freizukriegen, der bisher nicht einsehbar war. Konkret ging es um die Gutachten von Gesundheitsämtern zu Restaurants, in die wir alle gern gehen und essen und vielleicht ganz gern wissen wollen würden, wie es in deren Küche aussieht. Solche Kampagnen habt ihr früher relativ oft gemacht und gefühlt wird das jetzt weniger. Täusche ich mich da?

Arne Semsrott: Nein, das stimmt. Bei „Topf Secret“ geht es um Lebensmittelkontrollberichte und ich glaube, was wir mit dieser Kampagne geschafft haben, ist das Zusammenfassen egoistischer Motive von einzelnen Leuten zu einer Kampagne mit einem höheren Ziel. Ich gehe beispielsweise in ein Restaurant, dann habe ich einen verdorbenen Magen. Dann will ich erstmal sehen: War das Hygieneamt eigentlich da? Vielleicht haben sie ja Hygieneprobleme gefunden.

Es haben jetzt etwa 60.000 Leute Lebensmittelkontrollberichte über die Plattform angefragt – aus ihren eigenen Motiven. Das zusammengenommen ergibt dann eine Kampagne für mehr Transparenz in dem Bereich. Denn wir können natürlich sehr gut sagen: Offensichtlich wollen so viele Leute das wissen, dann wäre es doch viel einfacher, diese Infos von sich aus zu veröffentlichen. Das war immer die Forderung, die wir mitkommuniziert haben.

Interviews

Wir kommen gern ins Gespräch. Unterstütze unsere Arbeit!

Constanze Kurz: Die Kontrollberichte hängen oft auf Papier in den Ämtern, aber sie veröffentlichen sie nicht online.

Arne Semsrott: Ja, es kommt aber auf die Bundesländer an, die machen es unterschiedlich. Das Ziel, was man eigentlich haben will, ist ein bundesweites Gesetz, vielleicht ein Smiley-System, das draußen am Restaurant angebracht werden muss. Das wäre viel leichter für alle.

Man müsste dafür einen Prozess etablieren. Das ist natürlich schwierig, denn Prozesse etablieren ist immer eine große Pein. Letztlich haben die Verwaltungen und das Landwirtschaftsministerium gesagt: Nein, dann ballern sie uns halt mit tausenden Anträgen zu, das müssen jetzt die Ämter alle abarbeiten.

Wir können aber nun zu den einzelnen Ämtern hingehen und sagen: Macht doch bitte Druck beim Bundesministerium, damit sie Gesetze einführen, dann habt ihr diese Arbeit nicht mehr. Das heißt, man kann über einen klaren, letztlich ökonomischen Druck bei den Behörden dafür sorgen, dass die dann wiederum aus Eigeninteresse für eine Sache lobbyieren.

Komplett gegen die Wand fahren

Constanze Kurz: Wir beobachten die Projekte von „Frag den Staat“ schon länger und sind selber auch Nutzer der Plattform. Es gibt mittlerweile einen klaren „Pushback“, also Gegendruck für das Ansinnen nach mehr Informationsfreiheit. Aktuell gab es etwa ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das als ein Rückschritt bewertet werden kann. Hast du angesichts dieser Entwicklung noch dieselben aktivistischen Energien, sind sie sogar eher mehr oder strukturierter geworden? Wie siehst du deinen Aktivismus nach einem Jahrzehnt?

Arne Semsrott: Ich glaube, es hat sich ein bisschen verlagert. Ich bin auf jeden Fall deutlich pessimistischer in allem. Das ist gar nicht unbedingt schlimm, das macht die Arbeit vielleicht tatsächlich eher besser. Manchmal ist natürlich ein naives Herangehen super, weil man denkt, man kann es schaffen. Wenn einem vorher klar wäre, was für eine Arbeit das ist, dann würde man vielleicht gar nicht erst anfangen. Insofern ist Naivität auch immer ganz schön.

Aber gerade bei diesen Kampagnen, die Elisa ansprach, sind es deswegen weniger geworden, weil wir mit der letzten Kampagne, die wir gemacht hatten, ganz schön auf die Schnauze gefallen sind. Das war „gläserne Gesetze“, eine Kampagne, mit der wir die Bundesverwaltung zwingen wollten, all ihre Lobbykontakte offenzulegen. Es war riesig angelegt, letztlich 10.000 Anfragen nach einzelnen Lobbytreffen.

Die Bundesministerien haben uns komplett gegen die Wand fahren lassen. Sie haben sie alle abgelehnt. Wir haben viel geklagt dagegen und sind letztlich nach drei Jahren vor den Verwaltungsgerichten angekommen.

Diese Prozesse sind wahnsinnig lang. Das heißt, da war dann die Luft raus aus dieser Kampagne. Nach drei Jahren kannst du nicht so eine Spannung aufrechterhalten. Dann hat die Bundesverwaltung vor dem Verwaltungsgericht einen ziemlich großen Sieg für sich errungen. Sie konnten nämlich gut nachweisen, dass die Informationen nach Lobbytreffen, also beispielsweise wann sich eine Bundesministerin mit einem Chemieverband getroffen hat, in der Bundesverwaltung nicht strukturiert vorliegen, weil deren Aktensysteme einfach sehr schlecht sind.

Das heißt: Wenn sich die Verwaltung intern misslich organisiert, dann sagen die Verwaltungsgerichte, dass es dann nicht rausgegeben werden kann. Das heißt auch: Diese komplett verkorkste Digitalisierung führt dazu, dass man einfach an Infos nicht rankommt. Und dann fällt so eine Kampagne auch auf die Nase.

Elisa Lindinger: Ihr kämpft ja bei „Frag den Staat“ für die Grundlagen, nämlich Transparenz. Diese Transparenz ist in sich wenig wert, aber sie ermöglicht einen Kampf für Gerechtigkeit, für Einflussnahme, für mehr Mitwirkung, für Verantwortlichkeit. Da haben wir noch einen langen Weg zu gehen, ein wirklich dickes Brett zu bohren.

Arne Semsrott: Ja, und wir haben eine Regierung, die selbst kein Interesse daran hat. Da sind die Grünen hervorzuheben, weil sie als Opposition immer für Transparenz gekämpft haben, auch aus Eigeninteresse, weil die Opposition kaum an Infos rangekommen ist. Jetzt sind sie an der Regierung, haben Zugriff auf die Infos und bringen keinen großen Druck dahinter, diesen ganzen Prozess transparenter zu machen.

Constanze Kurz: Wie bewertest du die Ampel-Regierung, nachdem über die Hälfte der Legislaturperiode nun vorbei ist?

Arne Semsrott: Die Grünen haben wirklich tolle kleine Anfragen gemacht, als sie in der Opposition waren. Sie haben viele Infos an die Öffentlichkeit geholt, gerade auch im NSA-BND-Komplex. Die Leute, die daran im Bundestag gearbeitet haben, arbeiten da immer noch dran. Aber sie stellen keine kleinen Anfragen mehr, sondern sie stellen interne Anfragen an die Bundesregierung. Das läuft jetzt alles im Koalitionsausschuss. Intern kriegen sie die Antworten genauso wie vorher, aber sie werden alle nicht mehr veröffentlicht.

Das heißt: Die Öffentlichkeit ist einfach außen vor, und das stört die Grünen offensichtlich nicht besonders. Mein Eindruck ist: Die Grünen sind wahnsinnig loyal zu dieser Ampel, die geben kaum Infos raus. Leute, mit denen man vorher ordentlich reden konnte, die reden einfach nicht mehr mit einem.

Was Transparenz angeht, gibt es einfach überhaupt keine Veränderung zur vorherigen Regierung. Wenn, dann ist es sogar teilweise schlechter geworden. Denn jetzt ist der Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, der für Olaf Scholz seit zwanzig Jahren sozusagen die Leichen im Keller begräbt. Stichwort wäre beispielsweise der Steuerraub, der durch die Cum-Ex-Files öffentlich wurde. Beim Thema Transparenz ist Schmidt ein gebranntes Kind.

Wir haben beispielsweise eine Klage am Laufen zum Sondervermögen Bundeswehr. Das sind diese 100 Milliarden Euro, die kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine beschlossen wurden. Dazu gibt es offiziell drei Dokumente im Kanzleramt, für so eine Entscheidung, in ein paar Tagen 100 Milliarden Euro freizumachen. Drei Dokumente!

Natürlich haben sie viel ausführlicher darüber gesprochen, aber alles wurde nicht mehr veraktet. Auch in diesem Fall sagt dann das Verwaltungsgericht: Wenn sie Infos nicht gibt, dann können wir auch nichts machen. Und damit kommt dann ein Wolfgang Schmidt und ein Olaf Scholz durch. Das hat Merkel vorher sicher auch gemacht. Aber ich habe den Eindruck, dass es jetzt einfach noch krasser geworden ist.

Constanze Kurz: Es ist ja bekanntes Phänomen, auch in der Merkel-Regierungszeit wurde das kritisiert. Die Frage ist, ob es ein strategisches Prinzip ist. Es betrifft ja nicht nur das Kanzleramt, sondern auch die Ministerien. Was wird überhaupt veraktet? Ihr hattet auch juristische Kämpfe um die Fragen nach SMS- und Messenger-Nachrichten. Es ist ja auch eine Realität, dass die Menschen in der jetzigen Regierung zehn Jahre jünger sind als in der Regierung von Merkel davor. Sie benutzen Smartphones anders. Ganz offenkundig verakten sie weniger. Es ist richtig, dass ihr juristisch hier wenig erreicht habt?

Arne Semsrott: Total. Im Gegenteil würde ich sogar sagen, wir haben ein paar wichtige juristische Sachen verloren, die eine schlechte Praxis dann auch noch legalisiert haben.

SMS-Nachrichten sind ein Beispiel. Konkret hatten wir eine Klage gegen das Auswärtige Amt. Es ging um SMS, jetzt aktuell zur Ukraine und davor vom ehemaligen Minister Heiko Maas zu Afghanistan. Da saßen dann die Beamten im Verwaltungsgericht und haben gesagt: Schauen Sie, technisch ist das gar nicht möglich, mit diesen Geräten SMS zu senden, offensichtlich ist das also nicht passiert. Dann fragt das Verwaltungsgericht: Was ist denn mit eurer internen Anweisung? Dann holen die Beamten die interne Anweisung raus, da steht drin: Man darf keine SMS verschicken. Dann sagen alle: Eine deutsche Verwaltung arbeitet nach Recht und Gesetz.

Und das war’s. Jetzt kommt man an die SMS nicht ran, weil es sie offiziell nicht gibt. Dass alles per SMS gemacht wird oder per Threema oder mit anderen Messengern, das ist klar, auch in einem kleinen Gerichtssaal. Das heißt: Das einzige, was da noch bleibt, sind Leaks.

Die Zukunft von „Frag den Staat“

Elina Eickstädt: Wie verändert sich die Strategie von „Frag den Staat“ angesichts solcher Urteile und Praktiken?

Arne Semsrott: Wir sind nicht mehr nur die Informationsfreiheitsgesetz-Organisation. Die IFG-Anfragen sind inzwischen ein Baustein innerhalb eines Ökosystems von verschiedenen Methoden.

Ich selbst widme mich auch Sachen, die ein bisschen weiter entfernt sind vom Informationsfreiheitsgesetz. Es läuft jetzt gerade ein Strafverfahren gegen mich wegen der Veröffentlichung von Dokumenten in Bezug auf die „Letzte Generation“. Die Dokumente stammen aus laufenden Strafverfahren. Das eine Straftat und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden.

Das hat natürlich mit dem Informationsfreiheitsgesetz nichts mehr zu tun, aber immer mit dem breiten Komplex des Zugangs zu Informationen. Es ist in dem Fall ein strategisches Mittel, sich verklagen lassen und zu schauen, was ein Strafverfahren an Klärung bringen kann. Im Idealfall führt dieses Verfahren dazu, dass die zugrundeliegende Norm im Strafgesetzbuch für verfassungswidrig erklärt wird. Was aber auf jeden Fall schon passiert ist: Wir haben eine Fachdiskussion. Die Strafnorm im Strafgesetzbuch ist Grütze, da sind sich schon mal alle einig.

Arne Semsrott von FragDenStaat angeklagt wegen Veröffentlichung von Gerichtsdokumenten

Constanze Kurz: Ein anderer Baustein von dem, was du gerade als Ökosystem beschrieben hast, ist das öffentliche Berichten. Ihr schreibt im Blog anders, nämlich deutlich journalistischer. Ihr schreibt trotzdem immer noch wertend. Ihr bemüht euch nicht, aufgesetzt sachlich zu klingen, sondern man merkt, wenn ihr eine Entscheidung falsch oder eine politische Richtung nicht korrekt findet. Ihr drückt das deutlich aus. Ihr wirkt dabei dennoch auf eine starke Weise professionalisiert. Hängt das an den Menschen, die neu dazukamen, oder ist das absichtlicher Teil der Weiterentwicklung der Plattform?

Arne Semsrott: Wir haben viel gelernt von netzpolitik.org.

Constanze Kurz: Ihr macht auch viele Medien-Kooperationen, richtig?

Arne Semsrott: Wir versuchen tatsächlich alles, was wir machen, immer als Kooperation mit anderen Medien zu machen. Das hat zwei Wirkungen. Das eine ist, dass wir versuchen, die anderen Medien damit zu infiltrieren, also mit unserer Art zu arbeiten. Das funktioniert auch ziemlich gut. Nach einer Recherche, wenn sie denn gut war, stellen sie vielleicht selbst IFG-Anfragen und wollen selbst ähnlich transparent arbeiten, wie sie es vorher mit uns gemacht haben. Das andere ist, dass wir natürlich eine Reichweite in Zielgruppen bekommen, die wir sonst nicht bekommen. In der netzpolitischen Bubble sind wir stark, das kommt aus der Geschichte von „Frag den Staat“. Aber in andere Communitys zu kommen, wo man vielleicht vom Informationsfreiheitsgesetz und von „Frag den Staat“ noch nichts gehört hat, das versuchen wir über solche Kooperationen.

Das gleiche gilt auch für unsere Kampagnen. Das versuchen wir immer mit anderen NGOs zusammen zu machen oder mit anderen sozialen Bewegungen, um einfach andere Gruppen zu erreichen und nicht nur in unserem eigenen Saft zu schmoren.

Ich meine, dass so eine Professionalisierung auch einfach mit einer gewissen Größe kommt. Wir sind jetzt zwanzig Leute, das ist schon eine ganze Menge. Dadurch können wir auch eine größere Breite an Themen bespielen.

Abertausende Anfragen

Constanze Kurz: Sag mal ein paar Zahlen. Wieviele Leute engagieren sich auf der Plattform? Wieviele IFG-Anfragen und wieviele Antworten gibt es? Wieviele positive Antworten sind darunter?

Arne Semsrott: Über „Frag den Staat“ sind in den letzten zwölf, dreizehn Jahren 260.000 Anfragen von knapp 120.000 Usern gestellt worden. Wir haben natürlich ein paar Power-User, aber in der Regel stellen die Leute zwei, drei Anfragen. Vieles hat einen persönlichen Bezug: Die Leute haben Interesse an einer Verkehrskreuzung oder einer Kita, die neu gebaut wird. Viele Anfragen sind erfolgreich, tatsächlich die meisten. Denn die meisten sind gar nicht brisant, sondern verlaufen im Kommunalen und bringen den Leuten auch wirklich, was sie wissen wollen.

Was man öffentlich mitbekommt, sind natürlich die brisanten Fälle. Da ist ohnehin klar, dass die Verwaltung etwas nicht rausgeben will. Ein Beispiel ist die Anfrage zur Bundeswehr und den 100 Milliarden Euro. Wenn ich so eine Anfrage stelle, weiß vorher schon: Das geht vor Gericht, das geben die nicht freiwillig raus. Bei diesen brisanten Fällen muss man in der Regel klagen.

Wir gewinnen auch die meisten Fälle vor Gericht. Eine häufige Konstellation ist auch, dass wir klagen und die Behörde dann merkt: Okay, er meint es ernst, dann geben sie die Akten raus. Es braucht dann gar nicht erst eine Verhandlung. Die meisten Sachen in erster Instanz, also beim Verwaltungsgericht, gewinnen wir.

Die ganz großen Fälle, die du vorher angesprochen hattest, also etwa um die SMS-Nachrichten und solche großen strategischen Fälle, wo wir durch alle Instanzen gehen und die dann in Leipzig beim Bundesverwaltungsgericht landen, die verlieren wir fast alle. Da sitzen aber auch die konservativsten Richter.

Constanze Kurz: Hast du nicht im Blog sogar ultrakonservativ geschrieben?

Arne Semsrott: Man kann ja mal den Präsidenten vom Bundesverwaltungsgericht in eine Suchmaschine eingeben und sich anschauen, in was für einer Burschenschaft er ist. Und das kann man mit anderen Richtern dort auch machen. Es ist tatsächlich gerade dieser zehnte Senat des Bundesverwaltungsgerichts, der Präsidenten-Senat, der zuständig für Informationsfreiheit ist. Der hat sich vor kurzem noch ein paar Zuständigkeiten dazugeholt.

Es gab in diesem Informationsfreiheitsbereich lange die Konstellation, dass der zehnte Senat, der zuständig war, immer sehr konservativ geurteilt hat: immer alles gegen die Informationsfreiheit. Aber der sechste Senat hat in Informationsfreiheitsachen sehr progressiv geurteilt hatte. Der sechste Senat war für den BND zuständig, er war damit auch zuständig für Presse- und Informationsfreiheit im BND-Kontext. Findige Journalistinnen haben, wenn sie eine Sache geklärt haben wollten, gegen den BND geklagt. Hier bist du in erster Instanz beim Bundesverwaltungsgericht, denn die niederen Verwaltungsgerichte dürfen nicht an den BND ran.

Wenn man also gegen den BND klagt, ist man direkt in Leipzig. Wenn man irgendeine Konstellation geklärt haben wollte, hat man also gegen den BND geklagt und ist dann beim progressiven sechsten Senat nicht beim konservativen zehnten Senat gelandet. Im Vergleich zum zehnten urteilte der sechste Senat oft so, dass mehr rausgegeben werden musste. Das hat den zweiten Senat so gestört, dass sie sich jetzt die Presse- und Informationsfreiheit in BND-Sachen rübergeholt hat. Das heißt auch: Die BND-Klage, die wir am 7. November verhandelt wird, kommt dann vor den zehnten Senat, also vor den Präsidenten-Senat. Wir gehen davon aus, dass die alles zurückdrehen, was vorher geurteilt wurde.

Nachhaltige Erfolge

Elina Eickstädt: Mich sprechen oft Menschen an, weil ich viel politische Arbeit machen. Sie fragen: Was können wir eigentlich machen? Was ist die Einstiegsdroge für politische Arbeit aus deiner Sicht?

Arne Semsrott: Tatsächlich glaube ich, IFG-Anfragen zu stellen, das mal auszuprobieren und so Kontakt zur Staatsmacht aufzubauen, ist eine gute Übung, um ein bisschen die Angst davor zu verlieren. Das habe ich an mir gemerkt: Am Anfang war ich unsicher im Umgang mit Behörden. Es kommen als Antwort Briefe in gelben Umschlägen, die man sonst nur kennt, wenn man was zahlen muss oder was falsch gemacht hat. Aber zu merken, ich hab ein Recht denen gegenüber und das kann ich versuchen durchzusetzen, das ist eine ganz gute Übung. Ich glaube, dass IFG-Anfragen tatsächlich eine gute Einstiegsdroge sein können in ein politisches Engagement.

Constanze Kurz: Ich muss dir noch eine Frage stellen: Rückblickend auf die letzten zehn Jahre, worauf bist du im Nachhinein wirklich stolz, was war ein besonders nachhaltiger Erfolg?

Arne Semsrott: Es gibt ein paar Praktiken, die jetzt ganz normal geworden sind: Inzwischen ist es total normal, dass die Bundesministerien die Referentenentwürfe, also die ursprünglichen Entwürfe von Gesetzen, veröffentlichen. Das war 150 Jahre lang nicht so.

Das ist ja ein deutsches Spezifikum: In Deutschland macht ein Ministerium diesen Referentenentwurf. Er war lange nicht online zu finden, bis wir dazu eine Kampagne gemacht hatten. Das ist tatsächlich wichtig, um den Gesetzgebungsprozess besser nachvollziehen zu können. Der demokratische Prozess ist jetzt transparenter.

Aber ich würde als zweites Beispiel auch sagen: Vor drei Jahren ist Franziska Giffey als Bundesministerin zurückgetreten. Ehemals nannte sie sich Dr. Franziska Giffey, jetzt nur noch Franziska Giffey. Sie ist zurückgetreten als Bundesministerin, weil herausgekommen ist, dass sie plagiiert hat. Und dass es rausgekommen ist, liegt an einer IFG-Anfrage.

Elina Eickstädt: Vielleicht enden wir auf dieser positiven Note: Man kann unliebsame Politikerinnen auch mit IFG-Anfragen loswerden. Vielen Dank für das Gespräch, Arne!


Das Gespräch ist eine gekürzte Version des Podcasts „Dicke Bretter“. Er erscheint beim Chaosradio.


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